KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG

Um den Kristallturm wehte ein eisiger Wind. Es roch nach Kampf und Metall, doch von der Gruppe auf der verwüsteten und blutverschmierten Plattform schien keiner die Kälte zu spüren.

Abraham der Weise, ein Geschöpf, das nicht mehr aus Fleisch und Blut bestand, sondern zum größten Teil aus Gold, stand in dem kaputten Türrahmen. Mit der rechten Hand drückte er ein in Kupfer gebundenes Buch an seine Brust. Die linke Hand hing steif an seiner Seite. Sie bestand aus purem Gold. Tsagaglalal stand neben ihm und stützte ihn. Wenn er lächelte, bewegte sich nur eine Hälfte seines Gesichts. Aus dem einen, ihm noch verbliebenen grauen Auge tropfte eine hellgoldene Flüssigkeit.

»Liebe Freunde«, begann er, ganz offensichtlich unter Schmerzen, »ich spüre, dass ich euch so nennen kann. Auch wenn einige von euch zum ersten Mal persönlich vor mir stehen, habe ich euch alle zehn im Lauf der vielen Jahrhunderte schon gesehen. Ich habe eure Schritte durch die Gegenwart und in die Zukunft verfolgt. Ich weiß um die Launen des Schicksals und die wunderlichen Umstände, die euch hierhergeführt haben. Und um ehrlich zu sein, habe ich einiges davon selbst eingefädelt.« Er holte mühsam Atem und seine Brust hob sich langsam dabei.

»Prometheus, mein ältester Freund, du hast so viele wundervolle Geschenke in mein Leben gebracht, einschließlich meiner lieben Frau Tsagaglalal und ihres nicht unterzukriegenden Bruders Gilgamesch. Ich sehe euch als meine Brüder, als die Familie, die ich nie hatte. Ihr wisst beide, was zu tun ist.«

Die beiden Männer verneigten sich. Sie schämten sich ihrer Tränen nicht.

Abrahams eine Gesichtshälfte lächelte. »Dafür bin ich euch jetzt und in aller Ewigkeit dankbar.« Sein Nacken blieb steif, doch sein Auge bewegte sich. »Johanna von Orléans, welch eine Vergangenheit du hast. Welch ein Leben du gelebt hast.«

Johanna neigte leicht den Kopf, den Blick weiter auf Abrahams Gesicht gerichtet.

»Bald wirst du um alles, was dir lieb ist, kämpfen, und du wirst zu einer Entscheidung gezwungen werden, die dich zu zerreißen droht. Folge deinem Herzen, Johanna. Sei so stark, wie du es immer warst.«

Johanna griff nach der Hand ihres Mannes und drückte sie.

»Und wie steht es mit dir, Saint-Germain? Ich erinnere mich noch genau: Als ich entdeckte, dass dein Lebensweg den von Johanna kreuzen würde, dachte ich, es sei ein Fehler. Einen ganzen Monat lang habe ich meine Daten überprüft und noch einmal überprüft, um den Fehler zu finden. Aber da war keiner. In deinem Herzen bist du ein einfacher Mann, Saint-Germain. Du bist ein Spitzbube und du weißt es. Aber eines wurde zur unumstößlichen Gewissheit für mich: Du hast Johanna immer von ganzem Herzen geliebt.«

Saint-Germain nickte. Johanna schaute ihn von der Seite her an und drückte noch einmal seine Hand.

»Du wirst wissen, was du zu tun hast, wenn die Zeit gekommen ist. Zögere dann nicht. Palamedes, der sarazenische Ritter, und William Shakespeare. Noch so ein ungleiches Paar. Auch in eurem Fall dachte ich, meine Erkenntnisse seien falsch. Doch als ich alles noch einmal überprüfte und feststellte, dass ihr beide dasselbe sucht – nämlich eine Familie –, wusste ich, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Ihr seid heute hier, weil wir eure ganz besonderen Fähigkeiten bald brauchen werden. Deine Fantasie ist gefragt, Barde, und du, Palamedes, wirst ihn beschützen müssen. Ich weiß, dass du dein Leben für ihn geben würdest.« Abraham hob leicht den Kopf und blickte hinauf zu dem Rukma, das immer noch in der Luft stand. »Genauso wie er bereit war, sein Leben für euch alle zu geben.«

Shakespeare senkte den Kopf. Dann nahm er seine Brille ab und putzte sie wie verrückt, damit keiner sehen sollte, dass er rot geworden war.

»Und Scathach. Die Schattenhafte. Seit zehntausend Jahren beobachte ich dich. Ich könnte eine ganze Bibliothek mit deinen Abenteuern füllen und eine zweite mit deinen Fehlern. Du bist ohne Zweifel die Person, die einen wie keine zweite zur Raserei bringen kann. Und ich habe noch nie jemanden getroffen, der unverantwortlicher, gefährlicher, loyaler und mutiger war als du. Ohne dich wäre die Welt ärmer. Du hast den Humani viel gegeben. Sie haben dir nicht halb so viel zurückgegeben, wie du verdient hättest. Aber ich habe ein Geschenk für dich. Es besteht aus zwei Teilen und den ersten Teil werde ich dir jetzt geben. Der zweite Teil … nun, er wird möglicherweise warten müssen auf einen anderen Ort und eine andere Zeit. Hier ist mein Geschenk: Deine Schwester lebt. Sie ist jetzt zusammen mit der Archonin Coatlicue in einem Schattenreich gefangen. Du solltest wissen, dass sie freiwillig dorthin gegangen ist, dass sie sich für dich geopfert hat.«

Die Schattenhafte schluckte hart. Sie ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Ihre Haut war kalkweiß und die grünen Augen glühten.

»Du bist ihre einzige Hoffnung auf Rettung. Vergiss das nicht. Erinnere dich daran, auch wenn alles verloren erscheint. Ihr müsst leben.«

Scathach nickte.

»Und jetzt müsst ihr gehen«, schloss Abraham. »Geht zurück nach Danu Talis und zerstört diese Welt.« So leise, wie er aus dem Turm gekommen war, verschwand er auch wieder darin, flankiert von Tsagaglalal und Gilgamesch.

Prometheus zog sich wortlos an einem der Seile zu dem Kampfvimana hinauf. Durch die Maschine ging ein Ruck, dann senkte sie sich langsam ab, bis sie auf einer Höhe mit der Plattform war. Einer nach dem anderen, traten die vier unsterblichen Menschen auf die Tragfläche und kletterten in das Flugzeug.

Nur Scathach nicht. Sie hatte sich nach Süden gewandt, wo in der Ferne die Lichter von Danu Talis die Wolken erleuchteten. Es hieß, dass ihr Clan, der Vampir-Clan, nicht in der Lage sei, irgendwelche tiefen Gefühle zu empfinden. Dass sie keine Tränen hatten, stand fest. Wie kam es dann, dass ihre Wangen nass waren? Sie sagte sich, dass es nur Gischt von der weit unter ihr liegenden See sein konnte. Hastig wischte sie sie weg, drehte sich um, trat auf die Tragfläche und schwang sich in das Flugzeug.

»Gehen wir«, sagte sie, als sie sich anschnallte. »Bringen wir es hinter uns. Ich habe noch etwas vor. Meine Schwester wartet darauf, dass ich sie rette.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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