KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG

Dieses Lachen verursacht mir langsam eine Gänsehaut«, murmelte Billy.

Machiavelli nickte. »Ich fürchte, der Druck wird zu groß für den guten Doktor.«

Billy beobachtete Dee und Virginia Dare, die weiter vorn in ein Gespräch vertieft waren. »Sie hecken etwas aus.«

»Du kennst Virginia Dare besser als ich«, begann der Italiener. »Vertraust du ihr?«

Billy vergrub die Hände in den hinteren Taschen seiner Jeans. »Die letzte Person, der ich vertraut habe, hat mich von hinten erschossen.«

»Das bedeutet dann wohl Nein.«

»Ich mag sie, Niccolò. Wir haben ein paar super Abenteuer miteinander erlebt. Sie hat mir zweimal das Leben gerettet und ich ihres.« Ein Lächeln spielte um seinen Mund, doch dann verzog er gequält das Gesicht. »Aber Virginia ist … Wie soll ich sagen? Sie ist einfach ein bisschen merkwürdig.«

Machiavelli lachte. »Billy, wir sind alle ein bisschen merkwürdig.« Er fröstelte in der steifen Brise und knöpfte sein ruiniertes Jackett zu.

»Aber Virginia ist merkwürdiger als die meisten von uns.« Billy schüttelte den Kopf. »Sie ist eine unsterbliche Humani, aber sie ist anders. Gefährlich anders. Sie wurde ausgesetzt und hat sich ganz allein in den Wäldern von Virginia durchgeschlagen. Die Indianerstämme dort haben auf sie aufgepasst, ihr Essen und Kleidung gebracht. Ich glaube, sie haben sie für einen Waldgeist oder etwas Ähnliches gehalten. Sie haben sie gefürchtet und sie ›Windigo‹ genannt, Monster. Wenn Dorfbewohner nicht mehr aus dem Wald zurückkamen, hieß es, der Windigo habe sie geholt. Und gefressen.«

Machiavelli zog scharf die Luft ein. »Willst du damit sagen …«

Billy schüttelte rasch den Kopf. »Ich erzähle dir nur, was geredet wurde. Soweit ich weiß, ist sie Vegetarierin«, fügte er hinzu. »Mit Zeitangaben nimmt sie es nicht so genau, aber sie hat erst mit zehn oder elf Jahren sprechen gelernt. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie bereits fließend mit Tieren kommunizieren und ihr Waldwissen war unübertroffen. Aber ich weiß nicht, wie sie überleben konnte. Ich habe keine Vorstellung davon, was sie durchgemacht hat. Und ich werde sie auch nicht danach fragen. Ich weiß nur eines: Diese Jahre haben sie kaputt gemacht. Menschen sind ihr im Grunde egal, aber noch hat sie jedes Tier, das ihr über den Weg lief, dazu gebracht, dass es ihr aus der Hand fraß. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie am glücklichsten war, als sie über die Wälder Virginias geherrscht hat, wo alle Tiere sie kannten und die Eingeborenen sie verehrt und gefürchtet haben.«

»Das wusste ich alles nicht«, gab Machiavelli zu. »In ihren Akten steht nicht viel über sie.«

»Hast du gewusst, dass sie ihren Meister umgebracht hat?«

Machiavelli nickte. »Ja, das wusste ich. Und ich weiß auch, dass sie und Dee sich sehr nahestanden. Ich glaube, sie waren sogar einmal verlobt, aber ich bin sicher, dass es keine Verbindung aus Liebe war.«

»Ich weiß noch was«, fuhr Billy fort. »Sie möchte herrschen. In ein paar nahe gelegenen Schattenreichen wird sie als Göttin verehrt. Sie will, dass die Leute ihr zu Füßen liegen und sie fürchten, genau wie die Eingeborenen in Virginia es getan haben.«

»Ja. Es gibt ihr das Gefühl, gebraucht zu werden«, vermutete Machiavelli. »Kaum verwunderlich für eine Frau, die als Baby ausgesetzt wurde. Dann ist sie also gefährlich?«

»Oh ja, das ist sie. In den meisten dieser Schattenreiche wird sie als Todesgöttin verehrt«, antwortete Billy grimmig. »Sie zu unterschätzen, wäre der letzte Fehler, den du in deinem Leben machst. Der vorletzte wäre, ihr zu trauen.«

In diesem Moment trieb der Wind ihnen wieder das irre Lachen des Doktors zu. »Ich frage mich, ob Dee das weiß?«, überlegte Machiavelli laut. »Wäre sie ihm gegenüber loyal … falls irgendetwas passieren würde?«

Billy schaute den Italiener prüfend an. »Und was könnte passieren?«, fragte er leise.

Machiavelli blickte mit gerunzelter Stirn über die Bucht auf die Stadt. »In letzter Zeit musste ich oft an meine Frau Marietta denken. Warst du je verheiratet, Billy?«

Der Amerikaner schüttelte den Kopf. »Bevor ich unsterblich wurde, hatte ich keine Zeit dafür. Und danach wollte ich nicht mehr. Ich hab mir gedacht, es wäre nicht fair einer Frau gegenüber.«

»Sehr weise. Ich wünschte, ich wäre so besonnen gewesen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Unsterbliche nur Unsterbliche heiraten sollten. Nicholas und Perenelle hatten großes Glück, so lange miteinander leben zu können.« Er lachte. »Vielleicht hätte Dee Virginia heiraten sollen. Was für ein Paar hätten die beiden abgegeben!«

Billy grinste. »Sie hätte ihn gleich im ersten Jahr umgebracht. Virginia rastet ziemlich schnell aus.«

»Meine Frau Marietta hat auch schnell die Beherrschung verloren. Aber sie hatte allen Grund dazu. Ich war kein besonders guter Ehemann. Ich war zu oft und zu lange am Hof, und wer zu dieser Zeit in der Politik war, musste ständig damit rechnen, umgebracht zu werden. Meine arme Marietta hat eine Menge mitgemacht. Einmal hat sie mir vorgeworfen, ich sei ein unmenschliches Ungeheuer. Sie behauptete, ich hätte aufgehört, Menschen als Individuen zu sehen. Ich würde nur noch die Massen sehen – gesichtslos und anonym – entweder Feinde oder Freunde.«

»Und? Hatte sie recht?«

»Ja«, gab der Italiener traurig zu. »Und dann hielt sie meinen kleinen Sohn Guido hoch und fragte mich, ob er ein Individuum sei.«

Billy folgte Machiavellis Blick. »Ist das jetzt eine Stadt der gesichtslosen Massen oder leben Individuen dort?«

»Weshalb fragst du?«

»Weil ich glaube, dass du kein Problem damit hättest, dein Wort, das du deinem Meister aus dem Älteren Geschlecht und Quetzalcoatl gegeben hast, zu halten und Kreaturen auf gesichtslose Massen in der Stadt loszulassen.«

»Du hast recht. Das habe ich schon einmal getan«, sagte Machiavelli.

»Wenn du San Francisco aber als Stadt voller Individuen siehst …«

»Wäre es etwas anderes.«

»Wer hat gleich wieder gesagt: ›Das gegebene Versprechen war eine Notwendigkeit der Vergangenheit, das gebrochene Wort ist eine Notwendigkeit der Gegenwart‹?«

Der Italiener warf dem Amerikaner einen raschen Blick zu, dann verneigte er sich kurz. »Ich glaube tatsächlich, dass ich das einmal gesagt habe – vor langer, langer Zeit.«

»Du hast auch geschrieben, dass ein Herrscher immer rechtmäßige Gründe findet, ein Versprechen nicht zu halten«, sagte Billy und grinste.

»Ja, auch das stammt von mir. Du bist voller Überraschungen, Billy.«

Billy wandte den Blick von der Stadt ab und schaute Machiavelli an. »Also, was siehst du jetzt? Gesichtslose Massen oder Individuen?«

»Individuen«, flüsterte Machiavelli.

»Grund genug, das Versprechen, das du deinem Meister aus dem Älteren Geschlecht und einem Monster mit Vogelschwanz gegeben hast, zu brechen?«

Machiavelli nickte. »Grund genug.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest.« Billy drückte den Arm des Italieners. »Du bist schwer in Ordnung, Niccolò Machiavelli.«

»Da bin ich anderer Meinung. Im Augenblick machen meine Gedanken mich zu einem waerloga – einem Schwurbrecher.«

»Waerloga.« Billy the Kid legte den Kopf schräg. »Das gefällt mir. Klingt irgendwie gut. Ich könnte glatt auch ein waerloga werden.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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