KAPITEL DREI

Mars Ultor.«

Er war jetzt schon so lange in Gefangenschaft, dass er nicht mehr unterscheiden konnte, ob er träumte oder sich erinnerte. Waren die Bilder und Gedanken, die durch seinen Kopf gaukelten, wirklich seine eigenen, oder hatte Clarent sie ihm eingegeben? War es, wenn er die Vergangenheit durch seinen Geist ziehen ließ, seine eigene Geschichte, an die er sich erinnerte, war es die des Schwertes, oder waren es die Erinnerungen derjenigen, die das Schwert vor ihm getragen hatten? Oder war es gar eine wirre Vermischung aller drei? Wie sah die Wahrheit aus?

Doch auch wenn Mars Ultor sich in so vielen Dingen unsicher war, gab es einige wenige Erinnerungen, an die er sich klammerte. Erinnerungen, die einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit prägten. Es waren die Erinnerungen, die ihn ausmachten.

Seine beiden Söhne Romulus und Remus standen ihm noch deutlich vor Augen. Die Erinnerung an sie hatte er bewahren können. Doch wie sehr er sich auch bemühte, auf das Gesicht seiner Frau konnte er sich nicht mehr besinnen.

»Mars.«

Bestimmte Schlachten waren ihm noch immer bis ins kleinste Detail im Gedächtnis. Er wusste den Namen jedes Königs und jedes Bauern, gegen den er gekämpft hatte, jedes Helden, den er besiegt hatte, und jedes Feiglings, der vor ihm davongelaufen war. Er erinnerte sich an die Entdeckungsreisen, die er mit Prometheus in die unbekannte Welt und sogar in die neu geschaffenen Schattenreiche unternommen hatte.

»Fürst Mars.«

Er war Zeuge von Wundern und von entsetzlichen Katastrophen gewesen. Er hatte gegen Archone, Erstgewesene und Angehörige des Älteren Geschlechts gekämpft und sogar gegen die wenigen legendären Erdenfürsten, die es hier und da noch gegeben hatte. In jener Zeit war er als Held verehrt worden, als Retter der Humani.

»Mars, wach auf.«

Er wollte nicht aufwachen, denn mit dem Aufwachen kamen die Schmerzen. Doch schlimmer als die Schmerzen war das Wissen, dass er ein Gefangener war und dies bis zum Ende aller Zeiten bleiben würde. Und in seinen Wachphasen erinnerten seine Strafe und seine Schmerzen ihn an die Zeiten, als die Humani gelernt hatten, ihn zu fürchten und zu hassen.

»Wach auf.«

»Mars … Mars … Mars …«

Die Stimme – oder waren es mehrere? – ließ nicht locker. Sie war ihm lästig, aber auch irgendwie vertraut.

»Wach auf!«

In seinem beinernen Gefängnis tief unter der Erde in den Katakomben von Paris schlug der Ältere die Augen auf. Für einen kurzen Moment waren sie strahlend blau, dann loderten sie rot auf. »Was ist denn jetzt schon wieder?«, knurrte er, und seine Stimme hallte in dem Helm, den er nicht mehr abnehmen konnte, wider.

Direkt vor ihm standen zwei Gestalten, die wie ein Humani-Paar aussahen. Sie waren groß und schlank und die tiefgebräunte Haut stand in starkem Kontrast zu ihren blütenweißen T-Shirts, den weißen Jeans und weißen Turnschuhen. Die Frau trug das Haar raspelkurz geschnitten, der Schädel des Mannes war glatt rasiert. Beide trugen identische Sonnenbrillen, die die Augen verbargen.

Gleichzeitig nahmen sie die Brillen ab. Ihre Augen waren von einem intensiven, strahlenden Blau, die Pupillen winzige schwarze Punkte. Trotz der Schmerzen, die seine ununterbrochen brennende und wieder aushärtende Aura verursachte, erinnerte sich Mars an dieses Paar. Es handelte sich nicht um Humani; die beiden gehörten dem Älteren Geschlecht an.

»Isis – bist du es?«, krächzte er in der alten Sprache von Danu Talis.

»Schön, dich zu sehen, alter Freund«, erwiderte die Frau.

»Osiris?«

»Wir suchen dich schon sehr lange«, fügte der Mann hinzu. »Und jetzt endlich haben wir dich gefunden.«

»Was hat sie dir nur angetan?«, flüsterte Isis. Sie war ganz offensichtlich erschüttert.

Die Hexe von Endor hatte Mars in dieses Gefängnis gesperrt. Sie hatte es aus dem Schädel einer Kreatur geschaffen, die nie auf unserer Erde gelebt hatte. Doch ihn einfach nur einzusperren, hatte der Hexe nicht genügt; sie hatte sich noch eine ganz spezielle Strafe für ihren Gefangenen ausgedacht. Die Hexe hatte dafür gesorgt, dass seine Aura ununterbrochen brannte und dann auf seiner Haut erstarrte wie Lava, die brodelnd aus dem Erdkern aufsteigt. So war er in der Schädelzelle unter einer dicken Kruste gefangen und litt endlose Höllenqualen.

Mars Ultor lachte, doch was herauskam, glich eher einem Knurren, das von den Wänden widerhallte. »Jahrtausendelang interessiert sich niemand für mich, und jetzt scheint es, als wäre ich plötzlich wieder gefragt.«

Isis und Osiris stellten sich rechts und links von dem Gebilde auf, das aussah wie die große graue Statue eines Mannes, für alle Ewigkeit festgehalten bei dem Versuch, sich aufzurichten. Mars’ Körper steckte von der Taille an abwärts im Boden seiner beinernen Gefängniszelle. Dee hatte den Knochen an dieser Stelle verflüssigt und danach wieder aushärten lassen, sodass er festsaß. An Mars’ ausgestrecktem linken Arm hatten sich Stalaktiten aus Knochenmasse gebildet und auf dem Rücken des Älteren hockten mit weit aufgerissenen Mäulern die versteinerten, hässlichen Satyrn Phöbos und Deimos. Hinter dem Älteren lag ein rechteckiger steinerner Sockel, auf dem Mars jahrtausendelang ungestört gelegen hatte. Jetzt war der dicke Stein in der Mitte auseinandergebrochen.

»Wir wissen, dass Dee hier war«, sagte Isis.

»Ja. Er hat mich gefunden. Mich wundert allerdings, dass er euch verraten hat, wo ich bin«, krächzte Mars. »Es kam zum Kampf. Er war es, der mich hier in den Boden eingemauert hat.«

»Dee hat uns nichts verraten«, erklärte Osiris. Er stand hinter Mars und betrachtete eingehend jedes Detail der zu Statuen erstarrten Satyrn. »Er hat dich betrogen. Er hat uns alle betrogen.«

Mars stöhnte vor Schmerzen. »Ich hätte ihm nie trauen dürfen. Er hat mich gebeten, einen Jungen zu erwecken, einen mit goldener Aura.«

»Und dann hat er den Jungen dazu benutzt, um Coatlicue in dieses Schattenreich zu holen«, flüsterte Isis.

Rotschwarzer Rauch ringelte sich aus Mars Ultors Augen. Sein Körper krampfte sich zusammen, und die gehärtete Aura fiel in großen Brocken von ihm ab, nur um augenblicklich wieder neu gebildet zu werden. Die trockene Luft stank nach verbranntem Fleisch. »Coatlicue. Als die Archonin das letzte Mal durch die Schattenreiche tobte, habe ich den Kampf gegen sie aufgenommen«, keuchte er unter den Schmerzen, die seine brennende Aura verursachte. »Dabei habe ich viele gute Freunde verloren.«

Die Frau in Weiß nickte. »Wir alle haben durch sie Freunde und Familienangehörige verloren. Der Doktor hat irgendwie herausgefunden, wo sie sich aufhält, und hat sie herbeigerufen.«

»Aber warum?«, polterte Mars. »Gibt es in diesem irdischen Schattenreich nicht mehr genug Ältere, um ihren Hunger zu stillen?«

Osiris klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Rücken des Älteren, als wollte er testen, wie hart er war. »Wir glauben, dass Dee sie auf die Schattenreiche loslassen wollte. Wegen seiner vielen Misserfolge haben wir ihn für utlaga erklärt. Jetzt will er sich rächen, und es besteht die Gefahr, dass er auf seinem Rachefeldzug sämtliche Schattenreiche und schließlich auch diese Welt zerstören wird. Er will uns alle vernichten.«

Isis und Osiris waren einmal ganz um den Älteren herumgewandert und standen jetzt wieder vor ihm. »Aber wir sind seinem Gestank nachgegangen und konnten seiner Spur bis hierher folgen … zu dir«, erklärte Isis.

»Befreit mich«, flehte Mars, »damit ich mir den Doktor schnappen kann.«

Das Paar schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Das können wir nicht«, bekannte Isis traurig. »Als Zephaniah dich mit dem Bann belegt hat, benutzte sie eine Kombination aus Archonenwissen und den Beschwörungsformeln der Erdenfürsten, die wir nicht kennen. Garantiert etwas, das Abraham ihr beigebracht hat.«

»Warum seid ihr dann hergekommen?«, knurrte Mars. »Was hat euch dazu gebracht, euer Inselreich zu verlassen?«

Am Eingang zur Zelle bewegte sich etwas. »Ich habe sie hergebeten.«

Eine ältere Dame in einer frisch gebügelten grauen Bluse und einem grauen Rock betrat den beinernen Raum. Sie war klein und rundlich und ihr bläulich schimmerndes Haar war in kompakte Dauerwellen gelegt. Eine übergroße Brille mit dunklen Gläsern bedeckte fast die ganze obere Gesichtshälfte und in der rechten Hand hielt sie einen weißen Gehstock. Indem sie mit dem Stock den Raum vor sich abtastete, näherte sie sich dem gefangenen Älteren. Sie blieb stehen, als der weiße Stock auf Stein traf.

»Wer bist du?«, fragte Mars.

»Wie – du erkennst mich nicht?« Die Haut der alten Frau verströmte braune Aurafetzen und in der Luft lag der bittersüße Geruch von rauchigem Holzfeuer.

Mars atmete die Luft in abgehackten Zügen ein, bis die Erinnerung an längst Vergessenes zurückkehrte. »Zephaniah!«

»Mein Gatte«, sagte die Hexe von Endor sehr leise.

Mars’ Augen wurden in raschem Wechsel rot, dann blau und wieder rot. Rauch quoll unter seinem Helm hervor und auf seiner steinharten Haut zeigten sich zahllose brennende Risse. In stinkenden Platten fiel sie von ihm ab. Es gelang dem gefangenen Älteren, sich ein Stück vorwärtszubewegen, bevor die neue Haut wieder hart wurde. Er heulte und tobte, bis sein ganzes Gefängnis nach seiner Wut stank. Es war eine Übelkeit erregende Mischung aus verbranntem Fleisch und versengten Knochen. Irgendwann, als er vollkommen erschöpft war, blickte er die Frau an, mit der er einmal verheiratet gewesen war, die Frau, die er mehr als alles andere geliebt hatte, die Frau, die ihn zu diesem endlosen Leiden verdammt hatte. »Was willst du, Zephaniah?«, flüsterte er. »Bist du gekommen, um dich über mich lustig zu machen?«

»Nein, mein Gatte«, antwortete die Frau und lächelte, sodass man in ihrem Mund eine Zahnlücke sah. »Ich bin gekommen, um dich zu befreien. Es ist Zeit: Diese Welt braucht wieder einen Hexenmeister.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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