KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

Zu jedem Problem gibt es auch eine Lösung, das wusste Scathach.

Der einzige Haken an der Sache war, dass das Problemelösen noch nie zu ihren Stärken gehört hatte. Das war immer die Spezialität ihrer Schwester gewesen. Aoife war die Strategin. Scathach bevorzugte die direkte Auseinandersetzung. Manchmal funktionierte es, wenn man mitten in das Lager des Feindes ritt. So hatte sie Johanna von Orléans gerettet. Doch einige Probleme erforderten ein subtileres Vorgehen. Und subtil war Scatty nie gewesen.

Die Kriegerin saß in ihrer Zelle, ließ die Füße über den Rand baumeln und schaute hinunter auf die blubbernde Lava. Sie wünschte, ihre Schwester wäre jetzt bei ihr. Aoife hätte gewusst, was zu tun wäre. Die Schattenhafte trommelte mit den Fersen gegen die Kraterwand. Sie hob den Kopf und blickte hinauf zu dem runden Stück Himmel, das sie weit über sich sehen konnte. Gestern hatte sie zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder an ihre Schwester gedacht und jetzt ging sie ihr nicht mehr aus dem Sinn. Offensichtlich war es die Tatsache, dass sie sich auf derselben Insel befand und nur wenige Meilen von dem Ort entfernt war, an dem ihre Eltern und ihr Bruder lebten, die sie an ihre Familie denken ließ. Denn obwohl sie es niemandem gegenüber zugegeben hätte, fühlte Scathach sich unendlich einsam. Aoife fehlte ihr. Klar, sie hatte Humani-Freunde gehabt, doch die wurden immer älter und starben. Auch unter den Unsterblichen hatte es viele Freunde gegeben – die Flamels waren ihr bessere Eltern gewesen als ihre wirklichen Eltern –, doch selbst die ältesten Unsterblichen hatten keine Ahnung, was sie schon alles getan und wo sie überall gewesen war. Jahrtausendelang hatte sie ihr Leben mit niemandem teilen können. Johanna war wie eine Schwester für sie, aber Johanna war 1412 geboren – sie war gerade mal knapp sechshundert Jahre alt. Scathach hatte zweieinhalbtausend Jahre im Schattenreich Erde verbracht und mehr als siebentausend Jahre war sie durch die verschiedenen anderen Schattenreiche gezogen. Nur ihre Zwillingsschwester wusste, was es bedeutete, eine so lange Zeit zu leben.

Sie ertappte sich bei der Frage, ob Aoife sich wohl je die Zeit nahm, an sie zu denken. Sie bezweifelte es. Aoife von den Schatten war nur an sich selbst interessiert.

Wo die Schwester jetzt wohl war? Immer noch im Schattenreich Erde? Scathach schloss die Augen und konzentrierte sich auf sie. Wenn sie das in der Vergangenheit getan hatte – was selten genug vorgekommen war –, hatte sie kurze Blicke auf Orte und Menschen erhascht und sich gefragt, ob sie wohl gerade mit ihrer Schwester verbunden war. Aber jetzt war da gar nichts … Nur Schwärze, eine vollkommene Leere. Die Kriegerin runzelte die Stirn. Bestand vielleicht doch eine Verbindung zu ihrer Schwester? Sah sie, was auch Aoife gerade sah? Scathach hatte das Gefühl, als stünde sie in einem riesigen dunklen Raum … und sie war nicht allein. Da war noch etwas. Etwas bewegte sich in der Leere. Etwas Großes, das hin und her glitt und zischte und kicherte. Etwas Altes und Böses.

Und obwohl es in dem Vulkan schier unerträglich heiß war, fröstelte Scathach.

War ihre Schwester in Schwierigkeiten? Eigentlich kaum vorstellbar. Aoife war mindestens so schlagkräftig wie Scathach. Sie war schnell und skrupellos und jegliche Gefühle für die Humani gingen ihr ab … mit einer Ausnahme: Niten – Miyamoto Musashi. Unbewusst nickte die Schattenhafte. Der Schwertkämpfer würde wissen, wo ihre Schwester sich aufhielt. Vielleicht, aber nur vielleicht, würde sie, wenn das alles vorüber war – und sie überlebt hatte –, zu Niten gehen und ihn bitten, ihrer Schwester eine Nachricht zu übermitteln. Vielleicht, aber nur vielleicht, war die Zeit reif für einen Versöhnungsversuch.

Scathach stützte sich auf die Ellbogen und blickte erneut hinauf in den dunkler werdenden Kreis des Himmels. Das helle Blau hatte sich lila verfärbt und schon blinzelten ein paar Sterne. Sie bildeten Konfigurationen, die ihr irgendwie bekannt vorkamen.

Sie fuhr zusammen, als ein roter Blitz über den Himmel zuckte.

Im ersten Moment dachte sie, es sei eine Sternschnuppe. Dann sah sie, dass es ein von der glühenden Lava rot angestrahltes Vimana war, das lautlos über den Himmel glitt. Ihm folgte ein zweites und dann noch ein drittes. Instinkt und ihr unbedingter Überlebenswille ließen sie aufstehen. Scathach sah, dass Saint-Germain in der gegenüberliegenden Kraterwand ebenfalls stand. Auch er spürte wohl, dass etwas im Busch war. Während der letzten Stunden war immer wieder ein einzelnes Vimana in den Vulkan hinein- und wieder hinausgeflogen. Anfangs hatte es weitere Gefangene gebracht, doch die letzten Male waren ganze Laibe altes Brot und Kürbisflaschen mit abgestandenem Wasser aus dem Fahrzeug in die Zellen geworfen worden. Einiges von dem Brot und dem Wasser erreichte sein Ziel nicht und segelte hinunter in die Lava. Den Anpu, der das Fluggerät steuerte, schien es nicht zu kümmern, ob der eine oder andere Gefangene Hunger oder Durst litt.

»Johanna!«, rief Scathach.

»Ich sehe sie«, rief Johanna von Orléans von oben herunter. Ihr Gesicht erschien über dem Rand eines Höhleneingangs hoch über Scathachs Kopf. »Ich sehe zehn oder zwölf …«

Scatty kniff die Augen zusammen. »Acht … zehn … zwölf – nein, dreizehn. Vierzehn«, zählte sie schließlich laut. »Ich glaube, es sind vierzehn.«

Von der gegenüberliegenden Kraterwand winkte Palamedes herüber. Als er sicher war, dass sie es gesehen hatte, öffnete und schloss er die rechte Faust dreimal.

»Fünfzehn«, rief Scathach zu Johanna hinauf. »Palamedes hat fünfzehn gezählt.«

»Und wie sieht jetzt unser Plan aus?«, wollte Johanna wissen.

»Kommt darauf an …«

»Worauf?«

»Zu wem sie zuerst kommen. Ich denke mal, sie kommen entweder zu Palamedes oder zu mir.«

»Und dann?«

Scathach entblößte beim Grinsen ihre Vampirzähne. »In unsere Zellen hinein oder hinaus kommt man nur mit einem Vimana. Also müssen wir eines kapern.«

»Ein super Plan«, sagte Johanna sarkastisch. »Nehmen wir mal an, du schaffst es, zwei Anpu zu überwältigen und das Vimana dabei noch in der Luft zu halten. Was ist dann mit den anderen vierzehn? Glaubst du, die fliegen einfach weiter?«

»Ich habe gesagt, es ist ein Plan. Dass es ein perfekter Plan ist, habe ich nie behauptet.«

»Ich glaube, dein Plan ändert sich gleich«, rief Johanna.

Ein weiteres Vimana war aufgetaucht. Es war größer als der Rest und sah von unten aus wie ein lang gestrecktes windschnittiges Dreieck. Seine Oberfläche reflektierte auf einer Seite den Abendhimmel und auf der anderen die rote Lava, weshalb es schwierig war, Details zu erkennen. Es schwebte über den kleineren runden Vimanas, ein schemenhaftes, bedrohliches Objekt in der Dunkelheit. Und dann gingen plötzlich seine Lichter an, rot, grün und blau strahlten sie an den Spitzen des Dreiecks.

»Ein Rukma Vimana«, brüllte Scathach in der Sprache ihrer Jugendzeit. »Ein Kampfvimana, zurück, ganz nach hinten in die Zellen!«

Im nächsten Moment senkte sich das dreieckige Vimana senkrecht in den Vulkankrater ab.

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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