KAPITEL SIEBEN

Spar dir deinen Zorn für diejenigen auf, die ihn verdienen«, fauchte Perenelle Flamel. »Mein Mann trägt keine Schuld.«

»Er ist der Katalysator«, erwiderte Prometheus.

»Das war immer sein Part.« Perenelle saß auf dem Rücksitz des Wagens. Nicholas hatte sich neben ihr ausgestreckt. Sie strich ihm über die Stirn. Der Alchemyst war nicht bei Bewusstsein, seine Haut war aschfahl und seine Wangen waren von roten Äderchen überzogen. Die Tränensäcke unter seinen Augen schimmerten blaurot, und jedes Mal wenn sie ihm mit der Hand über den Kopf streichelte, lösten sich Haare unter ihren Fingern. Nicholas Flamel rührte sich nicht. Seine Atmung war so flach, dass sie kaum wahrnehmbar war. Nur wenn die Zauberin die Finger mit leichtem Druck auf die Halsschlagader legte und seinen schwachen Puls spürte, konnte sie mit Sicherheit sagen, dass er noch lebte.

Nicholas starb und sie fühlte sich …

Sie fühlte sich …

Perenelle schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht genau sagen, wie sie sich fühlte. Sie hatte diesen Mann Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in Paris getroffen und sich in ihn verliebt. Am 18. August 1350 hatten sie geheiratet, und wahrscheinlich hätte sie an einer Hand abzählen können, wie viele Monate sie in den Jahrhunderten danach getrennt waren. Sie war zehn Jahre älter als Nicholas und er war nicht ihr erster Mann, aber sie waren bereits ein Jahrhundert verheiratet gewesen, bevor sie ihm gesagt hatte, dass sie Witwe war.

Sie hatte ihn vom ersten Augenblick an geliebt und sie liebte ihn immer noch, weshalb ihre Gefühle doch eigentlich … Sollte sie nicht verzweifelter sein … wütender … trauriger, weil er jetzt starb?

Aber sie war nichts von alledem.

Sie fühlte sich … erleichtert.

Ganz unbewusst nickte sie. Sie war erleichtert, dass es bald ein Ende hatte.

Der Buchhändler, der – mehr oder weniger zufällig – Alchemyst geworden war, hatte ihr Wunder offenbart und die unglaublichsten Dinge gezeigt. Sie hatten diese ganze Welt und die angrenzenden Schattenreiche bereist. Zusammen hatten sie Ungeheuer und Kreaturen bekämpft, die es außerhalb von Albträumen nicht hätte geben dürfen. Und obwohl sie viele Freundschaften geschlossen hatten – mit Humani und Unsterblichen, mit Wesen des Älteren Geschlechts und selbst mit Angehörigen der nächsten Generation –, hatten sie die bittere Erfahrung machen müssen, dass sie sich nur auf sich verlassen konnten. Voll und ganz vertrauen konnten sie sich nur gegenseitig. Zärtlich fuhr Perenelle mit den Fingern Wangenknochen und Kinn ihres Mannes nach. Wenn er jetzt sterben sollte, würde er in ihren Armen sterben, und es war ihr ein Trost, dass sie ihn nicht lange überleben würde. Nach über sechshundert Jahren gemeinsamen Lebens glaubte sie, es nicht ertragen zu können, ohne ihn zu leben. Doch er durfte noch nicht sterben – sie würde es nicht erlauben, würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn am Leben zu erhalten.

»Entschuldige bitte«, sagte Prometheus unvermittelt.

»Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen«, erwiderte Perenelle. »Scathach hatte recht, Tod und Zerstörung sind uns durch die Jahrhunderte gefolgt. Unseretwegen sind Menschen gestorben – weil sie uns halfen, uns beschützten oder einfach nur, weil sie uns kannten.« Ihr Gesicht war plötzlich voller Schmerz. Im Lauf der Jahre hatte sie sich einen Panzer zugelegt, damit sie nicht ständig an all das Leid und den Tod denken musste. Doch es gab Zeiten – so wie jetzt –, da bekam der Panzer Risse, und sie fühlte sich für jeden einzelnen Tod verantwortlich.

»Aber du hast auch viele gerettet, Perenelle, so viele.«

»Ich weiß.« Die Augen der Zauberin ruhten auf Nicholas’ Gesicht. »Wir haben die Dunklen des Älteren Geschlechts in Schach gehalten und Dee und Machiavelli und all die anderen ihrer Art jahrhundertelang geärgert.« Sie drehte sich so, dass sie beobachten konnte, wie das aufgewühlte Nichts in rasender Geschwindigkeit immer näher kam. »Und wir sind noch nicht fertig. Du darfst nicht zulassen, dass wir hier sterben, Prometheus.«

»Ich fahre, so schnell ich kann.« Prometheus’ Gesicht war von blutrotem Schweiß bedeckt. »Wenn ich die Welt nur noch wenige Augenblicke zusammenhalten kann …« Draußen verdichteten sich die salzig riechenden Wolken und hüllten den Wagen in einen feuchten Kokon ein. Prometheus schaltete die Scheibenwischer ein. »Wir sind fast da«, stellte er fest.

Dann, als sie das Schattenreich verließen und nach Point Reyes zurückkehrten, hob sich der Nebel, und die Welt explodierte in Farben, die so grell waren, dass es fast schmerzte hinzuschauen. Prometheus machte eine Vollbremsung und der schwere Wagen kam schlingernd auf der unbefestigten Straße zum Stehen. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Eine Hand auf das Wagendach gelegt, drehte er sich zu den Nebelbänken um und beobachtete, wie sie immer heftiger in Bewegung gerieten, verblassten und sich in hauchdünne Fäden auflösten.

Er hatte eine halbe Ewigkeit darauf verwendet, diese Welt zu erschaffen und ihr ihre Gestalt zu geben. Sie war ein Teil von ihm. Doch nun zerfiel sein eigenes Schattenreich zu nichts, und der Kristallschädel hatte seine Aura so geschwächt, hatte so in seinen Erinnerungen gewütet, dass er wusste: Ein zweites Mal würde er sie nicht mehr erschaffen können. Als sich der Nebel für einen Augenblick hob und noch einmal den Blick freigab auf sein herrliches, friedliches Schattenreich …

… war es verschwunden.

Prometheus stieg wieder in den Jeep und drehte sich zu Perenelle und Nicholas um. »Dann steht das Ende jetzt also kurz bevor? Abraham hat von dieser Zeit gesprochen.«

»Noch ist es nicht so weit, aber bald«, antwortete Perenelle. »Eine Sache müssen wir noch erledigen.«

»Du hast immer gewusst, dass es so enden würden«, sagte Prometheus.

»Ja, immer«, bestätigte sie.

Der Ältere seufzte. »Du hast das zweite Gesicht.«

»Stimmt, aber das allein ist nicht der Grund. Ein paar Dinge hat man mir auch vorhergesagt.« Sie blickte Prometheus an und ihre grünen Augen leuchteten im Dämmerlicht. »Mein armer Nicholas. Er hatte nie wirklich eine Chance. Sein Schicksal stand von dem Augenblick an fest, als der Einhändige ihm den Codex verkaufte. Das Buch veränderte den Lauf seines Lebens – wie auch meines Lebens – und gemeinsam veränderten wir den Lauf der Menschheitsgeschichte. Derselbe Mann, der ihm später das Buch verkaufen sollte, hat mir, als ich noch ein Kind war und Nicholas noch nicht einmal geboren, meine Zukunft und die Zukunft der Welt gezeigt. Keine unumstößliche Zukunft, aber eine mögliche, eine von vielen möglichen. Und im Lauf der Jahre habe ich gesehen, wie viele dieser Möglichkeiten Wirklichkeit wurden. Der Einhändige hat mir gesagt, was geschehen muss, was ich tun muss und was mein zukünftiger Ehemann würde tun müssen, damit die menschliche Rasse überleben könne. Er hat über die Jahrtausende hinweg wie ein Puppenspieler die Fäden gezogen, hat uns angestupst, korrigiert, gelenkt, uns alle. Auf diesen Punkt zu. Auch dich, Prometheus.«

Der Ältere schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

»Auch dich. Wer hat deinen Freund Saint-Germain wohl dazu angestachelt, dir das Feuer zu stehlen, was glaubst du? Und wer hat ihn wohl in die Geheimnisse der Feuermagie eingeführt?«

Prometheus öffnete den Mund, als wollte er etwas erwidern, schloss ihn dann aber wieder, ohne etwas gesagt zu haben.

»Der Mann mit der Hakenhand sagte mir, dass er am Anfang da war und auch am Ende wieder da sein würde.« Perenelle beugte sich vor. »Du warst dort, Prometheus. Du warst während der entscheidenden Schlacht auf Danu Talis. Er behauptet, ebenfalls dort gewesen zu sein – du musst ihn gesehen haben.«

Prometheus schüttelte bedächtig den großen Kopf. »Ich erinnere mich nicht an ihn.« Er lächelte bedauernd. »Der Kristallschädel hat sich meine ältesten und frühesten Erinnerungen genommen. Es tut mir leid, Zauberin, ich habe keinerlei Erinnerung an den Mann mit der Hakenhand.« Sein Lächeln wurde bitter. »Aber schon bevor mir der Schädel mein Gedächtnis genommen hat, gab es, was diesen Tag betrifft, vieles, an das ich mich gar nicht oder nur verschwommen erinnern konnte.«

»Du hast wirklich keine Erinnerung mehr an ihn – strahlend blaue Augen, ein silberner Haken anstelle der linken Hand?«

Wieder schüttelte Prometheus den Kopf. »Tut mir leid. Ich erinnere mich noch an die Gesichter guter Freunde, die ich verloren habe, wenn auch nicht mehr an ihre Namen. Ich erinnere mich an alle, die sich mir in den Weg gestellt haben, und an die, die ich bezwungen habe.« Er runzelte die Stirn. Seine Stimme wurde leiser und schien von weither zu kommen. »Ich erinnere mich an Schreie und Gebrüll, an Kampfgeräusche und Waffengeklirr, an den Gestank uralter Magie. Ich sehe noch das Feuer am Himmel … Und dann wurde die Welt auseinandergerissen und das Meer toste brüllend über sie hinweg.«

»Er war da.«

»Das war die entscheidende Schlacht, Zauberin. Alle waren da.«

Perenelle lehnte sich wieder zurück. »Als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, war ich noch ein Kind. Ich habe ihn nach seinem Namen gefragt. Er sagte, man würde ihn Marethyu nennen«, erzählte sie leise.

»Das ist kein Name. Es ist ein Titel und er bedeutet ›Tod‹. Er kann aber auch ›Mensch‹ bedeuten«, erklärte Prometheus, der den uralten Begriff noch übersetzen konnte.

»Ich dachte, er gehört dem Älteren Geschlecht an …«

Prometheus runzelte erneut die Stirn, als überraschend Erinnerungssplitter auftauchten. Seine Finger schlossen sich fester um die Rückenlehne. »Marethyu«, murmelte er und nickte. »Tod.«

»Erinnerst du dich jetzt an ihn?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur ganz verschwommen. Marethyu war keiner von uns. Er gehörte weder dem Älteren Geschlecht noch der nächsten Generation an, war weder Archon noch Erstgewesener. Er war – und ist – etwas mehr und etwas weniger als wir alle. Ich glaube, er ist ein Humani.« Prometheus drehte sich nach vorn und legte die großen Hände aufs Lenkrad. »Wohin soll ich dich bringen, Zauberin?«

»Bring mich zu Tsagaglalal.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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