KAPITEL SECHZEHN

Es war ein Traum gewesen.

Nichts weiter als ein besonders lebhafter Traum. Aber was für ein Traum!

Sophie Newman lag auf ihrem Bett und blickte hinauf zur Decke. Vor langer Zeit hatte jemand – vielleicht ihre Mutter, die künstlerisch ausgesprochen begabt war – die Decke in einem kräftigen Blauton gestrichen. Silberne Sterne zeigten die Konstellationen von Sirius und Orion und ein großer, leuchtender Halbmond beherrschte die Ecke direkt gegenüber von ihrem Bett. Der Mond war mit phosphoreszierender Farbe aufgemalt worden, und sein sanftes Leuchten lullte sie in den Schlaf, wann immer sie die Nacht im Haus ihrer Tante verbrachte.

Joshs Zimmer nebenan war das genaue Gegenteil. Es war blassblau gestrichen und in der Mitte der Decke prangte eine riesige goldene Sonne. Für Sophie war es das Größte, wenn sie mit Blick auf die Sternbilder an ihrem Himmel einschlafen konnte. Sie stellte sich oft vor, sie würde zu den Sternen hinauffallen. Danach träumte sie meist vom Fliegen. Diese Träume liebte sie ganz besonders.

Sophie reckte sich. Wie spät mochte es wohl sein? Im Zimmer war es fast dunkel, was normalerweise bedeutete, dass es kurz vor Sonnenaufgang war. Doch es fehlte die Ruhe, die sonst immer herrschte, bevor die Stadt erwachte. Ihr Blick wanderte von der Decke nach unten. Keine Spur von Morgenlicht an den Wänden. Das Zimmer war vielmehr dämmrig, was auf frühen Nachmittag schließen ließ. Hatte sie so lange geschlafen? Sie hatte total verrückte Sachen geträumt und konnte es kaum erwarten, sie ihrem Bruder zu erzählen.

Sophie rollte sich auf die Seite … und sah Tante Agnes und Perenelle Flamel auf der Bettkante sitzen und sie beobachten. Und plötzlich wurde ihr übel. Es war kein Traum gewesen.

»Du bist wach«, stellte Tante Agnes fest.

Sophie betrachtete ihre Tante mit zusammengekniffenen Augen. Sie sah genauso aus wie immer, doch Sophie wusste jetzt, dass sie kein gewöhnliches menschliches Wesen vor sich hatte.

»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, fuhr Agnes fort. »Steh auf, geh unter die Dusche und zieh dich an. Wir warten in der Küche auf dich.«

»Wir haben eine Menge zu besprechen«, fügte Perenelle hinzu.

»Josh …«, begann Sophie.

»Ich weiß«, unterbrach Perenelle sie leise. »Aber wir holen ihn zurück. Ich verspreche es dir.«

Sophie setzte sich auf, zog die Knie an und barg den Kopf in den Händen. »Eine Sekunde lang dachte ich, es sei ein Traum gewesen.« Sie holte tief und zittrig Luft. »Und ich wollte ihn Josh erzählen und habe mir vorgestellt, wie er mich auslacht und wie wir dann zu analysieren versuchen, woher die verschiedenen Traumteile gekommen sein könnten, und …« Die Tränen kamen und mit ihnen gewaltige Schluchzer, die ihren ganzen Körper schüttelten. Silberne Tropfen fielen auf das Bettzeug. »Das war kein Traum. Das ist ein Albtraum.«

Nachdem sie geduscht und frische Sachen angezogen hatte, fühlte Sophie sich etwas besser. Sie verließ ihr Zimmer und wollte hinuntergehen in die Küche, als sie die Stimmen hörte. Sie kamen aus dem Schlafzimmer ihrer Tante am Ende des Flurs.

Ihre Tante.

Abrupt blieb sie stehen.

Solange sie denken konnte, war ihre Familie zu Tante Agnes gekommen. Die Zwillinge hatten ihre eigenen Zimmer in ihrem Haus und das vordere Schlafzimmer war immer für ihre Eltern reserviert. Sophie und Josh wussten, dass Agnes nicht wirklich blutsverwandt mit ihnen war, aber es gab eine Verbindung zur Schwester ihrer Großmutter oder zu einer Kusine. Trotzdem hatten sie sie immer Tante genannt. Selbst ihre Eltern nannten die alte Dame Tante Agnes.

Wer war sie tatsächlich? Was war sie?

Sophie hatte ihre weiße Aura gesehen, den Jasminduft gerochen und gehört, wie sie mit Niten japanisch gesprochen und ihn bei seinem richtigen Namen genannt hatte. Agnes war Tsagaglalal, die nicht wirklich eine Ältere war, aber älter als die Angehörigen der nächsten Generation. Selbst Zephaniah, die Hexe von Endor, wusste nur sehr wenig über sie.

Plötzlich strömten Erinnerungen durch Sophies Bewusstsein.

Ein glänzender Kristallturm, von hohen Wellen umtost, die verdampfen, sobald sie gegen seine Mauern schlagen.

Eine goldene Maske.

Der Codex.

So schnell, wie sie gekommen waren, verblassten die Erinnerungen auch wieder, und Sophie blieb mit mehr Fragen als Antworten zurück. Nur eines stand fest: Die Frau, die sie seit ihrer frühen Kindheit für ihre Tante Agnes gehalten hatte, war Tsagaglalal, die Wächterin. Die brennenden Fragen blieben jedoch unbeantwortet: Über wen hatte sie gewacht? Und weshalb?

Sophie ging den Flur hinunter zu Agnes’ Schlafzimmer. Es dauerte einen Augenblick, bis sie die Stimmen hinter der geschlossenen Tür erkannte. Zwei Männer sprachen miteinander und wechselten dabei zwischen Japanisch und Englisch hin und her. Prometheus und Niten. Sie war von all den Ereignissen so benommen, dass sie sich über die Anwesenheit des Herrn des Feuers nicht einmal wunderte. Sophie wusste instinktiv: Den beiden Männern war klar, dass sie auf dem Flur stand. Sie hatte schon die Hand auf das weiße Türblatt gelegt und wollte die Tür aufdrücken, klopfte dann aber doch lieber an.

»Kann ich reinkommen?«

»Bitte«, antwortete Prometheus leise.

Sophie öffnete die Tür und trat ein.

Obwohl sie seit über einem Jahrzehnt immer wieder zu Besuch in diesem Haus gewesen war, hatte sie das Schlafzimmer der Tante nie von innen gesehen. Die Tür war immer abgeschlossen, was ihre Neugier und natürlich auch die von Josh ungemein angestachelt hatte. Sie erinnerte sich, dass sie einmal versucht hatte, durchs Schlüsselloch zu linsen. Doch irgendetwas war von innen davor gehängt worden, sodass sie nichts sehen konnte. Josh war sogar einmal auf den Baum vor dem Fenster geklettert, um hineinschauen zu können, doch dann war ein Ast unter ihm abgebrochen. Zum Glück hatten Tante Agnes’ Rosenbüsche seinen Sturz gebremst, aber er war von oben bis unten zerkratzt gewesen. Agnes hatte nichts gesagt, als sie seine Schrammen mit einer blauen Flüssigkeit betupft hatte, die stank und brannte. Den Zwillingen war jedoch beiden klar, dass sie sich denken konnte, was sie vorgehabt hatten. Am nächsten Tag hatte sie neue Vorhänge aufgehängt.

Sophie hatte sich immer eine Zimmereinrichtung im viktorianischen Stil vorgestellt mit schweren dunklen Möbeln, einer verschnörkelten Uhr mit großem Zifferblatt auf dem Kaminsims, Bildern in Holzrahmen an den Wänden und einem großen Himmelbett mit Seidenkissen, einem Bettbezug mit Rüschen und einem hässlichen Quilt.

Es war ein Schock für sie festzustellen, dass das Zimmer schmucklos, ja, fast schon karg eingerichtet war. Wände und Decke waren weiß gestrichen und mittendrin stand ein schmales Bett. Es gab keine Bilder, nur ein einfaches, aber auf Hochglanz poliertes Schränkchen an einer Wand mit einer kleinen Sammlung urtümlicher Artefakte. Sophie nahm an, dass ihre Eltern sie der Tante geschenkt hatten: Speerspitzen, Münzen, verschiedene Allerweltsschmuckstücke, Perlen und ein Anhänger aus einem grünen Stein in der Form eines Skarabäus. Der einzige Farbklecks in dem Raum neben dem Skarabäus war ein auffälliger Traumfänger am Fenster. In einem zarten Ring aus Türkissteinen waren mit Golddraht zwei Sechsecke befestigt, eines im anderen. Beide waren aus schwarzem Onyx und Gold wunderschön gearbeitet und die Mitte des inneren Sechsecks bildete ein smaragdgrünes Labyrinth. Sophie stellte sich das Zimmer morgens bei Sonnenaufgang vor, wenn das Licht auf den Traumfänger fiel und schillernde Farben den Raum lebendig werden ließen.

Jetzt war es dunkel im Zimmer.

Niten und Prometheus standen rechts und links von Agnes’ schmalem Bett. Auf dem weißen Laken lag reglos Nicholas Flamel.

Sophie spürte einen Stich im Herzen. Erschrocken legte sie die Hände über den Mund. »Er ist doch nicht …«

Prometheus schüttelte seinen großen Kopf, und erst jetzt fiel Sophie auf, dass sein rotes Haar in den wenigen Stunden, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, weiß geworden war. Tränen ließen seine grünen Augen größer erscheinen, fast zu groß für sein Gesicht. »Nein, nein. Noch nicht.«

»Aber bald«, flüsterte Niten. Sacht legte er die Hand auf die Stirn des Alchemysten. »Nicholas Flamel stirbt. Er wird den Tag nicht überleben.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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