KAPITEL VIERUNDDREISSIG

Ich habe gerade mit dem Jungen gesprochen«, erzählte Virginia Dare, nachdem sie Dee auf dem Weg, der um die Insel herumführte, eingeholt hatte.

Dee blickte die Frau von der Seite her an, sagte jedoch nichts.

Virginia schüttelte den Kopf, um den Knoten in ihrem Nacken zu lösen. Jetzt fiel ihr das Haar wieder locker über die Schultern. »Er wollte wissen, was passiert, wenn alle Ungeheuer frei in der Stadt herumlaufen.«

»Es wird Panik geben.« Dee wedelte mit der Hand in der Luft herum. »Chaos.«

»Ja, natürlich. Deine Spezialität, Doktor. Aber was ist mit den Älteren?« Sie hob eine Augenbraue. »Ich dachte, der Plan hätte so ausgesehen, dass die Monster die Stadt verwüsten und die Älteren dann als Retter in der Not auftreten.«

»Ja, so sah der ursprüngliche Plan aus.«

Sie bogen um eine Ecke, und der Wind, der von der Bucht herüberwehte, zerrte an ihnen. San Francisco und die Golden-Gate-Brücke lagen auf der anderen Seite im Dunst des frühen Nachmittags.

»Dann kann ich davon ausgehen, dass er sich geändert hat.«

»Er hat sich geändert.«

Virginia schnaubte frustriert. »Muss ich dir jeden Satz einzeln aus der Nase ziehen, oder sagst du mir endlich, was du vorhast? Du hast mich schließlich in die Sache hineingezogen. Ich war in London glücklich und zufrieden und unsichtbar. Jetzt wurde eine Kopfprämie auf mich ausgelobt und daran bist nur du schuld.«

Dee erwiderte nichts darauf.

»Langsam gehst du mir auf die Nerven«, sagte Virginia sehr leise. »Und du willst mich nicht wütend machen. Ich glaube, du hast mich noch nie wirklich wütend gesehen.«

Der Magier blickte über die Schulter. Machiavelli plauderte mit Billy; Josh folgte den beiden in einigem Abstand. Alle drei waren weit genug entfernt, dass sie ihn nicht hören konnten. Trotzdem sprach er nur im Flüsterton: »Ich habe dir etwas versprochen.«

»Du hast mir diese Welt versprochen.«

»So ist es.«

»Und ich erwarte, dass du dein Versprechen hältst.«

Der Doktor nickte. »Ich habe immer zu meinem Wort gestanden.«

»Nein, Doktor. Du warst immer ein ausgefuchster Lügner. Aber wenigstens warst du klug genug, mir immer die Wahrheit zu sagen.« Ihre Stimme wurde so eisig wie der Wind, der über die Bucht fegte. »Nur deshalb hast du so viele Jahrhunderte überlebt.«

Dee nickte. »Du hast natürlich recht. Ich habe dich nie bewusst angelogen.« Er seufzte. »Die letzten paar Tage waren … schwierig.«

»Schwierig?« Virginia Dare lächelte. »Das erscheint mir reichlich untertrieben. Innerhalb einer Woche bist du vom Agenten – ach was, von dem Topagenten der Dunklen des Älteren Geschlechts – zum utlaga geworden. Sie wollen deinen Tod. Du hast eine Ältere ermordet und zahllose Schattenreiche zerstört.«

»Du brauchst mir das nicht immer wieder unter die Nase zu reiben …«, begann Dee, doch Virginia ließ ihn nicht ausreden.

»In nur sieben Tagen wurde alles, wofür du dich jemals eingesetzt hast, alles, woran du jemals geglaubt hast, verändert, und zwar von Grund auf.«

»Du genießt das, nicht wahr?« Dee hatte die Stimme erhoben.

»Ich bin neugierig, wie du deinen Kopf aus der Schlinge ziehst, Doktor.«

»Wie du gesagt hast: Du sitzt jetzt mit mir im selben Boot. Die meiste Zeit deines Lebens hast du im Verborgenen zugebracht, doch jetzt sind die Scheinwerfer auf dich gerichtet. Die Älteren und ihre Söldner aus der nächsten Generation und aus der Welt der Humani sind hinter mir her, aber sie werden auch hinter dir her sein.«

»Und genau das ist mein Problem mit dir.« Virginias Finger schlossen sich fester um ihre Flöte. Sie spürte, wie das Instrument unter dem Druck warm wurde.

»Ich habe einen Plan«, verkündete Dee.

»Das dachte ich mir.«

»Einen gefährlichen Plan.

»Daran habe ich keinen Zweifel.«

Dee blieb vor einem Haufen Felsbrocken auf dem schmalen Stück Strand stehen. Er blickte wieder zurück auf Josh und die Unsterblichen. »In diesen letzten Tagen habe ich eine Menge gelernt. Sie haben mich zu der Erkenntnis gebracht, dass ich der Meister sein sollte und nicht der Sklave. Und in dieser Woche ist auch nicht komplett alles schiefgelaufen.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass deine Büros ausgebrannt sind, dass du kein Geld hast und es keinen einzigen Ort in diesem Schattenreich gibt, an dem du in Sicherheit bist? Selbst dein Plan, Coatlicue zu befreien, ist in die Hose gegangen.«

»Aber ich habe die vier Kraftschwerter und den Codex. Zumindest den größten Teil«, korrigierte er sich. »Die letzten beiden Seiten hat immer noch Flamel.«

»Ach ja?« Virginia Dare ließ sich diese Information eine Weile durch den Kopf gehen. »Du könntest den Älteren einen Handel vorschlagen – die vier Schwerter und das Buch gegen deine Freiheit und dein Leben. Vielleicht gehen sie darauf ein.«

»Da würde ich sie viel zu billig verkaufen. Mit den Schwertern und dem Codex kann ich fast alles erreichen.«

»Sobald du die Schwerter aktivierst, verrätst du den Älteren deinen Standort. Gib ihnen die Schwerter und lass dich dafür in ein unbedeutendes Schattenreich verbannen.«

»Mir ist eine viel bessere Idee gekommen. Ich habe dir diese Welt versprochen, aber ich glaube, ich bin in einer Position, in der ich dir noch mehr bieten kann, viel, viel mehr.«

Virginias Interesse war geweckt. »Sag schon.«

»Du warst immer machthungrig. Du hast mir einmal erzählt, du wolltest herrschen.«

»John …« Ein warnender Unterton lag in ihrer Stimme.

»Bleib bei mir«, fuhr Dee hastig fort. »Glaube an mich, beschütze und unterstütze mich, und ich gebe dir nicht nur die Herrschaft über eine Welt, auch nicht über zwei oder drei, sondern über alle.«

»Über alle?« Virginia schüttelte frustriert den Kopf. »John, du redest Unsinn.«

Dee kicherte. »Was würdest du dazu sagen, wenn du über Myriaden von Schattenreichen herrschen könntest?«

»Über welche?«

»Wie ich gesagt habe – über alle.«

»Das ist nicht möglich …«

»Oh doch. Und ich weiß auch, wie wir es anstellen.« Das Lachen des Magiers war hoch und hysterisch.

»Und was bekommst du, Dr. Dee, wenn ich die Schattenreiche bekomme?«

»Eine Welt – nur eine. Ich will die erste Welt. Das Original.«

»Du willst Danu Talis?«, flüsterte Virginia.

Er nickte. »Danu Talis.« In seinen Augen lag ein irrer Glanz. »Ich will Danu Talis, aber nicht, um darüber zu herrschen – das könntest du für mich tun, wenn du es möchtest. Ich war mein ganzes Leben lang auf der Suche nach Wissen. Dort hätte ich das gesamte Wissen von vier großen Rassen – Ältere Generation, Archone, Erstgewesene und Erdenfürsten – an einem Ort versammelt.«

Virginia blickte ihn verständnislos an.

»Ich werde die neue Isis aus dir machen. Ich werde dich zur Kaiserin der Schattenreiche machen.« Er lief ein paar Schritte voraus und drehte sich dann mit einem Ruck um, sodass er ihr gegenüberstand. Den Blick starr auf sie gerichtet, ging er rückwärts weiter. »Ich habe dich nie angelogen, Virginia, das hast du selbst gesagt. Denk darüber nach – Virginia Dare, Kaiserin der Schattenreiche.«

»Das hat etwas«, gab Virginia leise zu. »Was soll ich tun?«

»Video et taceo.«

»Was soll das jetzt wieder heißen?«, fragte sie ungeduldig.

»Es ist das Motto einer Person, die ich einmal geliebt habe, und es bedeutet ›Ich sehe und schweige‹. Ich schlage vor, du nimmst dir den Rat zu Herzen. Sprich: Du hältst die Klappe, beobachtest alles genau und schweigst.«

Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
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