KAPITEL VIERZIG

Marethyu und Aten liefen einen schmalen Gang hinunter. Die Wände waren aus poliertem schwarzen Glas und übersät mit den Schriften Tausender toter Sprachen. Das Geschriebene war ständig in Bewegung. Waagrechte und senkrechte Zeilen wanden und schlängelten sich über die Oberfläche. Marethyus leuchtender Haken ließ Schatten über die Wörter tanzen.

»Eines musst du mir noch sagen«, bat Aten. Seine Stimme hallte von den Tunnelwänden wider.

Marethyu hielt den Haken hoch und ein schwaches goldenes Licht flackerte über Atens schmales Gesicht. »Was willst du wissen?«

»Weshalb tust du das?«

Marethyus strahlend blaue Augen weiteten sich überrascht. »Habe ich denn eine Wahl?«

»Jeder hat eine Wahl.«

Der Mann mit der Hakenhand schüttelte den Kopf. »Das zu glauben, fällt mir schwer. Jahrtausende, bevor ich geboren wurde, stand mein Leben schon fest. Manchmal denke ich, ich bin nur ein Schauspieler, der eine Rolle spielt.«

Der Tunnel endete in einer riesigen unterirdischen Höhle. Man hörte in der Dunkelheit Wasser plätschern und die Luft roch frisch und sauber. Aten wandte sich Marethyu zu. »Vielleicht bist du tatsächlich ein Schauspieler, aber du hast deine Rolle akzeptiert. Genauso gut hättest du Nein sagen und weggehen können.«

Wieder schüttelte Marethyu den Kopf. »Wenn du die ganze Geschichte kennen würdest, wüsstest du, dass das unmöglich war. Würde ich meine Rolle nicht ausfüllen, sähe die Welt vollkommen anders aus.«

Der Ältere berührte den Haken, der Marethyus linke Hand ersetzte. Funken sprühten, es knisterte und das Metall leuchtete heller. »Du wurdest nicht mit dem hier geboren.«

»Nein.«

»Wie hast du deine Hand verloren?«

»Durch meine eigene Entscheidung.« Marethyus Stimme wurde härter. »Es war ein Preis, den ich zu bezahlen hatte, und ich habe ihn gern bezahlt.«

Aten nickte. »Alles hat seinen Preis. Das verstehe ich.«

»Verstehst du auch, welchen Preis du dafür bezahlen musst, dass du mich entkommen lässt?«

Aten lächelte. »Anubis und Bastet werden darin die Ausrede sehen, die sie brauchen, um gegen mich vorgehen zu können. Isis und Osiris werden den Rat der Älteren einberufen und erklären, dass ich unfähig sei zu regieren. Und wahrscheinlich werfen sie mich in den Vulkan.« Er klatschte einmal kurz in die Hände und ein schwaches Leuchten ging durch die Höhle. Er klatschte erneut und nach und nach erfüllte sie ein warmes milchweißes Licht. »Der Pilz an der Wand reagiert auf Geräusche«, erklärte er.

In der Mitte der Höhle befand sich ein See. Das schwarze Wasser war weiß gesprenkelt und kräuselte sich träge. Am Ufer des Sees stand ein Vimana aus Kristall. Es war fast vollständig transparent und nur sichtbar, weil es das weiße Licht reflektierte.

»Nimm es«, sagte Aten. »Als ich es gefunden habe, war es in einem Eisblock auf einem Plateau an der Spitze der Welt eingeschlossen. Wahrscheinlich ist es das älteste existierende Vimana, und es ist praktisch unzerstörbar, auch wenn es so zerbrechlich aussieht.«

Plötzlich kamen aus dem Tunnel laute Stimmen. Der Pilz pulsierte und kräuselte sich mit den Geräuschen.

»Sie kommen. Geh jetzt und tu, was du tun musst.«

»Du könntest mitkommen«, schlug Marethyu unvermittelt vor.

»Das Vimana kann nur einen aufnehmen. Und außerdem: Hast du nicht gesagt, dass alles seinen Preis hat?«

Schwere Schritte kamen näher, das Geklirre von Waffen und Rüstungen hallte von den Wänden wider.

Marethyu streckte Aten die rechte Hand hin und dieser ergriff sie. »Eines sollst du noch wissen«, sagte der Mann mit der Hakenhand. »Wir werden uns noch einmal begegnen, an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit.«

»Das weißt du ganz sicher?«

»Ganz sicher.«

»Weil du in die Zukunft geschaut hast?«

»Weil ich dort war.«

Anubis stürmte mit seinen Anpu in dem Moment aus dem Tunnel, in dem das Vimana abhob. Lautlos schwebte es in der Luft. Der Mann mit der Hakenhand war deutlich darin zu erkennen. Er hob den Haken in goldenem Salut. Aten erwiderte den Gruß, indem er die Hand hob. Dann tauchte der Flugapparat in den See ein und verschwand.

»Was hast du getan, Bruder?«, fauchte Anubis. »Du hast uns verraten!«

»Ich habe getan, was ich tun musste, um die Welt zu retten.«

»Fesselt ihn«, befahl Anubis. Er sah seinen Bruder an, und die Wut machte es möglich, dass sein maskenhaftes Gesicht sich verzog. »Waerloga«, zischte er.

Der Ältere nickte bestätigend. »Aten, der Schwurbrecher. Klingt nicht schlecht, oder?«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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