KAPITEL ELF

Der einäugige Ältere stapfte durch eine Welt aus Metall. Er wusste, dass es Leben in diesem Schattenreich gab, doch zu erkennen war es nicht.

Grobkörniger schwarzer Sand wirbelte auf und bildete geheimnisvolle Muster unter seinen Füßen. Riesige, unnatürlich gleichmäßige Felsbrocken bebten, setzten sich in Bewegung und rückten zentimeterweise auf ihn zu, als er vorbeiging. Bleiblasen stiegen an die Oberfläche silbrig glänzender Seen, und wenn sie platzten, hüpften winzige Kügelchen auf die einsame Gestalt zu. Es gab keinen Himmel, nur weit oben ein metallenes Dach, das von mehrfarbigem Licht überzogen war. Früher einmal hatte es in der Mitte des Daches eine Energiequelle gegeben, doch die war längst ausgebrannt.

Odin wusste nicht, wer dieses Schattenreich aus Metall erschaffen hatte. Er ging davon aus, dass es einmal eine florierende Welt war, und er wusste, dass sie nicht unbedeutend gewesen sein konnte – der Aufwand, der zu ihrer Erschaffung betrieben worden war, musste gigantisch gewesen sein und hätte seine bescheidenen Kräfte um ein Vielfaches überstiegen. Doch jetzt hatte sie nicht mal mehr einen Namen.

Der Ältere bestieg einen kleinen Hügel aus glitzerndem schwarzen Quarz. Dann drehte er sich um und blickte zurück über die Landschaft. Eine Reihe dunkler, sanft geschwungener Sanddünen, hier und da gesprenkelt mit Metallplatten, erstreckte sich bis zum Horizont. Es war windstill und dennoch war der grauschwarze Kapuzenumhang auf seinem Rücken in Bewegung. Vor Tausenden von Jahren hatte einer seiner menschlichen Diener einen grässlichen Archon in Gestalt eines Drachenungeheuers getötet und ihm einen Umhang geschenkt, der aus der Haut der Kreatur gemacht worden war. Seine natürliche Farbe war blau, doch sie passte sich der jeweiligen Umgebung an, und wenn Gefahr drohte, verhärteten die Schuppen sich.

Jetzt war der Umhang steinhart geworden und hing schwer von seinen Schultern.

»Wer da?«, rief Odin. Die metallene Landschaft schickte seine Stimme als Echo über den Sand. Sie hallte von der Decke wider und von den metallhaltigen Felsbrocken. Der Ältere schloss die knorrigen Finger seiner linken Hand fester um den Stock, den er bei sich trug. Es handelte sich um ein Überbleibsel des ursprünglichen Yggdrasil, der im Herzen von Danu Talis gestanden hatte.

Odin hob den Stock an sein rechtes Auge. Über dem linken lag eine verblichene lederne Klappe. Vor langer Zeit hatte er es im Tausch gegen Geheimwissen dem Archon Mimer geopfert. Und den Handel nie bereut. In den Stock war ganz oben ein blutrotes Stück Bernstein eingelassen. Ein zartes Gespinst aus Silberdraht hielt es an Ort und Stelle. In dem Bernstein waren Kreaturen gefangen, die bereits zur Zeit der Erdenfürsten ausgestorben waren, winzige, zarte Wesen aus Kristall und Knochen, Keramik und Chitin.

Odin blickte auf den Bernstein und ließ eine minimale Spur seiner Aura in das Yggdrasilholz fließen. Graue Rauchkringel stiegen von dem Stock auf und die ölig riechende metallische Luft war plötzlich durchsetzt von dem sauberen, klaren Geruch nach Ozon.

Die Welt veränderte sich, Farben flossen ein und für einen kurzen Augenblick sah Odin das Schattenreich, wie es einst gewesen war: eine blühende Metropole aus Metalllegierungen und Glas, in der empfindungsfähiges Metall die Landschaft immer wieder neu formte und eine Architektur von außergewöhnlicher Schönheit schuf. Der Ältere blinzelte, das Bild verblasste, und die Welt lag wieder so vor ihm, wie sie jetzt war … einschließlich der Kreatur, die ihm heimlich folgte.

Sie kroch auf allen vieren, war klein und gedrungen und sah aus wie eine Frau. Das fettige schwarze Haar hing ihr in zwei dicken Zöpfen rechts und links über die Schultern. Die Haut im Gesicht und an den Armen war mit schwarzen und weißen Flecken übersät, als hätte sie einen schlimmen Ausschlag. Die Kreatur hob den Kopf und schnupperte wie ein Tier.

»Ich sehe dich«, sagte Odin.

Sie richtete sich auf, klopfte sich den Sand ab und wankte seltsam steifbeinig auf den Älteren zu. Sie war einmal eine Schönheit gewesen, doch die Zeit war längst vorbei. Ihre Züge waren fast die eines Hundes und aus ihrem Oberkiefer ragten zwei kräftige Fangzähne. Aus ihren Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, tropfte eine Flüssigkeit und lief ihr über die Wangen. Solange er sie kannte, kleidete sie sich im selben Stil: graue Ledertunika, passende Lederhose und hohe Stiefel mit dick belegten Absätzen und Sohlen.

Odin fiel auf, dass der Sand zu seinen Füßen gleichmäßige Kreise und Spiralen bildete, während der Boden unter der Kreatur ein Muster aus gezackten Blitzen aufwies. Der Sand schien zu ihm hin zu fließen und weg von der Kreatur. »Was willst du?«, rief er.

Das Wesen bewegte die Lippen, doch es dauerte einen Augenblick, bevor es Worte bilden konnte. Es war, als sei es das Sprechen nicht gewohnt. »Ich will das, was du willst«, murmelte es, wankte vorwärts und wäre fast in den bewegten schwarzen Sand gefallen.

Odin schüttelte den Kopf. »Nein.«

Die Kreatur versuchte, auf den Sandhügel zu steigen, doch ihre Knie wollten sich nicht beugen lassen, und sie fiel der Länge nach hin. Odin wusste, dass derselbe schreckliche Fluch, der ihr ihre Schönheit geraubt hatte, auch das Fleisch und die Muskeln an ihren Beinen hatte schwinden lassen, sodass nicht viel mehr übrig war als die bloßen Knochen, zerbrechlich und kaum in der Lage, ihr Gewicht zu tragen. Sie verlegte sich wieder aufs Kriechen und mühte sich entsetzlich langsam den Hügel hinauf. »Ich will das, was du willst«, wiederholte sie. »Gerechtigkeit für den Tod meiner Welt. Rache für die Toten.«

Wieder schüttelte Odin den Kopf. »Nein.«

Die Kreatur lag im Sand und hob den Kopf, um ihn anschauen zu können. »Er hat unsere Schattenreiche zerstört. Er hat versucht, Coatlicue zu befreien«, keuchte sie. »Andere sind ebenfalls hinter ihm her. Als Isis und Osiris Dee für utlaga erklärt haben, haben sie eine riesige Belohnung auf ihn ausgesetzt. Schattenreiche, Unsterblichkeit, unermesslichen Reichtum und Wissen für den, der ihn lebendig herbeischafft.« Die Kreatur versuchte, sich aufzurichten, doch ihre steifen Beine machten nicht mit, und sie fiel wieder hin. »Aber du und ich, wir wollen ihn nicht vor Gericht bringen. Unser Zerwürfnis mit diesem unsterblichen Humani hat rein persönliche Gründe. Er hat unsere Liebsten umgebracht … Und dafür werden wir uns rächen.«

Die Kreatur tat Odin leid und er streckte ihr seinen Stock hin. Sie packte ihn und ihre Finger mit den abgebrochenen schwarzen Nägeln umklammerten das uralte Holz. Ihre Aura loderte blutrot auf, und einen Herzschlag lang sah Odin die Frau so, wie sie einmal gewesen war: groß, elegant und sehr, sehr schön, mit Augen von der Farbe des Morgenhimmels und Haar wie Gewitterwolken. Dann verblasste das Bild und vor ihm kauerte wieder die verkrüppelte Kreatur mit der fleckigen Haut. Odin hob sie hoch und stellte sie neben sich. Selbst mit den erhöhten Absätzen reichte sie ihm kaum bis zur Brust.

»Isis und Osiris waren bei mir – alle beide. Sie wollten mir meine Schönheit zurückgeben, wenn ich sie zu ihm führe.«

»Warum sind sie ausgerechnet zu dir gekommen?«

»Sie wussten, dass ich die Torbalan, die Sackmänner, auf seine Spur gesetzt habe.«

»Was hast du ihnen gesagt?«

»Dass ich nicht genau wüsste, wo er sich aufhält.«

»Eine Lüge?«, vermutete er.

»Nicht die ganze Wahrheit«, gab sie zu. »Ich wollte nicht, dass sie ihn vor mir finden.«

»Weil er dann vor Gericht gestellt würde.«

Die Kreatur nickte. »Genau. Wenn sie ihn erst haben, komme ich nicht mehr an ihn heran.«

»Wie es aussieht, sind wir beide auf Rache aus.«

»Ich bevorzuge den Begriff Gerechtigkeit.«

»Gerechtigkeit. Ein seltsames Wort, wenn es aus deinem Mund kommt.« Odin legte der Kreatur eine Hand unters Kinn und hob ihren Kopf. »Wie geht es dir, Hel?«

»Ich bin wütend, Onkel. Und du?«

»Genauso wütend«, gab er zu.

»Ich kann dir helfen«, bot Hel an.

»Wie?«

Die Kreatur zog ein Handy aus einer Tasche an ihrem Gürtel und hielt es dem Älteren hin. Auf dem Display war das Foto eines schwarzen Wagens. Hinter den getönten Scheiben war schwach das Gesicht von Dr. John Dee zu erkennen. »Ich weiß, wo Dr. Dee im Augenblick ist. Ich kann dich hinbringen.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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