KAPITEL FÜNFZEHN

Wir werden verfolgt«, verkündete Josh.

John Dee und Virginia Dare drehten sich auf ihren Sitzen um und schauten durchs Rückfenster. Fünf Radfahrer traten hinter ihnen auf dem unteren Deck der Oakland Bay Bridge wie wild in die Pedale. Sie schlängelten sich geschickt durch den Verkehr.

»Ich dachte, Radfahren sei auf der Brücke gar nicht erlaubt«, sagte Dee und griff nach den Schwertern zu seinen Füßen.

»Dann steig doch aus und sag es ihnen«, schlug Virginia vor.

»Links und rechts kommen ziemlich schnell zwei Motorräder angebraust«, berichtete Josh weiter. Früher hätte er in einer solchen Situation vielleicht Angst gehabt, doch die letzten beiden Wochen hatten ihn verändert. Sie hatten ihn stark und selbstbewusst gemacht. Und ich kann mich verteidigen, dachte er und blickte hinunter auf die Steinschwerter, die im Fußraum des Beifahrersitzes lagen.

»Muss nichts zu bedeuten haben …«, begann Dee.

»Sie tragen Rucksäcke«, ergänzte Josh.

»Sackmänner.« Virginia hatte keine Zweifel.

Als Josh wieder in die beiden Seitenspiegel schaute, bekam er doch Herzklopfen. Rechts und links waren Motorradfahrer mit schwarzen Helmen zu sehen. »Sie sind direkt hinter uns.«

»Du konzentrierst dich aufs Fahren«, befahl Dee. »Virginia und ich kümmern uns um sie.«

Weiter vorn auf der Brücke sah Josh Bremslichter aufleuchten. »Da vorn ist ein Stau.« Seine Stimme war ruhig. Er hatte sich unter Kontrolle.

Dee beugte sich zwischen den Sitzen vor. Dann zeigte er nach links. »Nimm die Ausfahrt Treasure Island. Nicht blinken, fahr einfach raus.«

Josh riss das Lenkrad herum und der schwere Wagen schoss mit quietschenden Reifen über zwei Fahrspuren. Der Motorradfahrer auf der linken Seite bremste, der Hinterreifen blockierte und malte einen schwarzen, qualmenden Strich auf den Beton. Das Rad wackelte und kippte zur Seite und der Fahrer stürzte auf die Straße. Autos kamen kreischend zum Stehen.

»Gut gemacht«, sagte Virginia. »Fährst du schon lange?«

»Nicht besonders.« Josh grinste. »Aber in der letzten Woche konnte ich eine Menge üben.« Die Abbiegespur beschrieb eine Linkskurve, und Josh musste die Augen zusammenkneifen, als er aus dem Schatten des unteren Brückendecks in die grelle Sonne kam. Dann tauchten wie aus dem Nichts die Bucht von San Francisco und dahinter die Stadt auf. In der Ferne, direkt vor ihm mitten in der Bucht, lag die Insel Alcatraz.

»Virginia!«, rief Josh. »Der andere Motorradfahrer kommt auf deine Seite!«

Virginia Dare drückte auf den elektrischen Fensterheber und ließ das Seitenfenster herunter. Der Motorradfahrer war jetzt direkt neben der Limousine. Er versuchte, mit der rechten Hand in seinen Rucksack zu greifen, während er mit der Linken seine Maschine in der Spur hielt. »Hi«, grüßte Virginia. Im Wageninneren wurde es hell. Ein warmes grünes Licht breitete sich aus und Salbeiduft erfüllte die Luft. Virginia rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, und Josh sah im Rückspiegel, wie sie ein Kügelchen grüner Energie erzeugte. Sie schnippte die Kugel in Richtung des Motorradfahrers.

»Du hast ihn nicht getroffen!«, fauchte Dee. »Komm, lass mich …«

»Geduld, Doktor, Geduld.«

Urplötzlich zerbröselte das Gummi des vorderen Motorradreifens zu schwarzem Pulver. Speichen knickten ein, das Rad faltete sich zusammen und die Gabel ließ einen Funkenregen vom Beton aufsteigen. Dann knallte die Maschine gegen die niedrige Begrenzungsmauer auf der Straßenseite zur Bucht hin und der Fahrer wurde darüber katapultiert. Er verschwand, ohne einen Ton von sich zu geben.

»Raffiniert wie immer, Virginia«, lobte Dee.

Josh gab Gas und preschte die Treasure Island Road hinauf. Der Verkehr hinter ihnen war zum Erliegen gekommen. Autofahrer sprangen aus ihren Wagen, um dem Motorradfahrer beizustehen. Als die Straße zu der Insel hin abfiel, fuhr Josh langsamer. Rechts lag ein kleiner Jachthafen. Beim Abzweig Macalla Road sah Josh aus dem Augenwinkel eine Bewegung und drückte ohne nachzudenken das Gaspedal voll durch. Der Wagen schoss nach vorn und presste Virginia und Dee in die Rückenlehnen ihrer Sitze.

»Die Radfahrer sind wieder da«, meldete Josh. Obwohl sein Herz hämmerte, hatte er keine Angst. Automatisch überlegte er sich Strategien und Fluchtwege. Rasch zählte er die Verfolger durch. »Acht Mann.«

Sie waren aus der Seitenstraße gekommen und rasten wie wild hinter dem Wagen her. Alle acht trugen verspiegelte Schutzbrillen und aerodynamische Helme, mit denen sie vage an Insekten erinnerten.

»Das wird langsam lästig«, murmelte Dee. »Fahr weiter. Dann biegst du nach rechts zum Jachtclub ab. Ich habe eine Idee.« Er blickte Virginia an und wies mit dem Daumen auf die Radfahrer. »Kannst du sie stoppen?«

Virginia warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich habe Armeen aufgehalten. Hast du das vergessen?«

»Das würdest du nie zulassen.« Seufzend steckte er sich die Finger in die Ohren.

Virginia ließ ihr Fenster halb herunter, legte die Flöte auf den Rand, holte tief Luft, schloss die Augen und blies sacht in das Instrument.

Ein grässlicher Ton kam heraus.

Josh spürte ihn bis in die Knochen. Es klang wie der Bohrer beim Zahnarzt … nur schlimmer, viel schlimmer. Seine Zähne und die Wangenknochen schmerzten und er spürte den Ton deutlich hinter seinem rechten Ohr. Seine goldene Aura loderte schützend um seinen Kopf herum auf, und einen Augenblick lang sah es aus, als trüge er den Helm eines Kriegers aus längst vergangener Zeit. Sofort war der Ton nicht mehr zu hören. Josh klappte den Mund auf und zu, um seine verspannten Kiefermuskeln zu lockern. In großer Geschwindigkeit legte sich eine komplette Rüstung um seinen Körper, aber er konnte sich nicht erinnern, dass er den Befehl dazu gegeben hatte. Er spreizte die Finger in den Handschuhen. Bedeutete das, dass es immer einfacher wurde, seine Aura zu formen und zu beeinflussen?

Eine Möwe kam von der Bucht herübergeflogen, direkt auf die Windschutzscheibe zu, und eine Sekunde lang fürchtete Josh, sie würde in das Glas krachen. Im letzten Moment stieg sie auf, flog über den Wagen hinweg … und landete auf dem Kopf des vordersten Radfahrers. Sein Rad wackelte bedenklich, als er den Vogel zu verscheuchen versuchte.

Eine zweite und dritte Möwe kamen im Sturzflug vom Himmel herunter und plötzlich waren die großen weißen Vögel überall. Sie stürzten sich auf die Radfahrer, flatterten und krächzten, besudelten sie mit ihrem weißen Kot und pickten nach ihnen. Der vorderste Radler stürzte und der nachfolgende fuhr in ihn hinein. Ein dritter und ein vierter folgten. Die übrigen Fahrer hielten abrupt an, ließen ihre Räder fallen und stolperten rückwärts davon, wobei sie die kreischenden, herumflatternden Vögel vergeblich mit den Händen abzuwehren versuchten.

Virginia lehnte sich zurück, legte die Flöte in den Schoß und fuhr das Fenster wieder hoch. »Zufrieden?«, fragte sie Dee.

Dee nahm die Finger aus den Ohren. »Einfach und effektiv, mit einem Hang zur Dramatik, wie immer.«

Im Rückspiegel beobachtete Josh, wie der riesige Möwenschwarm über das Durcheinander aus Körpern und Rädern auf der Straße herfiel. Die Vögel pickten auf die gestürzten Fahrer ein. Eine Möwe packte einen Helm und flog damit davon, eine andere riss den Sattel von einem Rad. Und sämtliche Radfahrer waren von Kopf bis Fuß mit weißem Vogeldreck besprenkelt. Auf der Treasure Island Road war der gesamte Verkehr zum Erliegen gekommen. Die meisten Autofahrer hatten Handys oder Digitalkameras gezückt und hielten die ungewöhnliche Szene fest.

»Jede Wette, dass das sofort zu YouTube hochgeladen wird«, sagte Josh. »Was ist in diesen Rucksäcken?«, fragte er noch einmal.

»Ich hab’s dir doch schon gesagt«, antwortete Virginia lächelnd. »Du willst das gar nicht wissen.«

»Oh doch«, protestierte Josh. »Ich will.«

»Bieg hier ab«, sagte Dee und zeigte nach rechts. »Und dann suchst du einen Parkplatz.«

Josh bog in den Clipper Cove Way ein und parkte seinen Jeep zwischen zwei teuren Sportwagen ein. Nachdem er den Schalthebel in die Parkposition geschoben hatte, drehte er sich um und schaute die beiden Unsterblichen an. »Und jetzt?«

Dee öffnete seine Tür und stieg aus. Dann griff er noch einmal in den Wagen, holte die beiden Steinschwerter heraus und schob sie in seinen Gürtel. »Gehen wir.«

Weder Josh noch Virginia machten Anstalten auszusteigen.

»Ich rühre mich nicht vom Fleck, bevor ich nicht weiß, was wir hier machen«, fauchte Virginia.

Der Magier streckte den Kopf ins Wageninnere. »Wie du so richtig ausgeführt hast, sitzen wir in San Francisco in der Falle. Und jetzt sitzen wir auch auf Treasure Island in der Falle. Es führt nur eine Straße auf die Insel und wieder zurück, und wir wissen, dass sie beobachtet wird.« Er drehte sich zu dem wogenden Möwenschwarm um, der sich immer noch um die gestürzten Radfahrer drängte. »Wir brauchen eine Strategie …«

»Ein Boot«, schlug Josh sofort vor.

Dee blickte ihn überrascht an. »Das ist es! Wir mieten ein Boot, wenn das möglich ist, oder stehlen es, wenn es sein muss. Bis die anderen alle hier aufkreuzen, sind wir längst verschwunden.«

»Wohin verschwunden?«, wollte Virginia wissen.

Dee rieb sich ungeduldig die Hände. »An den Ort, an dem sie uns zuletzt suchen werden.«

»Alcatraz«, sagte Josh.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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