XLVI
Nur ein einziger Gedanke existierte noch in
Valerius’ Bewusstsein: Sein Traum hatte sich in einen Albtraum
verwandelt. Er trieb sein schwarz-weiß geschecktes Pferd gnadenlos
an, um dem Gemetzel zu entfliehen. Doch anders als in seinem Traum
war es Graine, die hinter ihm im Sattel saß und fest ihre Arme um
seine Taille geschlungen hatte, und nicht etwa Breaca. Letztere
nämlich lag auf dem Rücken des grauen Stutenfohlens, festgehalten
allein durch eine feste, aus ihrem eigenen Umhang geknüpfte
Schlinge, die sie an das Tier fesselte und so verhinderte, dass sie
hinabstürzte.
Ihre ganze Familie war bei ihr, eine Ehrengarde aus
Blutsverwandten und Brüdern und Schwestern im Geiste, darauf
eingeschworen, zur Not sogar ihr eigenes Leben zu lassen, um das
der Bodicea zu schützen. Links von ihr ritt Cunomar, und quer vor
diesem auf dem Sattel lag Stone; auf dem Höhepunkt der Schlacht,
als bloß noch die gellenden Befehle der Nachhut zu hören gewesen
waren, hatte Cunomar innegehalten, sich gebückt und jenen Hund vom
Boden emporgehoben, den seine Mutter so sehr liebte. Dicht hinter
Cunomar folgte Ulla. Auf der Schwertseite der Bodicea wiederum
ritten Hawk und Cygfa. Airmid, Bellos und Theophilus eilten in
einem dicht gedrängten Grüppchen hinterdrein.
Sie waren schnell und dennoch nicht so schnell wie
das Blut, das Breacas Körper verließ, und vielleicht noch nicht
einmal schnell genug, um dem halben Kavallerieflügel zu entkommen,
der zwar ebenfalls ermüdete, aber sie dennoch hartnäckig verfolgte.
Angeführt wurden die Kavalleristen von Sabinius, der selbst zu
jenen Zeiten, als Valerius noch Angehöriger der kaiserlichen
Kavallerie gewesen war, bereits als Standartenträger gedient hatte
und dem die Götter, genauso wie Civilis, eigentlich schon längst
den Ehrentod in der Schlacht hätten gönnen sollen. Wie ein
Besessener trieb er seine erschöpften Männer immer weiter voran,
wobei er ununterbrochen Corvus’ Namen brüllte.
Ardacos hatte bereits seinen Posten bezogen, hatte
einen Kreis in den Schmutz gezeichnet und sich genau in dessen
Mitte platziert, hatte sich den heranpreschenden Legionaren mitten
in den Weg gestellt. Und sein Eid band ihn daran, diesen Kreis nun
auch nicht mehr zu verlassen - bis der Tod ihn schließlich daraus
erlöste. Vor allem aber wollte Ardacos im Sterben so viele der
Feinde mit sich nehmen wie nur irgend möglich. Zumal ihm diese,
ebenso natürlich wie auch die Gefallenen aus seinen eigenen Reihen,
würdige Weggefährten sein würden auf dem langen Marsch durch die
Wälder in dem Land hinter dem Leben. Ein Marsch, an dessen Ende sie
alle von der Bärengöttin willkommen geheißen würden, jener Göttin,
in deren sicherer Obhut sie dann ruhen dürften und wieder jagen
würden und kämpfen und wieder ruhten und immer so fort, gesegnet
bis in alle Ewigkeit.
Doch Ardacos war nicht allein. Rund fünfzig seiner
Krieger, allesamt alte, von Narben übersäte Männer und Frauen, die
gut zwei Jahrzehnte lang im Zeichen der Bärengöttin für das
Wohlergehen ihres Volkes gekämpft hatten, zogen nun ebenfalls jeder
seinen eigenen Kreis in die Erde und gruppierten sich zu beiden
Seiten von Ardacos in der Linie des Bären. Hinter ihnen, in einer
zweiten Reihe, standen Scerros und die jüngeren Krieger, allesamt
Cunomars Gefolgsleute.
Und noch einer war da, einer, der sich erst vor
kurzem ihren Reihen angeschlossen hatte: Knife, der zwar nur vage
verstanden hatte, welches erhabene Ritual die Bärinnenkrieger da
gerade vollzogen, als sie ein jeder in ihren ganz persönlichen
Kreis eintraten, und der dennoch ohne zu zögern von seinem Pferd
gesprungen war und sich zu ihnen gesellt hatte. Hier, mitten auf
dem Schlachtfeld, legte er jenen besonderen Eid ab, mit dem er
seine Seele in die Gunst der Bärengöttin übergab, ein Ritual, das
normalerweise unter ganz anderen Umständen vollzogen wurde. Erst
zweimal in der Geschichte der Eceni war es vorgekommen, dass ein
Bärinnenkrieger diesen Schwur auf dem Kampfplatz ablegte; nun
geschah es ein drittes Mal.
Sie alle hatten sich der Bärin verschworen, und die
Bärin lebte in ihnen. Valerius hegte nicht den leisesten Zweifel,
dass ein jeder von ihnen für seinen Tod einen hohen Preis fordern
würde. Und dennoch war vorauszusehen, dass die Kavallerie letzten
Endes über diese Männer und Frauen siegen würde. Um für die
Flüchtenden noch etwas mehr zu gewinnen, als die Bärinnenkrieger
auf sich allein gestellt erringen könnten, hatte Longinus an den
Flanken dieser Reihe aus lebendigen Schilden zusätzlich die Reiter
von Mona postiert. Damit hatte er seinen Schwur, den er einst
Valerius gegeben hatte, gebrochen, denn nun in dem Chaos des
Rückzugs zu verharren, bedeutete, seinen Freund zu verlassen und zu
sterben. Keiner hatte daran noch einen Zweifel gehegt, selbst in
den kurzen, verzweifelten Augenblicken, als die fliehenden und die
auf dem Schlachtfeld verbleibenden Anhänger der Bodicea sich
voneinander trennten.
»Ich werde in der Obhut der Götter auf dich
warten«, hatte Longinus gesagt, »ganz gleich, wie lange dies auch
dauern mag. Bitte vergiss mich nicht, wenn du dort eines Tages auch
all die anderen triffst, die auf dich warten werden.«
Valerius hatte Longinus fest an sich gedrückt und
geküsst. »Ich werde dich schon nicht vergessen. In dem Land hinter
dem Leben kennt die Liebe keine Grenzen mehr. Ich werde zu dir
kommen, und dann haben wir Zeit, uns all das zu sagen, was nie
gesagt worden ist.«
»Es wäre wunderschön, das endlich zu hören.«
Anschließend hatten sie sich voneinander losgerissen, ein
schmerzvoller Abschied, der aber, wie sich später zeigte, nicht
einen einzigen Augenblick zu früh erfolgt war. Im Übrigen war auch
Huw zurückgeblieben, um Longinus zu unterstützen, und auch Madb und
all die anderen Reiter der Eceni und von der Insel Mona verharrten
auf dem Schlachtfeld - und nicht einer dieser Männer und Frauen
hatte sich angemessen von seinen Kameraden verabschieden können,
dazu blieb einfach nicht die Zeit. Denn schon schmetterten die
Trompeten, und die Zurückbleibenden sahen sich nun noch weitaus
mehr Feinden gegenüber als bloß den Überbleibseln der Quinta
Gallorum: Auch die letzten Kohorten der Zwanzigsten Legion kamen
nun herangeprescht, brachen aus dem Hinterhalt hervor, wo sie den
ganzen langen Tag nur darauf gewartet hatten, endlich auch ihren
ganz persönlichen Moment des Triumphes erleben zu dürfen.
Das Gemetzel glich einem riesigen Schlachtfest, und
die Flüchtlinge in ihren Wagenburgen glichen überschüssigem Vieh,
das darauf wartete, erlegt zu werden. Zwischen den Flüchtlingen und
hinter ihren Wagen wiederum befanden sich noch immer zahlreiche
Krieger. Diese blieben entweder ganz bewusst, um zu kämpfen, bis
sie schließlich niedergestochen wurden, oder aber sie rannten,
allein noch von ihren Instinkten getrieben, blindlings davon; die
meisten von ihnen starben aber sowieso, egal, für welche
Möglichkeit sie sich auch entschieden hatten.
Noch durfte man hoffen, dass Ardacos’
Bärinnenkrieger und die berittenen Krieger unter Longinus’ Befehl
besser ausgebildet waren und unter besseren Anführern kämpften als
die große Mehrheit der Krieger, und dennoch waren sie gegenüber den
Legionaren in der Minderheit, ein Umstand, der ihnen nicht gerade
zum Vorteil gereichte.
Sie alle ergaben sich dem Tod, in der Hoffnung,
dass dafür die Ehrengarde der Bodicea mit dem Leben davonkommen
möge. Es war wichtig, dies niemals zu vergessen. Valerius fuhr mit
der Hand über seinen schwarzen Umhang. Nass vom Schweiß und dem
Blut fremder Männer zog er seine Hand wieder fort, genauso wie auch
schon bei den unzähligen Malen, wenn er in den Nächten seinen
stetig wiederkehrenden Albtraum durchleben musste. Sein Pferd
sprang über einen umgestürzten Baumstamm hinweg. Jener Teil von
ihm, in dem sich die Jahrzehnte des Trainings verinnerlicht hatten,
wartete bereits darauf, nun aus dem Sattel zu stürzen, als das
Pferd wieder auf dem Boden aufsetzte. Und doch geschah nichts
dergleichen.
Airmid trieb ihr Pferd neben das Tier von Valerius.
Überall auf ihrem Umhang klebte Breacas Blut, und schorfdicke
Striemen überzogen ihr Gesicht. Sie sah furchterregender aus als
selbst der wildeste Bärinnenkrieger.
Über das Donnern der stampfenden Hufe hinweg rief
sie Valerius zu: »In dem Traum, den du als Kind hattest, war deine
linke Hand abgetrennt. Noch aber ist sie nicht verloren. Es scheint
also, dass du dich und damit auch deine Zukunft bereits so weit
geläutert hast, dass die Götter dir deine Hand doch nicht rauben
wollen. Dafür müssen wir wahrhaft dankbar sein.«
»Trotzdem würde ich lieber eine Hand verlieren als
Breaca«, erwiderte er ebenso laut.
»Aber diese Wahl liegt leider nicht bei uns. An
dem, was geschehen ist, können wir nichts mehr ändern. Wir können
nur noch dafür sorgen, dass Graine in Sicherheit ist, und Cygfa,
und das Kind, das sie zur Welt bringen wird. Kennst du hier
irgendeinen Ort, an den wir flüchten können, auf dass Breaca ihr
Ende wenigstens in Frieden erleben darf? Am besten wäre natürlich
ein Platz, der den Göttern geweiht ist, das heißt, falls es
überhaupt solch einen Ort gibt in jenen Bergen, in die wir nun
fliehen.«
Damit überreichte Airmid, die Dienerin Nemains,
Valerius, dem Diener Nemains und Mithras’, gleichsam den Schlüssel
zu jener letzten, noch nicht erforschten Facette seiner Seele, die
er zwar immer erahnt, doch noch niemals bei wachem Bewusstsein
erfahren hatte. Hastig blickte er sich nach einem ganz bestimmten,
ihm wohlvertrauten Berggipfel um und schätzte die Entfernung bis
dorthin ab.
»Ich kenne da eine Höhle... Wenn wir uns beeilen,
könnten wir es noch schaffen. Sie wurde vor einigen Jahren Mithras
geweiht, und davor wiederum verschiedenen anderen Göttern. Und sie
liegt ganz in der Nähe der Festung der Zwanzigsten Legion, aber die
ist ja mittlerweile verwaist. Paulinus hatte alle, selbst den
letzten Legionar und Diener, von dort abgezogen, um die Truppen zu
verstärken, die den Angriff auf Mona verüben sollten.«
»Und du meinst wirklich, dass du uns noch
rechtzeitig zu dieser Höhle bringen kannst?«
»Ja.« Sein Pferd war ausgeruhter als jedes der
Tiere ihrer Verfolger, und es war einst von keinem Geringeren als
Civilis persönlich ausgebildet worden, dem wohl größten
Pferdekenner seiner Zeit.
Valerius setzte all seinen Mut und die gesamte
Kraft seines Tieres daran, die ersten Hänge zu erstürmen, die
hinauf zu den Bergen führten. Das Hufgedonner hinter ihm verriet
ihm, dass seine Kameraden ihm folgten. Insgesamt waren sie zu
neunt, und einer von ihnen starb, und hinter sich ließen sie eine
Schlacht zurück, deren Ausgang den Niedergang einer ganzen Nation
verkündete.
Die Abenddämmerung senkte sich bereits über das
Land, als zwischen den Bäumen plötzlich ein Reiter und sein Pferd
hervortraten, gerade in dem Moment, als Valerius und sein Gefolge
den Fuß des Berges erklommen. Valerius riss sein Schwert empor,
setzte auf die nur verschwommen wahrnehmbare Gestalt an, ließ die
Waffe dann aber wieder sinken, während er missbilligend durch die
Zähne zischte.
»Du kommst zu spät«, sprach er. »Die Schlacht ist
schon vorbei.«
»Wäre die Schlacht der wesentliche Punkt gewesen,
dann, ja, dann wäre ich wohl in der Tat zu spät dran«, entgegnete
Valerius’ Vater, Luain mac Calma, Vorsitzender des Ältestenrats von
Mona. Er trieb seine Stute neben den Hengst mit den weißen Fesseln,
sodass diese nun Kopf an Kopf den schmalen Pfad erklommen. »Dein
Ziel ist wohl die Höhle des Stiergottes?«
»Nur, wenn du keinen besseren Vorschlag
hast.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Und, wirst du uns begleiten?« Valerius war selbst
überrascht darüber, wie sehr er sich wünschte, dass sein Vater bei
ihm sein möge.
»Nein, ich denke, nicht. Du schaffst das auch
allein. Ich werde hier warten und euch anschließend wieder
zurückführen - nach Mona. Die Insel ist vorerst wieder ein sicherer
Ort. Und sollte es dort irgendwann doch wieder zu gefährlich
werden, wird Hibernia die Überlebenden der Schlacht aufs
herzlichste willkommen heißen - es werden mehr Überlebende aus den
Kämpfen hervorgehen, als du befürchtest, und weniger, als du dir
erhoffst.«
Der Gedanke an noch mehr Tote war zu viel für
Valerius. »Dann heißt das also, dass Rom eines Tages auch Mona
einnehmen wird?«, fragte er.
»Ja, und vielleicht erobern sie auch Hibernia. Aber
das werden wir nicht mehr erleben und auch unsere Kinder nicht oder
die Kinder unserer Kinder. Und überhaupt bleibt bis dahin noch
genügend Zeit, um all das zu erschaffen, was erforderlich ist, um
sicherzustellen, dass die Linie eurer Familie auch diese Zeit noch
überdauern wird, jene Zeit, wenn die Nachkommen Roms Hibernia
erobern. Und nun geh. Breaca braucht dich. Du musst nun erst einmal
an sie denken und nicht an eine Zukunft, die sich so, wie ich sie
jetzt sehe, vielleicht ohnehin nie ereignen wird.«
Schwer lag die abendliche Dunkelheit über dem
Land, als die kleine Gruppe endlich, am Ende ihrer Kraft und auf
völlig verausgabten Pferden, Mithras’ Höhle erreichte. Die Götter
des Steins und des Wassers hatten den Ort längst verlassen.
Der Wasserfall vor der Höhle, um den sich die
üppigen Haselnussbüsche schlossen, war nurmehr ein dünnes Rinnsal -
es hatte in diesem Sommer viel zu wenig geregnet. Dafür war im
Winter ein Steinschlag vor der Höhle niedergegangen und versperrte
nun halb deren Eingang. In eine der Gesteinsspalten war ein Topf
mit Honig geschoben worden, und jemand anderer hatte dem Gott
Mithras ein kleines Spielzeugschwert, wie es für Kinder gefertigt
wurde, geopfert. Noch hatte sich kein Rost an dessen Klinge
eingenistet. Ansonsten konnte Valerius keinerlei Anzeichen dafür
erkennen, dass noch irgendjemand hier gewesen wäre, seit er in
einem wahren Zornesrausch den heuchlerischen Schmuck vor der
heiligen Höhle entfernt hatte.
Das Denken fiel ihm schwer, er war einfach zu
erschöpft. Schließlich erlaubte er seinem Hengst, endlich stehen zu
bleiben, und ließ sich zu Boden gleiten. Er konnte kaum noch
stehen, so schwach waren seine Beine. Auch das graue Stutenfohlen
hielt inne. Entspannt wie ein schlafendes Kind lag Breaca quer über
dem Hals des Tieres.
»Lebt sie noch?« Die Tatsache, dass jemand wie
Airmid diese Frage überhaupt stellen musste, machte sie damit nur
noch umso dringlicher.
»Ja.«
Damit verließ Valerius die kleine Gruppe und schob
mit seinen bloßen Händen Stein für Stein den größten Teil des
Geröllhaufens vor dem Eingang beiseite. Die ganze Zeit über, als
sie den Bergpass erklommen, hatte er schon an den engen, sich
windenden Tunnel gedacht, der den einzigen Zugang zur Höhle
bildete. Mal ganz zu schweigen davon, dass der Tunnel auf seinem
letzten Stückchen auch noch ziemlich steil zu der Höhle hin abfiel.
Rasch gesellten Cygfa, Cunomar und Hawk sich zu ihm und halfen ihm,
die Felsbrocken beiseitezuräumen. Theophilus füllte unterdessen die
Wasserschläuche mit frischem Flusswasser. Bellos und Airmid hatten
je einen Arm um Graine gelegt und wachten über die letzten, feinen
Fäden, die Stone noch ans Leben banden.
»Der Weg dort hinein ist schwierig, selbst wenn man
bei Bewusstsein ist und im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte.
Außerdem brauchen wir da drinnen Licht. Ich werde also als Erster
in die Höhle reinkriechen und im Inneren ein Feuer
entzünden.«
Doch er entzündete noch deutlich mehr als bloß ein
Feuer. In ihrer Hast, die Höhle und den Schrein zu verlassen,
hatten die Diener des Stiergottes einige Schilfrohrfackeln
zurückgelassen, die noch immer in ihren eisernen Wandhaltern
steckten, sowie eine Handvoll Honigwachskerzen und sogar ein
kleines Kohlebecken, in dem noch eine gute Portion alter Kohlen
lag, darunter eine kleine Dose mit Zunder.
Valerius entzündete sowohl die Kohlen als auch den
Zunder an der Glut in dem irdenen Topf, den Airmid ihm mitgegeben
hatte, und hockte sich dann nieder, um beides mit seinem Atem
anzufachen, bis die Flammen ihren flackernden, weiß glühenden
Zauber über den schmalen See des Gottes ergossen, welcher sich
längs der einen Höhlenwand erstreckte. Und selbst die sich hoch
über den See emporschwingende Decke und die Wände wurden noch vom
Licht des Feuers berührt; ein sanftes Glitzern überzog ihr auf ewig
vom Wasser benetztes Gestein.
Einst war Valerius wie geblendet gewesen von der
Schönheit des göttlichen Feuers, das sich hier, in der totalen
Finsternis der Höhle, über das Wasser erstreckte. Nun stand er
abermals an diesem Ort, umgeben von juwelengleichem Licht. Aber
sein Herz war nichts als eine weitere, pechschwarze Höhle. Eine
Höhle, in der sich bereits viel zu viel Angst eingenistet hatte,
als dass er nun noch die Schönheit seiner Umgebung würdigen konnte
oder sich gar an seine einstige Verzauberung erinnerte.
Erfüllt von jener Taubheit, die ein Mensch stets
dann verspürt, wenn er glaubt, das Wichtigste im Leben verloren zu
haben, bat Valerius sowohl Nemain als auch Mithras, an diesem Ort
zu verweilen, jenem Ort, der erst vor kurzem noch bloß einem dieser
beiden Götter gewidmet gewesen war. Einst war Mithras, gefolgt von
seinem Hund, geradewegs über das Wasser auf Valerius zugeschritten.
Nun zeigte sich Valerius keine derartige Vision, und dennoch
glaubte dieser, eine Art Willkommen zu erspüren, und nahm dieses
Gefühl mit hinaus zu jenen Menschen, die vor der Höhle auf ihn
warteten.
Der Weg durch den Tunnel war ohnehin schon mühsam,
wurde nun, da sie auch noch Breaca tragen mussten, aber geradezu
zur Qual. Zumal Breaca inzwischen sämtliche Wärme aus dem Körper
gewichen war und ihre Haut glitschig war von ihrem eigenen Schweiß.
Vorsichtig trugen sie sie an den Rand des Sees, dorthin, wo rot
glühend die Kohlen in dem kleinen metallenen Becken lagen und das
Wasser in eine riesige Lache frisch vergossenen Blutes zu
verwandeln schienen. Der rosige Schimmer, der sich durch die
Flammen über Breacas Haut breitete, verlieh ihr ein fast schon
wieder gesundes Aussehen, ganz so, als ob sie sich nach der
Schlacht einfach bloß zum Schlafen niedergelegt hätte und schon
bald wieder aufstehen würde, um weiterzukämpfen und dann
schließlich, endlich zu siegen.
Sie bereiteten ihr ein Lager aus zusammengelegten
Umhängen und falteten aus dem Schafsfell, das Graines Pony als
Satteldecke diente, ein Kopfkissen. Breaca sollte es warm und
gemütlich haben. Dann legten sie Stone dicht neben sie, der
immerhin noch genügend Leben in sich hatte, um ihr ein wenig Wärme
spenden zu können. Am Kopfende von Breacas Lagerstatt saß Airmid,
am Fußende Bellos, Valerius wachte auf der einen Seite von ihr und
Cygfa auf der anderen. Graine hatte sich neben das Kohlebecken
gehockt, schweigend und mit bleichem Gesicht. Hawk lauerte
unterdessen unmittelbar vor dem Höhleneingang, verließ diesen Platz
aber bald wieder, um Zeichen für Ardacos und Cunomar zu setzen,
falls diese die Schlacht unwahrscheinlicherweise doch noch überlebt
haben sollten und ihnen bis hierher folgen konnten.
Als Hawk zurückkehrte, war die Situation in der
Höhle noch die gleiche, nichts hatte sich geändert, außer dass aus
Breacas Wunde noch mehr Blut ausgetreten war und ihren blassblauen
Umhang durchtränkte. Ohne ein Wort zu sagen, nahm Hawk wieder
seinen Platz am Eingang der Höhle ein.
Dann blieb ihnen nichts mehr, als zu warten.
»Graine?«
Die Stimme war leise wie ein Seufzer, der auf einem
Windhauch dahinschwebte, und dennoch hatte Graine ihre Mutter
sofort erkannt. Niemand sonst schien diesen Seufzer gehört zu
haben, oder vielleicht waren die anderen auch bloß ein wenig klüger
als Graine und wussten, dass das Geräusch lediglich ein Produkt der
durch die Höhle streifenden Luft war. Womöglich aber hatten die
anderen ihre Sinne auch nur zu intensiv auf den bevorstehenden Tod
gerichtet, um nun Breacas Stimme wahrzunehmen.
Graine hatte nicht die leiseste Ahnung, welche
Anrufungen vonnöten waren, um jetzt genau jenen Beistand von den
Göttern zu erflehen, den Breaca brauchte. Darum hatte sie einfach
nur schweigend zugesehen, wie Airmid Nemain so nahe zu sich gebeten
hatte, dass sie beide nahezu miteinander verschmolzen. Und dennoch
floss noch keine einzige Träne über Airmids Gesicht. Bellos hielt
derweil so inbrünstig den Blick auf Briga gerichtet, als ob er
allein die Macht besäße, diese durch die Kraft seiner Gedanken noch
ein Weilchen von Breaca fernzuhalten. Valerius dagegen hatte keinen
seiner Götter angerufen, schien sich zu fürchten, dass dies an
diesem speziellen Ort als ein Sakrileg missverstanden werden
könnte. Vielleicht aber wollte er auch bloß deshalb noch nicht um
den Beistand seiner Götter bitten, weil er sich damit den nahen Tod
seiner Schwester endgültig hätte eingestehen müssen. Auch Hawk
hatte niemanden, weder Gott noch Geist, zu sich gebeten, sondern
flehte nur, dass, wer immer nun auch bei ihnen weilen mochte,
endlich ein Wunder vollbringen sollte. Und doch glaubte er nicht,
dass ihnen eine derartige Gnade noch gewährt würde.
»Graine!«
Diesmal war der Klang der Stimme schärfer und
lauter. Noch immer reagierte niemand außer Graine. Vorsichtig
berührte sie mit dem Handrücken das glühende Kohlebecken, um
sicherzugehen, dass sie auch ganz gewiss nicht träumte. Sofort
verbrannte ihr die Hitze die Haut. Graine fluchte. Und schon
bildete sich auch die unvermeidliche Blase auf ihrer Hand, obgleich
Graine bereits an dem verbrannten Fleisch zu saugen begann. Ohne
die Freunde und Verwandten, die sich rund um ihre Mutter
niedergelassen hatten, um Erlaubnis zu bitten, erhob sie sich
schließlich, nahm eine der Bienenwachskerzen mit sich und machte
sich auf die Suche nach der Stimme.
Langsam strebte sie geradewegs in die Dunkelheit
hinein, fort von der Blutlache, die aus dem Kohlebecken zu fließen
schien.
Am hinteren Ende der Höhle befand sich eine riesige
Felsspalte, in die hinein man einen Altar gemeißelt hatte. Bis
hierhin drang der Wind nicht mehr vor. Sie wandte sich von dem
Altar ab, blickte die nackte Felswand an und stellte fest, dass
dort eine Art dunkler Fleck zu schweben schien, ein Punkt, der das
Kerzenlicht regelrecht in sich aufsaugte und nichts davon
reflektierte.
Schließlich ertastete Graine sich den schmalen und
bis an die Decke reichenden Eingang zu der inneren Höhle. Seitlich
schob sie sich durch die Gesteinsspalte und fand sich dann in einer
Dunkelheit wieder, die so allumfassend war, dass sie beinahe hätte
glauben können, ganz ähnlich wie Bellos ebenfalls ihr Augenlicht
verloren zu haben. Nur dass Graine zumindest noch das flackernde
Licht ihrer Kerze erkennen konnte und damit auch ihren eigenen
Körper.
Plötzlich hauchte ein Windstoß die Kerze aus.
Breacas Tochter spürte einen leichten Druck an ihrer Seite, ein
Tasten und das Gefühl, durchaus willkommen zu sein.
»Graine. Komm.« Der Wind war sanft und
freundlich. Oder zumindest beschloss Graine, dies zu glauben. Mit
ausgestreckten Händen ging sie langsam voran.
Schließlich ertastete sie eine Wand und wandte sich
nach links, blieb mit der Schulter fest an den Felsen gepresst,
während sie immer weiter ging. Dann beschrieb die Wand abermals
einen Bogen, diesmal in die andere Richtung, wie die Krümmungen
einer Schlange. Langsam setzte Graine einen Fuß vor den anderen,
ganz zaghaft, für den Fall, dass der Boden plötzlich nach unten
absinken sollte.
Mit einem Mal sah sie ein Licht, ein graues,
federfeines Schimmern inmitten der totalen Finsternis. Ihre Augen
labten sich regelrecht an dem schwachen Schein, wie man sich wohl
auch an einem Sonnenaufgang gelabt hätte, der einen schon bald nach
Mitternacht wieder mit seinem Glanz überrascht hätte. Doch Graine
nahm auch die unzähligen, kleinen Einbuchtungen im Felsgestein wahr
und die Glätte des Bodens, ganz so, als ob schon Hunderte von Füßen
über Hunderte von Generationen hinweg genau diesen Pfad
entlangmarschiert wären.
Das Schimmern lockte Graine um eine weitere,
schlangenartig gewundene Kurve herum. Dann blieb sie abrupt
stehen.
Tröstend strich der sanfte Wind über ihr Gesicht.
Das graue Gestein hinter ihr bot ihr einen festen Halt. Vor ihr,
hoch oben in der Höhlendecke, ließ ein kleiner Spalt das letzte
Licht des Abends herein. Rechts und links dieses Spalts neigte die
Höhlendecke sich wie ein riesiger Spitzbogen immer tiefer hinab,
und der Fels war an diesen Seitenflügeln nicht grau, sondern von
der Farbe von spätwinterlichem Eis. Helle Streifen durchzogen das
Eis, überall klafften Risse, und es war ganz und gar nicht schön
anzusehen. Und dennoch waren die Ränder dieser Spalten scharf wie
Messerklingen, und wie Millionen von Facetten nahmen sie das
schwache Licht in sich auf, warfen es geradewegs wieder zurück und
auf den Boden und hinaus in die hoch aufragende Höhle und an die
gegenüberliegende Wand, auf dass der graue Fels sich in einen
monochromen Regenbogen verwandelte.
Endlich herrschte genügend Helligkeit, um das ganze
Ausmaß dieser weiteren Höhlenkammer erkennen zu können und um jenen
Platz zu finden, wo einst ein Feuer oder womöglich auch ganz viele
Feuer den ebenen Steinboden mit ihrer Glut verbrannt hatten und
Rauchschwaden die spröde Schönheit der Höhlendecke mit ihren
Streifen überzogen. Schließlich ertastete Graine so etwas wie eine
Bank, einen hohen Vorsprung im Fels, kletterte hinauf und stellte
fest, dass die Felswand sich um diesen Vorsprung herumwölbte wie
ein Baldachin um eine Art Bett. Dort entdeckte sie die Überreste
der Leiche. Einer Leiche, die bereits vor ewig langer Zeit dort
niedergelegt worden sein musste, denn alles Fleisch, das einst an
diesem Körper gesessen hatte, schien wie weggeschmolzen, die Haut
war an den Knochen festgetrocknet, und der Torques, der sich früher
so geschmeidig um den Hals dieses Menschen geschlossen hatte, war
schräg hinuntergerutscht und bog den dürren Hals zur Seite. Auch
das große Schwert, das schon so lange Wache gehalten hatte über
diesen Toten, hatte sich nach unten geneigt und lag nun eingebettet
zwischen den gebogenen Beckenknochen.
Dieser Anblick war nun endgültig zu viel für
Graine, an einem Tag, an dem es ohnehin bereits so viel Leid
auszuhalten galt wie an keinem anderen. Sie langte nach den
Endschlaufen des Torques, um ihn wieder gerade zu rücken und damit
die Leiche in etwas würdigerer Ruhe auf ihrer letzten Lagerstatt
liegen könnte.
»Graine?«
Diese Stimme entstammte ganz eindeutig nicht dem
Seufzen des Windes. Hastig drehte Graine sich um, beinahe so, als
ob man sie bei irgendetwas Verbotenem erwischt hätte. Dann hielt
sie abermals inne, stand abermals starr und wie festgewurzelt
einfach nur da.
Ihre Mutter war gekommen.
Graines Welt zerbrach in tausend Stücke, fügte sich
dann aber ebenso schnell wieder zu einem makellosen Bild zusammen.
Schwer sackte Breacas Tochter gegen den Stein zurück. In heißen
Wogen schlug die Erleichterung über ihr zusammen, ließ Graine
erzittern, ließ sie schwitzen, bis ein glitschiger Film ihre Haut
überzog und die Haarwurzeln an ihrem Schädel sich aufrichteten.
»Dann geht es dir also wieder besser«, entgegnete sie, doch ihre
Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Breaca breitete die Arme aus, und müde ließ Graine
sich hineinsinken. Endlich war alles wieder, wie es gewesen war,
ehe der Prokurator mit seinen Veteranen gekommen war und so
unendlich viel Leid über Graine und die ihren gebracht hatte. Hier
war endlich wieder ein Hafen der Wärme, der Behaglichkeit und der
Kraft, hier war er wieder, der Herzschlag einer Kriegerin, die so
stark war, dass sie es sogar mit Rom aufnehmen konnte, und die die
Legionen einfach wieder zurücktreiben würde in jenes Meer, aus dem
sie einst entstiegen waren. Eine Kriegerin, die das Land endlich
auf immer von der römischen Geißel befreite und es
zurückübereignete an seine Götter und sein Volk. Vor allem aber war
diese Frau wieder Breaca. Breaca, Tochter einer Frau mit dem Namen
Graine, die längst verstorben war; Breaca, Mutter eines Mädchens,
das ebenfalls den Namen Graine trug und das höchst lebendig
war.
Genau diese Breaca saß nun dicht neben jener
Stelle, wo einst die Flammen gelodert hatten, und man sah ihr an,
dass sie ein wenig erschöpft war. Andererseits aber wirkte sie
nicht erschöpfter als auch jeder andere, der den gesamten Tag über
in einer Schlacht hatte kämpfen müssen und der auch die
vorangegangenen beiden Nächte keinen rechten Schlaf mehr gefunden
hatte. Fest presste Breaca die Lippen auf Graines Scheitel und
hauchte ihren Atem darauf, bis sie alle Luft aus ihren Lungen
gemeinsam mit einer Empfindung vollkommener Wärme durch Graines
Schädeldecke gesandt hatte, bis selbst Graines Fußsohlen wohlig
warm wurden und ein angenehmer Schauer sie durchrieselte. Dann
langte Breacas Tochter hinauf, ergriff eine Handvoll fuchsroten
Haares, das noch immer ganz rau war von dem darin getrockneten
Schweiß. Vorsichtig kämmte sie mit den Fingern durch die zerzausten
Strähnen.
»Hast du schon den Halsreif gefunden?«, fragte ihre
Mutter. »Den in der kleinen steinernen Kammer?«
»Ja. Aber ich habe ihn nicht angefasst. Ich wollte
ihn gerade rücken, habe es dann aber doch nicht getan.«
»Das hättest du ruhig tun dürfen. Denn er ist
deiner. Du darfst ihn dir jetzt nehmen.«
»Aber...«
Keine Widerworte, Kind. Nicht jetzt. Dazu
haben wir nicht die Zeit.
Graine hob den Kopf. Vor sich sah sie die Ältere
Großmutter, streng und klug wie eh und je, und ihre Augen
leuchteten in dem seltsamen Licht der Höhle wie die Augen eines
Habichts. Dann lächelte sie auch noch, was stets ein besonders
unbehagliches Gefühl in Graine hervorrief.
Nimm den Reif. Du wirst ihn noch brauchen.
Den anderen kannst du einfach hierlassen.
»Den anderen...?« Graine konnte nur einen Torques
entdecken, und das war der ihrer Mutter. Sie starrte die Ältere
Großmutter an, die daraufhin noch ein wenig breiter grinste, ganz
so, als hätte sie gerade etwas ausgesprochen Cleveres vollbracht.
Aufmunternd nickte sie ihrer jungen Nachfahrin zu.
Und dann begriff Graine endlich, und die Welt war
alles andere als perfekt. Die Welt war zerborsten, ohne Hoffnung,
dass sie sich jemals wieder zusammenfügen würde.
Matt fiel sie rückwärts gegen die Felswand,
streckte den Arm aus nach ihrer Mutter, die bereits nur noch
schemenhaft zu erkennen war. »Ich bin noch nicht so weit«,
flüsterte Graine. »Ich bin noch zu jung. Damals, als du deine
langen Nächte der Einsamkeit durchlebtest und als während deiner
Abwesenheit die Ältere Großmutter starb - damals war die Ältere
Großmutter dir auf die gleiche Art und Weise erschienen wie auch
mir gerade eben. Nur... ich bin doch noch gar nicht so alt, wie du
damals warst. Du darfst mich nicht jetzt schon verlassen, du darfst
einfach nicht...«
»Ich weiß. Und es tut mir leid. Ich sollte wirklich
noch nicht gehen, es gibt noch viel zu viel zu tun, und trotzdem
darf ich nicht mehr bleiben. Alles, was ich nun noch tun kann, ist,
dir ein Geschenk zu hinterlassen. Und dieses Geschenk ist jener
Halsreif, der dort liegt. Willst du ihn bitte annehmen, jetzt,
solange ich noch hier bin?«
»Aber was ist denn mit deinem Halsreif? Und
was ist mit dem Schwert, das da in der steinernen Kammer auf den
Gebeinen liegt?«
»Das Schwert ist für Hawk im Austausch für die
Klinge von Eburovic - die muss nämlich hier bei mir bleiben. Das
verstehst du doch, oder? Ich muss hier ruhen, in der Höhle der
Ahnen, gemeinsam mit dem Bärenschwert und dem Torques der Eceni.
Gib Airmid Bescheid. Sie wird schon wissen, was zu tun ist.«
»Aber wie kannst du Airmid bloß verlassen? Sie
liebt dich doch.«
»Ja, es ist ungerecht, Licht meiner Seele, so
ungerecht...« Damit beugte Graines Mutter sich über ihre Tochter
und küsste sie noch einmal. Doch Breacas Atem reichte nicht mehr
bis zu Graines Scheitel hinab, geschweige denn bis ganz hinunter in
deren Fußsohlen. Sie klang traurig, aber wiederum auch nicht derart
verzweifelt, wie man es vielleicht hätte erwarten können. »Ich
werde auf sie warten, so wie wir alle aufeinander warten, drüben,
am anderen Ufer des Flusses. Und auch das weiß Airmid bereits. Und
natürlich warte ich auch auf dich und auf deine Kinder und die
Kinder deiner Kinder. Ich werde ihnen Kraft schenken bis ans Ende
dieser Welt, bis zum Tod der vier Winde. Sag ihnen das, wenn sie
aufwachsen, auf dass sie es niemals vergessen. Nun aber muss ich
gehen. Wirst du den Reif an dich nehmen? Bitte? Ich möchte gern
sehen, dass du ihn nimmst, ehe ich gehe.«
Hätte Graine der Zeit Einhalt gebieten können,
indem sie einfach nur dagestanden hätte, schweigend, ohne den Reif
zu berühren, so hätte sie wohl für den Rest ihres Lebens so
verharrt und wahrscheinlich sogar noch darüber hinaus. Doch sie
waren nicht mehr allein; schon waren noch andere hinzugekommen. Die
Träumerin der Ahnen war da, ebenso wie Macha, die einst das Bild
von Valerius in Graines Traum gesandt hatte, und auch Graines
Großvater war erschienen, jener Mann, dessen Schwert sie angefasst
und somit das Ende ihrer Mutter heraufbeschworen hatte, und
schließlich noch ein Mann, den Graine nicht kannte, der jedoch
leuchtend blondes Haar hatte und auf dessen Siegelring das Zeichen
des Sonnenhundes prangte. Dann, als Graine schließlich auch
Dubornos erblickte, flankiert von den Krähen Brigas, wusste sie,
dass sie nicht mehr länger warten durfte.
Der Halsreif der Ahnen war schmaler als der ihrer
Mutter, und durch das neunsträngige Goldgeflecht zogen sich neben
dem tiefen Rotgold der Silurer auch Fäden aus Weißgold. Der Reif
schmiegte sich um Graines Hals, als wäre er eigens für sie
angefertigt worden, und schwer legten die beiden Endstücke sich auf
ihre Schlüsselbeine. Langsam ließ Graine die Hände wieder sinken,
wartete darauf, dass die Welt wieder leer würde, so wie in jenem
Augenblick, als sie den Halsreif ihrer Mutter getragen hatte.
Doch nichts dergleichen geschah. Graine war
enttäuscht und überrascht zugleich. Dann spürte sie noch einmal die
sanfte Berührung der Lippen ihrer Mutter und ihren Atem, der
abermals vom Scheitel bis hinab in ihre Fußsohlen reichte. Das
Licht in der Höhle wurde immer wärmer, und die Geister, die in
diesem Licht schwebten, wurden immer deutlicher sichtbar. Kritisch
neigte die Ältere Großmutter den Kopf zur Seite und beäugte
Graine.
Für jemanden, der so begabt ist wie du, hast
du immer noch eine ganze Menge nicht kapiert. Du musst noch viel
lernen. Und fang besser gar nicht erst an zu glauben, du wüsstest
die Antwort bereits. Solltest du jemals dem Glauben verfallen, du
wüsstest Bescheid, dann wird der Hochmut dich töten.
Graine wollte entgegnen, dass es sie überhaupt
nicht interessierte, wer oder was sie tötete, wenn sie nur endlich
wieder bei ihrer Mutter sein dürfte, doch da hatte Breaca sich
schon vor sie gekniet, löste die silberne Feder von der Kordel um
ihren Hals und steckte sie an Graines Torques fest, hakte die Feder
einmal quer über beide Endstücke, sodass sie dazwischen geradezu zu
schweben schien. »Die Feder ist mein ganz persönliches Geschenk an
dich. Sie stammt weder von der Reihe unserer Ahnen noch von den
Göttern und auch nicht aus der Vergangenheit. Sag Airmid das. Sie
wird es dann schon geschehen machen.«
Damit trat Breaca wieder von Graine zurück. Die
anderen Geister waren längst verschwunden, mit Ausnahme von
Dubornos, der noch wartete, Seite an Seite mit dem Schatten eines
Gottes, nein, mit den Schatten aller Götter, die ebenfalls
warteten.
»Du solltest jetzt zurückkehren«, erklärte Breaca
Graine. »In dir liegt die Zukunft, alle Zukunft dieser Welt, ebenso
wie alle Vergangenheit. Allein dafür musst du leben. Und vergiss
niemals, dass ich dich liebe.« Dann war sie verschwunden.