KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

Sophie wusste instinktiv, dass das, worum Perenelle sie bat, falsch war, auch wenn sie nicht ganz und gar sicher war, weshalb. Schemenhaft flackerten vage Gedanken und Erinnerungen auf und tanzten durch ihr Bewusstsein, doch wenn die grünen Augen der Zauberin sie so intensiv anblickten, fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. »Du willst, dass ich dir meine Aura gebe?«

»Ja, nur ein wenig …«

»Wie … warum?« Sophie machte keine Anstalten, die ausgestreckte Hand der Zauberin zu ergreifen.

»Du bist Silber, Sophie, und unendlich mächtig«, erklärte Perenelle. »Du wirst jetzt deine Hand in meine legen. Ich hole mir etwas von der Kraft deiner Aura, um meine damit aufzufüllen, während ich einen Teil meiner Lebenskraft auf meinen Mann übertrage. Ich könnte es wahrscheinlich auch ohne eure Hilfe tun, aber es besteht die Gefahr, dass meine Aura mich überwältigt und es zu einer Spontanverbrennung kommt. Mit deiner Unterstürzung und der von Tsagaglalal bin ich auf der sicheren Seite.«

»Tu es, Sophie«, drängte Tsagaglalal sehr leise. »Es ist zum Besten.«

»Was wirst du machen?« Sophie war immer noch misstrauisch.

»Nicholas in meine Aura hüllen.«

Sophie versuchte, sich zu konzentrieren. Sie musste daran denken, wie die Hexe von Endor sie in Luft eingehüllt hatte. Obwohl ihr der Gedanke noch nie zuvor gekommen war, erkannte sie jetzt, dass es mehr gewesen sein musste als Luft. Zephaniah hatte Sophie in ihre Aura gehüllt und nicht nur einen Teil ihrer Kräfte, sondern auch ihr Wissen und ihre Erinnerungen auf sie übertragen.

»Wir haben nicht viel Zeit, Sophie«, drängte Perenelle. Sie konnte ihren Ärger nicht ganz verbergen. »Ich kann das nicht alleine.«

Tsagaglalal war ganz ruhig. »Nicholas stirbt, Sophie.«

Obwohl es Sophie immer noch widerstrebte, streckte sie die rechte Hand aus, und Perenelle ergriff sie. Ihr Händedruck war kräftig und sie hatte Schwielen an den Fingern und auf der Handfläche.

Sofort überrollte Sophie eine Welle von Erinnerungen, von denen sie wusste, dass es nicht ihre eigenen waren. Jetzt war ihr auch klar, dass sie Perenelle aus diesem Grund nicht in ihre Aura eindringen lassen wollte. Nach den Ereignissen der letzten Tage traute Sophie der Zauberin nicht mehr vollkommen. Einerseits hätte sie gerne noch eine ganze Menge mehr über Perenelle erfahren. Andererseits hatte die Hexe bestimmte Erinnerungen, Gedanken und Vorstellungen auf sie übertragen, von denen die Unsterbliche nichts zu erfahren brauchte. Einen wirklichen Grund, sie nicht alles wissen zu lassen, gab es nicht. Doch wenn die Ereignisse der letzten Tage Sophie irgendetwas gelehrt hatten, dann dies, dass sie ihren Instinkten folgen sollte.

»Der Skarabäus, Tsagaglalal«, bat Perenelle.

Sophie drehte sich um und sah, wie Tante Agnes den unwahrscheinlich detailgetreu gearbeiteten Käfer vom Regal nahm und ihn mit beiden Händen umschloss. In dem Augenblick, in dem sie ihn berührte, begann er, in einem warmen grünen Licht zu leuchten. Tsagaglalals schimmernde weiße Aura war von leuchtend jadegrünen Fäden durchzogen. Der Skarabäus pulsierte dunkelgrün und plötzlich fielen alle Spuren des Alters von der Greisin ab und sie war wieder jung und ausgesprochen hübsch. Der Käfer pulsierte erneut und Tsagaglalal wurde wieder zu der Person, die Sophie als Tante Agnes kannte.

Sophie betrachtete die Frau und erinnerte sich …

… an Tsagaglalal, die an einem Tisch mit Schachbrettmuster einem Mann gegenübersitzt. Der Mann trägt über der Hälfte seines Gesichts eine goldene Maske … nur dass es keine Maske ist. Seine Haut härtet langsam aus und wird zu Gold. Er hat beide Hände – eine aus Fleisch und Blut, die andere aus Gold – um den Skarabäus gelegt. Vorsichtig übergibt er ihn Tsagaglalal und schließt ihre Finger darüber. »Du bist Tsagaglalal.« Seine Stimme ist ein tiefes Grollen. »Die Wächterin. Jetzt und immerdar. Die Zukunft der Humani liegt hier in deinen Händen. Pass gut darauf auf.«

Sophie blinzelte und sah …

… Tsagaglalal, die vor zwei fast genau gleich aussehenden Mädchen mit rotem Haar und grünen Augen steht, Aoife und Scathach. Die Mädchen tragen die typische Kleidung der Prärie-Indianer aus besticktem Hirschleder. Hinter ihnen steigt von einem riesigen Schlachtfeld Rauch auf. Der Boden ist übersät mit Kreaturen, die weder Mensch noch Tier sind, sondern irgendetwas dazwischen. Eines der Mädchen, die Kleinere der beiden Schwestern mit Sommersprossen auf der Nase, tritt vor. Die Frau, die von den Stammesmitgliedern »die Wächterin« genannt wird, übergibt ihr den Skarabäus. Danach dreht sich das Mädchen um und reckt die Hände mit dem Skarabäus hoch in die Luft. Und die versammelte Armee brüllt ihren Namen: »Scathach!«

Das Bild vor Sophies Augen verschwamm und verschob sich. Dann sah sie …

… Aoife, ganz in Schwarz und Grau gekleidet, wie sie aus dem Fenster eines Turms springt und in einen eisigen Wassergraben fällt. Bevor sie in dem schiefergrauen Wasser verschwindet, hält sie noch die Schnitzerei aus Jade in die Höhe, die sie gerade gestohlen hat.

Sophie war sich bewusst, dass die Zeit dahinraste, Monate und Jahre flackerten innerhalb von Sekunden vorbei. Aus dem sommersprossigen Mädchen mit dem roten Haar war eine junge Frau geworden und …

… Scathach rennt, in Fell und Leder gekleidet, durch einen Bambuswald. Um sie herum regnet es große schwarze Pfeile. In einer Hand hält sie ein stark gebogenes Schwert und in der anderen den Skarabäus. Hinter ihr prescht Aoife an der Spitze einer Armee aus blauhäutigen Ungeheuern durch den Bambus.

Die Erinnerungen strömten auf Sophie ein, ein Bild überlagerte das andere in rascher Folge …

… Scathach kniet vor einem Jungen in der Tracht ägyptischer Könige. Mit ausgestreckten Armen hält sie ihm den grünen Jadekäfer hin.

… und wieder Scathach, wie sie über dem reglosen Körper desselben Jungen steht. Seine Arme sind über der Brust gekreuzt. Vorsichtig zieht sie den Skarabäus aus seinen steifen Fingern, führt ihn an die Lippen und küsst ihn und vergießt blutrote Tränen um ihren Freund, den Kinderkönig Tutanchamun. Plötzlich ertönen Rufe. Die Schattenhafte dreht sich um und springt in dem Moment aus dem Fenster, als die nubischen Wachen des Königs in den Raum stürmen. Sie verfolgen sie drei Tage lang durch die Wüste, bevor sie ihnen entkommt.

Weitere Bilder, unwahrscheinlich schnell hintereinander, verschwommene Gesichter und Orte – und dann, urplötzlich …

… Perenelle, in der eleganten Garderobe des 19. Jahrhunderts, mit Nicholas an ihrer Seite. Sie nimmt ein gestreiftes Kästchen in Empfang, das Scathach ihr reicht. Die Schattenhafte trägt die Uniform eines Soldaten mit einem Schwert an der Hüfte. Die Französin löst das Band, öffnet das Kästchen und lacht: »Wie, du schenkst mir einen Mistkäfer?«

Sophie blinzelte und sah …

… Perenelle, jetzt mit einem Glockenhut nach der Mode des frühen 20. Jahrhunderts gekleidet, übergibt dasselbe mit einem Band umwickelte Kästchen Tsagaglalal, der Wächterin. Hinter ihnen rauchen und qualmen die Ruinen von San Francisco nach einem entsetzlichen Erdbeben.

Die Erinnerungen verblassten. Sophie öffnete die Augen und sah, wie die alte Frau Perenelle den Skarabäus gab. »Ich weiß seit zehntausend Jahren um diesen Gegenstand«, erzählte Tsagaglalal, »und auch wenn es oft Zeiten gab, in denen er nicht in meinem Besitz war, kehrte er früher oder später immer zu mir zurück. Ich habe mich oft gefragt, weshalb. Habe ich – und all die anderen Wächter – ihn nur für diesen einen Moment sicher verwahrt?«

Perenelle blickte auf. »Ich dachte, du wüsstest es. Wenn nicht du, wer dann?«

Tsagaglalal schüttelte den Kopf. »Als er ihn mir gab, sagte er, ich hielte die Zukunft der Menschheit in meinen Händen. Aber solche Sätze hörte man oft von ihm. Er konnte sehr dramatisch sein.«

Die Zauberin betrachtete den Käfer, hielt ihn ans Licht und bewunderte die Details. »Als Scathach ihn mir zu meinem fünfhundertsten Geburtstag schenkte, neckte ich sie, dass sie mir einen Mistkäfer gegeben hätte. Die Kriegerin antwortete damals: ›Mist ist wertvoller als jedes Edelmetall. In Gold kann man nichts Essbares anpflanzen.‹« Perenelle blickte hinüber zu Tsagaglalal. »Damals erkannte ich nicht, wie alt und wertvoll das Stück tatsächlich war.«

Tsagaglalal schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht, obwohl er ihn mir einen Tag, bevor er mir das Buch überreicht hat, gab.«

Sophie runzelte die Stirn. »Wer hat dir den Skarabäus und das Buch gegeben?« Ein Name kam ihr in den Sinn. »War es Abraham der Weise?«

Tsagaglalal nickte traurig. Dann lächelte sie. »Ja, es war Abraham, auch wenn ich ihn nie weise genannt habe. Er hat den Titel gehasst.«

»Wie hast du ihn genannt?«, wollte Sophie wissen. Ihr Herz klopfte plötzlich so schnell, dass sie kaum noch Luft bekam.

»Ich habe ihn meinen Gatten genannt.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
titlepage.xhtml
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_000.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_001.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_002.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_003.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_004.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_005.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_006.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_007.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_008.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_009.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_010.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_011.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_012.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_013.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_014.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_015.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_016.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_017.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_018.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_019.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_020.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_021.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_022.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_023.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_024.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_025.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_026.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_027.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_028.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_029.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_030.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_031.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_032.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_033.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_034.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_035.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_036.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_037.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_038.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_039.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_040.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_041.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_042.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_043.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_044.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_045.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_046.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_047.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_048.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_049.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_050.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_051.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_052.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_053.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_054.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_055.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_056.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_057.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_058.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_059.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_060.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_061.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_062.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_063.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_064.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_065.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_066.html
Nicholas_Flamel_Bd._5_split_067.html