KAPITEL ACHT

Oh Mann, das stinkt vielleicht hier unten!« Billy the Kid nieste laut. »Und ich meine wirklich stinken.« Er presste die Handballen auf die tränenden Augen und nieste erneut.

»So schlimm finde ich es gar nicht. Ich habe schon Schlimmeres gerochen«, sagte Niccolo Machiavelli leise.

Die beiden Männer standen in einem Gang tief im Felsen unter dem Gefängnis von Alcatraz. Von der niedrigen Decke tropfte es und sie standen bis zu den Knöcheln im Wasser. Es stank nach fauligem Fisch und verrottetem Seetang. In diesen Gestank mischte sich noch der stechende Geruch von Vogeldreck und vom Mist der Fledermäuse. Licht fiel nur durch eine Öffnung hoch über ihren Köpfen herab. Das blaue Rechteck wirkte irritierend in all der Schwärze.

Der große, elegante Mann in dem staubigen Anzug atmete tief durch. »Der Geruch erinnert mich an zu Hause.«

»An zu Hause?« Billy hustete. Er zog ein rot gemustertes Halstuch aus der hinteren Tasche seiner Jeans und band es sich über Mund und Nase. »Riecht es bei dir zu Hause wie auf dem Klo von wilden Tieren?«

Ein Lächeln huschte über Machiavellis Gesicht. »Na ja, Rom und Venedig – ah, Venedig, die Serenissima – haben im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert tatsächlich ziemlich übel gerochen … Wenn auch nicht ganz so übel wie Paris im achtzehnten oder London Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Ich war im Sommer 1858 dort. In der Luft lag ein derart unerträglicher Gestank, dass man praktisch nicht atmen konnte. Dieser Sommer wurde The Big Stink genannt.«

»Mein Fall wäre das nicht«, meinte Billy. »Ich mag frische Luft, und davon jede Menge.« Er schnippte mit den Fingern und der exotische Duft von Cayennepfeffer überdeckte den Gestank. Ein leuchtender rotlilafarbener Rauchfaden ringelte sich um seine Fingerspitzen und ein durchsichtiger roter Feuerball stieg von seinen Händen bis zur Höhe seines Kopfes auf. Dort hing er wie eine Seifenblase, tanzte und hüpfte, wenn die salzige Meerluft, die den Tunnel hinunterpfiff, an ihm zerrte. »Ein Medizinmann der Apachen hat mir das beigebracht«, erklärte Billy stolz. »Nicht schlecht, was?«

»Wirklich nicht schlecht.« Machiavelli legte die Handflächen aufeinander und Billys Auraduft wurde vom Gestank von Schlangen verdrängt. Grelles weißes Licht erleuchtete den Tunnel, sodass sich sämtliche Konturen scharf abzeichneten. Die rote Kugel platzte. »Mein Meister Aten hat mir das beigebracht.«

Billy the Kid rieb rasch die Hände aneinander und seine purpurfarbene Aura tropfte in langen Fäden ins Wasser zu seinen Füßen. »Nett«, gab er zu. Seine Stimme klang gedämpft hinter dem Tuch.

Machiavelli betrachtete den jungen Mann von der Seite. »Mit diesem Tuch siehst du aus wie ein Gangster.«

»Ich finde, es steht mir.«

Die beiden Männer, einer in einem ruinierten Anzug und teuren italienischen Schuhen, der andere in Jeans und zerschrammten Stiefeln, platschten den Korridor hinunter. Das weiße Licht begleitete sie und jagte rotäugige Ratten zurück in die Dunkelheit.

»Ich hasse Ratten«, murmelte Billy.

»Sie können auch nützlich sein«, erwiderte Machiavelli leise. »Als Spione machen sie sich ausgezeichnet.«

»Als Spione?« Billy the Kid blieb stehen. »Spione?«, wiederholte er irritiert.

Der Italiener war weitergegangen, blieb nun jedoch ebenfalls stehen und drehte sich zu Billy um. »Hast du noch nie etwas durch die Augen eines Tieres beobachtet?«

»Nein. Ich hab mal eine Medizinfrau der Navajos gekannt, die behauptet hat, sie könnte durch die Augen eines Adlers sehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr wirklich glauben konnte, bis sie mir sagte, dass dreißig Meilen weiter ein Mann des Gesetzes einen Trupp zusammenstellen würde, um mich zu jagen. Sie sagte, dass sie zwei Tage brauchen würden, bis sie mich gefunden hätten. Und so kam es dann auch. Zwei Tage später fanden sie mich.«

»Deinen Willen auf ein Tier zu projizieren – oder auch auf einen Menschen –, ist kein Hexenwerk. Hat dein Meister dir denn gar nichts beigebracht?«

Billy legte den Kopf schräg. »Sieht so aus.« Dann fügte er rasch und fast schüchtern hinzu: »Meinst du, du könntest mir zeigen, wie es geht?«

Der unsterbliche Italiener sah den jungen Amerikaner überrascht an. »Ich soll dir etwas beibringen?«

Billy zuckte verlegen mit den Schultern. »Na ja, dich gibt’s schon ziemlich lang. Du bist … also, du bist aus dem Mittelalter. Das ist echt alt.«

»Danke.«

»Und ihr Europäer seid alle von euren alten Meistern ausgebildet worden …«

»Dein Meister, Quetza… Quetza…«

»Quetzalcoatl«, half Billy aus.

»Er ist so alt wie mein Meister. Quetza… Quetza…«

»Nenn ihn Kukulkan.«

»Kukulkan ist ein ungemein mächtiger Älterer. Du hast gehört, was er gesagt hat. Er war auf Danu Talis, als die Insel unterging. Er könnte dir die unwahrscheinlichsten Dinge beibringen. Mehr, viel mehr, als ich es jemals könnte.«

Billy schob die Hände in die hinteren Taschen seiner Jeans und sah plötzlich sehr jung aus. »Wenn ich ganz ehrlich bin, hat er mir nie wirklich etwas beigebracht. Ich hab ihm das Leben gerettet und er hat mich als Belohnung dafür unsterblich gemacht. Danach hab ich ihn fünfhundert Jahre oder so nicht mehr gesehen. Alles, was ich über die Älteren und meine eigene Unsterblichkeit erfahren habe, hab ich selbst herausgefunden, indem ich hier und da mal was aufgeschnappt habe.«

Machiavelli nickte. »Bei mir war es ganz ähnlich. Mein Meister hat mich ein halbes Jahrhundert lang mir selbst überlassen. Aber deine Nachforschungen haben dich doch sicher zu anderen Unsterblichen geführt, oder?«

»Nicht zu vielen und noch nicht lange.« Billy grinste. »Dass ich unsterblich bin, wurde mir erst klar, als ich in der Sierra Madre vom Pferd gefallen und in einen Canyon gekullert bin. Auf dem Weg hinunter hab ich gehört, wie meine Knochen gebrochen sind. Dann hab ich unten in dieser Schlucht gelegen und hab zugeschaut, wie dieser lilarote Rauch von meiner Haut aufstieg. Ich hab dieses Knirschen gehört und konnte spüren, wie meine Knochen sich wieder zusammengefügt haben. Ich hab gesehen, wie meine Schürfwunden geheilt sind und sich neue Haut gebildet hat und nicht die kleinste Narbe zurückblieb. Dass mir die Kleider in Fetzen am Leib hingen, war mein einziger Beweis, dass ich einen Berghang hinuntergekullert war.«

»Deine Aura hat dich geheilt.«

»Damals hatte ich noch keinen Namen dafür.« Billy hob die Hand und dünne Fäden seiner lilaroten Aura ringelten sich aus seinen Fingerspitzen. »Doch nach diesem Erlebnis habe ich angefangen, die Auren der Leute zu erkennen. Es ging so weit, dass ich wusste, wer gut und wer böse war, stark oder schwach, gesund oder krank, und das einfach dadurch, dass ich mir die Farben um ihren Körper angesehen habe.«

»Ich glaube, dass früher alle Menschen diese Fähigkeit hatten.«

»Und dann eines Tages, es war in Deadwood in South Dakota, habe ich diese wahnsinnig kraftvolle Aura gesehen – stahlgrau. Sie umgab einen Mann, der in einen Zug stieg. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, bin aber trotzdem zu dem Zug gelaufen und hab ans Fenster geklopft. Und als er mich von drinnen angeschaut hat, habe ich seine Augen gesehen, genauso grau wie seine Aura. Sie weiteten sich, und ich wusste instinktiv, dass er die Farbe erkennen konnte, die mich umgab. Da wusste ich, dass ich nicht allein war, dass es andere Unsterbliche wie mich gibt.«

»Hast du je herausgefunden, wer der Mann war?«

»Ein Jahrhundert später bin ich ihm noch einmal begegnet. Es war Daniel Boone.«

Machiavelli nickte. »Ich habe den Namen schon gelesen. Er steht auf der Liste der Unsterblichen Amerikas.«

»Steht mein Name auch auf dieser Liste?«

»Nein.«

»Ich weiß jetzt nicht, ob ich beleidigt oder dankbar sein soll.«

»Es gibt einen alten keltischen Spruch, der mir ausnehmend gut gefällt: ›Es ist besser, wenn das Gesetz dich nicht kennt.‹«

Billy nickte. »Der gefällt mir auch!«

»Trotzdem ist es die Pflicht eines Meisters, seinen Diener auszubilden«, fuhr Machiavelli fort. »Kukulkan hätte dich ausbilden müssen.«

Wieder zuckte Billy mit den Schultern. »Na ja, das ist nicht allein seine Schuld. Ich hatte schon immer ein kleines Autoritätsproblem. Das hat mich schon in Schwierigkeiten gebracht, als ich noch ein junger Kerl war, und war schuld daran, dass es mein Leben lang so weiterging. Wirklich überwunden habe ich es nie. Black Hawk hat mich ausgebildet – wenn er nicht gerade versucht hat, mich umzubringen. Er hat mir das wenige beigebracht, das ich kann.« Nach einer kleinen Pause fügte Billy hinzu: »Es gibt noch so vieles, von dem ich nur gehört oder gelesen habe. So vieles, das ich noch sehen will.« Wieder machte er eine kurze Pause, bevor er leise fortfuhr: »Ich möchte sämtliche Schattenreiche sehen.«

»Es gibt ein paar, die du ganz bestimmt nicht betreten willst«, erwiderte Machiavelli automatisch.

»Aber es gibt viele andere und die würde ich gern sehen.«

»Einige sind wunderschön«, gab der Italiener zu.

»Ich könnte eine Menge von dir lernen«, meinte Billy. »Und dir im Gegenzug vielleicht auch noch ein bisschen was beibringen.«

»Möglich. Allerdings habe ich seit ewigen Zeiten keinen Schüler mehr angenommen.«

»Und warum nicht?«, fragte Billy.

»Glaub mir«, antwortete Machiavelli, »du willst wirklich nicht wissen …« Er hielt inne, legte den Kopf mit der langen schmalen Nase in den Nacken und schnupperte. »Billy«, fuhr er rasch fort, »ich nehme dich als Schüler auf und bringe dir alles bei, was ich weiß – unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«, fragte Billy vorsichtig.

»Dass du für die nächsten zehn Minuten den Mund hältst.«

Noch während er sprach, schlug ihnen der Gestank von totem Fisch und verfaultem Tang entgegen.

Und aus der Dunkelheit tauchte ein Monster auf.

Billy the Kid trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Oh Mann, du bist vielleicht ein hässlicher –«

»Billy!«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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