KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

Die beiden Jungs mit den fettigen Haaren lehnten an der Mauer des Esmiol-Gebäudes in San Francisco und beobachteten den großen stämmigen Mann, der aus der schmalen Seitenstraße gegenüber torkelte und sich erst einmal sammeln musste, bevor er sich nach links wenden und den Broadway hinuntergehen konnte. Normalerweise mieden sie große Männer. Oder junge, die fit und gesund aussahen. Sie raubten lieber Frauen, alte Männer oder Kinder aus. Doch bei jemandem, der möglicherweise betrunken war, machten sie eine Ausnahme. Betrunkene waren leichte Beute. Ohne sich anzuschauen, stießen sie sich von der Mauer ab und passten ihre Schritte dem Mann auf der anderen Straßenseite an.

»Siehst du, wie der geht? Er ist an der Hüfte operiert worden«, bemerkte Larry. Er war ungewöhnlich mager und hatte ein Spinnennetz-Tattoo auf dem Ohr. »Meine Oma geht auch so.«

»Oder er hat ein neues Knie bekommen«, vermutete sein Freund Mo. Mo war stämmig und muskulös, hatte den breiten Brustkasten eines Bodybuilders und eine schmale Taille. Anstelle eines Ohrrings trug er eine vergoldete Rasierklinge im rechten Ohr. »Er kann die Beine nicht mehr durchbiegen. Schau dir mal an, wie groß der ist. Der hat früher bestimmt Football gespielt. Und dabei hat er sich wahrscheinlich die Knie kaputt gemacht.« Als er grinste, sah man seine schlechten Zähne. »Das heißt, dass er auch nicht rennen kann.«

Larry und Mo gingen schneller. Es gefiel ihnen, wenn die Leute wegschauten oder ihnen auswichen. Die meisten Fußgänger in diesem Teil der Stadt wussten um den Ruf der Jugendlichen.

Die beiden Jungs hatten ihr Opfer inzwischen überholt. Sie blieben vor einem kleinen Schönheitssalon stehen, beobachteten, wie der Mann auf der anderen Straßenseite herankam, und schätzten den Wert ihrer Beute ab. Sie waren schon ziemlich lange in dem Geschäft und beklauten nur Leute, bei denen es sich auch lohnte. Alle anderen stellten ein unnötiges Risiko dar und waren Zeitverschwendung.

»Er ist groß«, gab Larry zu bedenken.

Mo nickte. »Sehr groß«, gab er zu. »Aber alt …«

»Coole Lederjacke für einen alten Knacker«, fuhr Larry fort. »Retro. Biker-Stil.«

»Echt cool. Dürfte einiges wert sein.«

»Die Stiefel sind auch okay. So gut wie neu.«

»Cooler Ledergürtel, geile Gürtelschnalle«, lobte Mo. »Sieht aus wie ein Helm. Die behalte ich für mich«, fügte er hinzu.

»He, das ist unfair. Du hast beim letzten Mal die Uhr von dem Typen behalten.«

»Und du hast die Ledertasche der Frau deiner Oma zum Geburtstag geschenkt. Wir sind quitt.«

Plötzlich drehte der Mann sich zur Straße um und torkelte, ohne sich um den Verkehr zu kümmern, direkt auf Larry und Mo zu. Die beiden Jungs wirbelten herum und blickten ins Schaufenster des Schönheitssalons, wo der Betrunkene sich spiegelte. So aus der Nähe bekamen sie eine klarere Vorstellung von seiner Größe. Er war ein Hüne und wirkte mit seiner locker sitzenden Kleidung noch größer. Zu Bluejeans trug er ein weites T-Shirt, das einmal weiß gewesen sein mochte, jetzt jedoch von einem undefinierbaren Grau war, und darüber eine schwarze XXL-Lederjacke mit Nieten im Motorradfahrer-Stil. Um die Stirn hatte er ein schwarz-weißes Tuch gebunden, das auf dem Hinterkopf verknotet war. Die Augen waren hinter einer dunklen Pilotenbrille verborgen.

»Ist das eine Ray-Bans?« Larry versuchte zu erkennen, ob auf dem rechten Glas der Sonnenbrille das unverkennbare Unterschriften-Logo prangte.

»Eine billige Kopie, jede Wette. Aber wir nehmen sie trotzdem mit. Vielleicht kriegen wir von irgendeinem Touristen ein paar Kröten dafür.«

Als der Mann mit steifen Beinen an ihnen vorbeigestolpert war, drehten sie sich wieder um. Die silbernen Nieten auf dem Rücken seiner Jacke zeigten einen Helm, dessen Design dem auf der Gürtelschnalle ähnelte. Eine rote und eine blaue Niete stellten Augen dar, die auf beiden Seiten des langen Nasenschutzes hervorlugten.

»Er ist Biker.« Larry schüttelte den Kopf. »Und Biker machen nur Ärger. Ich glaube, wir sollten ihn laufen lassen.«

»Und wo, bitte schön, ist seine Maschine?«, fragte Mo. »Wenn du mich fragst, ist er nichts weiter als ein dicker alter Knacker, der sich gern tough anzieht.«

»Könnte trotzdem ein Biker sein. Und selbst alte Biker sind noch tough.«

»Stimmt. Aber wir sind tougher.« Mo griff unter sein T-Shirt und legte die Hand auf das Bleirohr, das im Bund seiner Jeans steckte. »Und niemand ist tougher als unser kleiner bleierner Freund hier.«

Larry hatte seine Zweifel, aber er nickte. »Wir folgen ihm weiter, aber wir schnappen ihn uns nur, wenn wir ihm von hinten eins überziehen können. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

Mit einer scharfen Drehung bog der Mann plötzlich nach rechts in die Turk Murphy Lane ein, eine schmale Gasse, die den Broadway mit der Vallejo Street verband.

»Mann o Mann, es gibt Leute, denen geschieht es nicht besser.« Mo grinste. »Heute ist unser Glückstag.« Er klatschte Larry ab, und sie liefen den Broadway hinunter, dem Mann in der Lederjacke nach. Sich über einen Plan zu verständigen, war nicht nötig. Sie würden den alten Herrn in der stillen Gasse überfallen, sich seine Jacke schnappen, die Stiefel und den Gürtel und sein Geld, falls er welches bei sich hatte, und dann die Gasse hinunterlaufen. Bevor sie auf die Valejo Street einbogen, würden sie allerdings zu einem lässigen Schlendern übergehen. Die Turk Murphy Lane stieß nämlich direkt gegenüber der Polizeistation auf die Valejo Street. Larry und Mo kannten sich in den Straßen in und um Chinatown herum aus wie in ihrer Westentasche, und bis jemand den Mann in der Gasse entdecken und Alarm schlagen würde, waren sie schon über alle Berge.

»Denk dran, die Gürtelschließe gehört mir«, erinnerte Mo seinen Kumpel.

»Okay, aber nächstes Mal darf ich mir zuerst was aussuchen …«

Doch als sie um die Ecke bogen, stand der hünenhafte Kerl breitbeinig mitten auf dem Bürgersteig und erwartete sie.

Eine gewaltige Faust schoss vor und packte Larry vorn an seinem schmuddeligen T-Shirt. Der Mann hob ihn hoch und schleuderte ihn durch die Luft. Er landete gute sechs Meter weiter auf der Kühlerhaube eines geparkten Wagens. Spinnwebähnliche Risse breiteten sich auf der Windschutzscheibe aus und die Alarmanlage begann zu tuten. Keiner der Fußgänger auf dem Broadway warf auch nur einen Blick in die Seitengasse.

Mo griff unter seinem T-Shirt nach dem Bleirohr. Da schloss sich eine riesige Hand um seinen Kopf. Und drückte zu. Solch rasende Schmerzen hatte Mo noch nie gehabt. Ihm wurde schwarz vor Augen und seine Beine knickten unter ihm ein. Er wäre hingefallen, hätte der Mann seinen Kopf nicht weiter festgehalten. Mo sah, wie der alte Mann – der plötzlich gar nicht mehr so alt aussah – das Bleirohr aufhob, es betrachtete, daran roch, mit einer kohlschwarzen Zunge darüber fuhr und es dann wie eine Blechdose zerdrückte und wegwarf. Der Mann sagte etwas, doch Mo verstand ihn nicht. Der Fremde versuchte es in verschiedenen Sprachen, bis … »Verstehst du mich jetzt?«

Mo brachte ein ersticktes Quieken heraus.

»Du kannst von Glück sagen, dass ich heute gute Laune habe«, sagte der Mann. »Ich brauche eine Wegbeschreibung.«

»Wegbeschreibung?«, krächzte Mo.

»Wegbeschreibung.« Der Mann ließ ihn los, Mo wankte rückwärts und fiel gegen eine Hauswand. Er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. An seinen Schläfen waren garantiert die Abdrücke riesiger Finger zu sehen.

»Wegbeschreibung«, wiederholte der Mann. »Ich habe die Adresse irgendwo aufgeschrieben.« Er fuhr mit der Hand in die Tasche seiner Lederjacke. Und in dem Moment griff Mo an. Er versuchte es mit einem Karateschlag gegen die Kehle des Fremden. Schnell wie der Blitz packte der Mann Mos Arm, drückte zu und ließ dann seinen Handballen in Mos Brustkorb donnern. Der Schlag warf Mo zurück gegen die Wand. Sein Kopf krachte gegen die Backsteine. »Wie kann man nur so dumm sein«, knurrte der Mann. Er brachte einen Zettel zum Vorschein und hielt ihn dem Jungen hin. »Weißt du, wo das ist?«

Mo brauchte ein paar Sekunden, bis er wieder klar sehen konnte. Langsam wurden aus dem verschwommenen Gekrakel kindliche Druckbuchstaben auf liniertem Papier. »Ja«, flüsterte er voller Angst. »Ja.«

»Dann sag es mir.«

»Zu Fuß oder mit dem Wagen?«

»Sehe ich so aus, als würde ich fahren?«, knurrte der Mann. »Hast du hier irgendwo eine Kutsche gesehen?«

Mo schluckte hart. Der ganze Brustkorb tat ihm weh, er hatte Probleme mit dem Atmen und sein Schädel brummte. Hatte der Mann gerade »Kutsche« gesagt?

»Wegbeschreibung.«

»Sie gehen die Straße hier vorn hinunter, den Broadway, bis Sie zur Scott Street kommen – die geht links ab. Die Adresse hier ist dann dort irgendwo.«

»Ist es weit?«

»Nah ist es nicht.« Mo versuchte ein Lächeln. »Sie lassen mich doch laufen, Mister, nicht wahr? Ich habe Ihnen nichts getan.«

Der große Mann faltete den Zettel mit der Adresse zusammen und steckte ihn in die hintere Tasche seiner weiten Jeans. »Mir nicht. Aber andere habt ihr ausgeraubt, du und dein Kumpel. Ihr habt die ganze Nachbarschaft terrorisiert.«

Mo öffnete den Mund für eine Lüge, doch der Mann nahm seine Ray-Bans-Brille ab und steckte sie in eine Innentasche seiner Jacke. Mit ungewöhnlich blauen Augen blickte er den Jungen an. »Du sagst deinen Freunden – oder den anderen von deinem Schlag, denn ich bin sicher, dass ihr keine Freunde habt –, dass ich wieder da bin und dass ich solche Überfälle nicht toleriere.«

»Wieder da? Wer sind Sie? Sie sind ja verrückt …«

»Nicht mehr.« Der Mann lächelte, und Mo sah seine überlangen Schneidezähne, die wie Vampirzähne gebogen waren. Dazwischen kam eine schwarze, gespaltene Zunge hervor. »Sag deinen Freunden, Mars Ultor ist wieder da.« Dann hob er Mo an seinem T-Shirt hoch und warf ihn die Gasse hinunter. Als er auf seinem Freund landete, verstummte die Alarmanlage des Wagens mit einem Quietschen.

Und Mars Ultor schlurfte auf den Broadway zurück und machte sich auf die Suche nach der Scott Street und Tsagaglalal.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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