XLII
Der Puls der Erde war ihr eigener Puls.
In der zunehmend heißer werdenden Sonne
beobachteten die Kriegsheere beider Seiten reglos und angespannt
Breacas Tun. Es bestand eine stille Übereinkunft darüber, dass sich
niemand eher in Bewegung setzen würde, bis Breaca getan hatte, was
sie tun musste; so viel Respekt zumindest waren die beiden
gegnerischen Armeen einander noch schuldig.
Zu Breacas Linker strömte ein kleiner Fluss dahin,
der sich schlangengleich noch weit über das Ende der Rippelmarke
hinauswand. In den tief herabhängenden Zweigen eines am Ufer des
Flüsschens wachsenden Haselnussbusches hockten störrische Krähen,
die sich partout nicht vertreiben lassen wollten, ganz gleich, wie
groß der Lärm auch sein mochte. Rechterhand davon fand Breaca
schließlich einen guten Platz, um mit ihrem Vorhaben zu beginnen,
fast direkt gegenüber dem römischen General. Dessen Hunde saßen im
Moment noch ganz ruhig da, zerrten noch nicht nervös an ihren
Leinen. Suetonius Paulinus bot einen prachtvollen Anblick, wie er
da, angetan mit seinem pechschwarzen Umhang und dem mit weißen
Federn geschmückten Helm, auf seinem fuchsroten Pferd saß.
Breaca hatte keine Ahnung, wie sie selbst aussah,
sie wusste nur, dass der Torques sich so warm um ihren Hals
schmiegte, als wäre er eine lebendige Schlange, und dass sie seinen
strahlenden Glanz in den Augen ihrer Tochter widergespiegelt sah.
Ihr eigener Hund, Stone, war verkrüppelt, was deutlich an seinem
Gang zu erkennen war. Dennoch war Stone in ihren Augen stattlicher
und edler als alles, was Rom jemals hervorgebracht hatte.
Im Schatten der Rippelmarke war der Boden noch
immer von Morgentau benetzt. Spinnweben, dicht besetzt mit
Tautropfen, spannten sich zwischen den einzelnen Grashalmen,
hauchfeine, wie mit winzigen, funkelnden Juwelen geschmückte Fäden.
Schwer bogen sich die Halme unter ihrer Last nach unten. Es schien
wahrlich ein Jammer, diese zarten Gebilde nun vorzeitig zu
zerstören, noch bevor das Kriegsheer hier entlangstürmen und sie
hinwegfegen würde. Vorsichtig trat Breaca also über die glitzernde
Schwelle hinweg und auf das freie Feld jenseits davon.
»Hast du die Häsin?«, fragte sie.
»Hier«, entgegnete Graine.
Auf der weiten Fläche, welche die beiden
feindlichen Armeen noch voneinander trennte, beugten die Bodicea
und ihre Tochter sich gemeinsam über Airmids Jagdtasche aus
Hirschleder. Dem Beutel entströmte ein schwacher Geruch nach
Wundkraut und Hanf und dem muffigwarmen Atem der Häsin.
Das Tier war geschmeidig und glatt und in
körperlich gutem Zustand, und es lag vollkommen ruhig da, ganz so,
als ob es zahm wäre. Graine ging in die Hocke und strich mit dem
Knöchel ihres Zeigefingers über den Rücken der Häsin, während sie
in sanftem Flüsterton auf sie einsprach.
»Kannst du ihr Lied hören?«, wollte Breaca wissen.
»In der Art, wie die Krieger den Kampfgesang ihrer Waffe hören
können?«
»Ich glaube schon. Ja, ich kann etwas hören.«
Graines Blick war auf irgendeinen unbestimmbaren Punkt in der Ferne
gerichtet, als ob sie Dinge beobachtete, die ihre Mutter nicht zu
sehen vermochte. »Sie ist trächtig. Du hattest gesagt, dass du
genau das wolltest, eine trächtige Häsin. Ich kann die ersten
Klänge der Lieder ihrer ungeborenen Jungen hören, aber sie sind
wirklich noch ziemlich klein. Sie ist also noch immer beweglich und
kann, wenn es sein muss, auch rennen.«
Es kam nur höchst selten vor, dass die Götter
Vollkommenheit gewährten. In diesem Fall jedoch kamen sie der
Perfektion äußerst nahe.
»Kann sie auch dich hören?«, fragte Breaca.
»Könntest du sie bitten, uns zu zeigen, wie wir vorgehen müssen, um
die Legionen anzugreifen und trotzdem heil und unbeschadet
davonzukommen?«
Eine einzelne Sorgenfalte zerfurchte Graines Stirn.
Ihre Augen waren groß und grau, ihr ernster Blick nun voll und ganz
auf ihre Mutter konzentriert. »Der römische General hat Hunde«,
erklärte sie. »Sie werden Jagd auf sie machen, sie hetzen, zwei
gegen einen, sodass sie nirgendwohin mehr fliehen kann. Sie wird
sterben.«
Einst, vor vielen Jahren, hatte es schon einmal
eine solche Hetzjagd gegeben. Damals war es zwar lediglich ein
einzelner Hund gewesen, der es auf einen jungen Hasen abgesehen
hatte. Dennoch hatte der Hase am Ende sein Leben lassen müssen.
Breaca war damals nicht zugegen gewesen, um das Schlimmste zu
verhindern, und hatte dies seitdem oftmals bereut.
Jetzt sagte sie: »Ich denke, sie wird überleben,
aber ganz sicher sein kann ich mir natürlich nicht. Falls sie aber
doch sterben sollte, wäre vielleicht immer noch Zeit genug, um das
Kriegsheer wieder zurückzuziehen und fortzuführen, ohne dass es zu
sinnlosem Blutvergießen kommt. Bei einem so starken und eindeutigen
Omen wären die Krieger sicherlich bereit, den Rückzug anzutreten.
Zumal die Chance besteht, dass die Legionen es dann nicht wagen
würden, uns zu verfolgen, in der Annahme, dass unser
vermeintliches
Rückzugsmanöver bloß eine List ist, um sie aus der
Sicherheit ihres Tals zu locken.«
Nun ging Breaca ebenfalls in die Hocke und sprach
zu den gelben Augen des Hasen und durch dessen Augen wiederum zu
ihrer Tochter. »Können wir dieses Risiko eingehen, sie und ich? Du
und ich? Wäre die Häsin bereit, im Namen all dessen, worauf wir
hingewirkt haben, ihr Leben zu opfern, so wie Dubornos es getan
hat? Wenn nicht, können wir sie zurückbringen und irgendwo hinter
dem Kriegsheer wieder freilassen, weit fort von Paulinus und seinen
Hunden. Airmid wird wissen, wo die beste Stelle dafür ist.«
Graine war die Tochter der Bodicea. Die
Notwendigkeit, Rom zu bekämpfen, hatte ihr Leben vom allerersten
Tag an stärker geprägt als alles andere. Daher war es völlig
ausgeschlossen, dass Graine diesem lebenswichtigen Gebot nun
plötzlich keine allerhöchste Priorität mehr einräumen würde, auch
wenn sie die Hasenjagd noch so sehr verabscheute. Sie biss sich auf
die Unterlippe und schloss die Augen, die Stirn nachdenklich in
Falten gelegt. Schließlich sprach sie: »Du musst sie zum Mond
emporhalten.«
In diesem Moment sah Graine aus wie Airmid oder
Valerius, wenn diese träumten. Und dieser Anblick reichte Breaca,
um darauf zu vertrauen, dass das Glück der Götter mit ihnen war.
Luain mac Calma ist davon überzeugt, dass sie der wilde, der
springende Stein in jenem Spiel ist, das wir den Kriegertanz
nennen.
»Tu du das«, entgegnete Breaca. »Ich werde
unterdessen Stone festhalten.«
Der Mond war im Schwinden begriffen. Mit jedem
Herzschlag, mit jeder Sekunde, die der neue Tag an Kraft gewann,
verblasste er etwas mehr. Zwar war er der Sonne nun näher als
während jener Zeremonie, bei der Dubornos sein Leben geopfert
hatte, war kleiner und schmaler und blasser als an jenem noch gar
nicht so lange zurückliegenden Morgen. Dennoch stand er noch immer
oben am Himmel - Nemain, die über ihr Volk wachte.
Graine wandte sich um und ging ein kleines Stück
vorwärts, sodass sie von beiden gegnerischen Parteien deutlich
gesehen werden konnte. Ruhig und gelassen lag der Hase auf ihren
ausgestreckten Händen. Graine hob das Tier in die Höhe, der blassen
Sichel am Himmel entgegen, in einer Geste, als wolle sie es von der
Göttin segnen lassen. Dann drehte sie sich um und sprach klar und
deutlich zu der Häsin, setzte sie auf dem Boden ab und trat einige
Schritte zurück.
»Airmid sagt, die Häsin ist trächtig«, erklärte
Cygfa. »Wusstest du das?«
Valerius wusste dies durchaus, aber nicht etwa
deshalb, weil Airmid es ihm gesagt hatte. Seit er an diesem Morgen
aufgewacht war, war er mit einem wesentlichen Teil seines
Bewusstseins bei Graine, dem Hasen und den feinen Fäden gewesen,
welche diese beiden miteinander verbanden und zugleich mit dem Mond
verknüpften. Er selbst hatte Nemains Flüstern nie sonderlich laut
wahrgenommen, und es gab Zeiten, da konnte er es so gut wie
überhaupt nicht hören. Jetzt jedoch war es ein einzelner, stetig
gleich bleibender Ton, ähnlich wie eine in tiefster Dunkelheit
wahrgenommene Flamme, die den Rest der Welt zu Nebel verschwimmen
ließ.
Cygfa hätte nicht so nahe neben ihm stehen dürfen,
dass sie sich mit ihm unterhalten konnte - eine Erkenntnis, die
Valerius jedoch nur langsam und auch nur verschwommen bewusst
wurde. Ohne den Blick von Graine oder der Häsin abzuwenden,
erwiderte er: »Du kannst nicht an meiner Seite in den Kampf reiten.
Darüber waren wir uns doch schon einig gewesen.«
»Das stimmt nicht. Du hast gesagt, dass wir nicht
Seite an Seite in den Kampf reiten dürfen. Und ich habe dem zwar
nicht widersprochen, aber auch nicht zugestimmt. Genauso wenig, wie
ich Longinus zugestimmt habe. Aber da wusste ich ja auch noch
nichts über den Hasen. Valerius, die Häsin ist
trächtig.«
»Das bedeutet noch lange nicht, dass auch du
überall dorthin gehen kannst, wo sie hingeht, oder das Gleiche tun
kannst, was sie...«
Er brach ab, unfähig, sich noch länger auf das
Streitgespräch zu konzentrieren. Denn in diesem Moment nahm die
Häsin ihn wahr, genauso, wie er sie wahrnahm. Sie richtete sich auf
den Hinterbeinen auf und sog prüfend die Luft durch die Nase.
Nemain reckte sich durch ihn hindurch, angestrengt darum bemüht,
die Häsin zu erreichen. Doch ein zu großer Teil seiner selbst stand
dem im Wege, gefangen in dem Wirrwarr, den die Verantwortung und
die Sorge in seinem Kopf erzeugt hatten.
Er schaffte es nicht, versuchte es noch einmal und
spürte, wie andere sich ihm in seinem Bestreben, zu dem Hasen
vorzudringen, anzuschließen suchten. Zum einen war da Airmid, das
erkannte Valerius an ihrer engen Verbundenheit mit Breaca, deren
Seele in ihrem Herzen lebte. Zum anderen Efnís. Das erkannte er
anhand des riesigen Chores von Mona, den Klängen der Insel, die
sich dicht an seinen, Valerius’, Geist herantasteten. Bellos
hingegen erkannte er allein schon an dessen tiefer Resonanz.
Doch keiner von ihnen berührte Valerius wirklich,
und keiner von ihnen konnte das Kind oder den Hasen erreichen,
außer durch ihn, Valerius. Warum das so war, das wusste er nicht;
vielleicht hing es damit zusammen, dass er Graine am nächsten stand
oder dass er mit ihr verwandt war, ganz gleich, wie entfernt diese
Verwandtschaft auch sein mochte. Doch wie dem auch sei, so verriet
ihm doch nichts von alledem, wie er zu Graine vordringen könnte. Er
wusste nur, dass er es irgendwie schaffen musste.
Cygfa war noch immer an seiner Seite. Longinus
hatte sich unterdessen an Valerius’ andere Seite begeben, und
sowohl Cygfa als auch Longinus hätten sich in diesem Moment
eigentlich auf der linken Seite der Kampflinien befinden sollen,
dort, wo sie nicht unmittelbar in Gefahr waren, sondern ein gutes
Stück entfernt von dem Kavalleriekeil, den Valerius so sorgfältig
auf der Rechten formiert hatte.
Unmittelbar hinter ihm warteten Civilis und dessen
Bataver. Sie bildeten den eisenharten Kern dieses Angriffskeils,
unterstützt durch Madb und Huw und dreihundert handverlesene
Krieger von Mona, welche die Flanken bildeten. Sie alle hatten
gemeinsam mit Valerius in dem Sturmangriff gegen die Neunte Legion
gekämpft oder aber auf Mona und in den Gefechten, die sie seitdem
noch zu bestehen hatten. Sie vertrauten ihm also ebenso
vorbehaltlos, wie er ihnen vertraute, und sie alle wussten nur
allzu gut, wie viel von dem Erfolg ihres Angriffs abhing.
Longinus und Cygfa vertrauten ihm natürlich
mindestens ebenso sehr, wenn nicht sogar noch mehr, aber sie waren
zu wertvoll, als dass Valerius es gewagt hätte, sie in seinem
Angriffskeil agieren zu lassen und somit frühzeitig ihr Leben aufs
Spiel zu setzen. Er wollte beiden sagen, dass sie gehen sollten,
zurück auf ihren ursprünglichen Platz, und konnte doch nicht die
richtigen Worte finden.
»Du kannst uns jetzt nicht mehr zurückschicken«,
sagte Longinus. »Freu dich also einfach darüber, dass wir hier
sind, und tu endlich mit dem Hasen, was du tun musst. Das ist jetzt
wichtiger als alles andere.«
Die Häsin war jetzt tatsächlich wichtiger als alles
andere. Sie rannte nun querfeldein, und die Hunde waren von der
Leine gelassen worden. Valerius spürte den Beginn ihrer
Unschlüssigkeit, und er wurde regelrecht verzehrt von dem
drängenden Bedürfnis, das trächtige Tier zu erreichen. Da er aber
weder die Zeit hatte, noch den notwendigen Willen aufbringen
konnte, um sich mit Longinus zu streiten, schloss Valerius also die
Augen und scharte im Geiste alle diejenigen um sich, die er zuvor
schon zu erreichen versucht hatte, und tat alles, was er nur irgend
konnte, um zu dem Kind vorzudringen und somit auch zu dem Tier auf
der Ebene.
In der Vergangenheit hatte Graine einmal eine
gnadenlose Hetzjagd miterlebt - eine Jagd, bei der der Hase in
seiner großen Not schließlich Schutz suchend zu ihr gekommen war
und sie ihn schmählich im Stich gelassen hatte. Selbst wenn
sämtliche anderen Albträume, die Graine regelmäßig heimzusuchen
pflegten, ausnahmsweise einmal schwiegen, dann verfolgte sie aber
immer noch die Erinnerung an jene Jagd. Eine Erinnerung, die mehr
war als ein Traum und weniger als das tatsächliche Erleben.
Jede winzige Einzelheit dieser Jagd kam Graine nun
wieder überaus deutlich und lebhaft zu Bewusstsein, während sie
allein mitten auf der Ebene stand. Vor ihrem geistigen Auge sah sie
wieder das klare, helle Licht des Tagesanbruchs auf Mona; sah die
Art, wie der Hase ruckartig den Kopf gehoben hatte, als ihm der
Wind die fremde Witterung zutrug; spürte wieder ihre eigene
unachtsame Bewegung, die Stone, damals in der Blüte seiner Jahre,
vorwärtsstürmen ließ, um den Hasen zu jagen und zu hetzen und immer
wieder in die Enge zu treiben, bis das Tier in seiner Hilflosigkeit
und Verzweiflung, sein Leben zu retten, schließlich irgendwann
kehrtgemacht hatte und zu ihr, Graine, zurückgerannt war und sie es
dennoch nicht geschafft hatte, das Tier zu retten.
Nun dagegen war sie keineswegs machtlos. Es war
bloß so, dass sie nicht so recht wusste, was sie jetzt eigentlich
tun sollte, außer das Wispern des Hasenliedes in ihrem Bewusstsein
zu bewahren, während dieser neue Hase bereits ziellos
vorwärtshoppelte, ja sogar mitunter einfach seelenruhig innehielt,
um auf der breiten Ebene zwischen den beiden feindlichen Armeen zu
grasen.
Das Heer der Krieger der Bodicea erkannte als
Erstes, was Graine nun bezweckte - noch eher, als die Legionen
Graines Absicht durchschauten. So schnell wie der Wind ging ein
Befehl durch die Reihen der Krieger. Der Feind begriff erst später
und von ihm wiederum auch nur einzelne Männer. Einzeln oder zu
zweit begannen sie nun, mit den Knäufen ihrer Schwerter auf ihre
Schilde zu trommeln. Nach und nach nahmen auch die anderen diesen
Rhythmus auf, Mann für Mann, Reihe für Reihe, in der Hoffnung, dass
der Donner den Hasen wieder zurücktreiben würde - Omen eines
feigen, erbärmlichen Rückzugs.
Das Tier erstarrte, richtete sich auf den
Hinterläufen auf und begutachtete die Quelle des Lärms.
Gegenüber, auf der anderen Seite der Ebene,
entdeckten auch die beiden Jagdhunde des Gouverneurs endlich die
Häsin und zerrten voller Jagdeifer an ihren Leinen. Der
atrebatische Hundeführer wickelte sich die Leinen mehrmals um seine
Handgelenke und lehnte sich zurück, um sich mit aller Macht gegen
eine zweifache Zugkraft zu stemmen, die ihn bereits von den Füßen
zu reißen drohte.
Die Hunde bellten regelrecht melodisch, ihre
Stimmen nur um einen Halbton verschieden. Ihr Haarkleid hatte den
bläulichen Schimmer von frisch geschmiedetem Eisen, ihre Köpfe
waren so schmal wie der einer Schlange, ihr Fell glatt und
glänzend, die Ohren in ihrer hysterischen Bellerei flach an den
Kopf gelegt, die Schwänze lang und dünn, ähnlich einer
Peitschenschnur. Wie ungezogene Fohlen bäumten sie sich auf den
Hinterbeinen auf, und der Verräter vom Stamme der Atrebater hielt
sie mit der Kraft der Verzweiflung fest, denn ihm drohte die
Todesstrafe, falls sie sich zu früh losrissen.
Die Häsin fuhr herum und blickte Graine an, die
noch immer nicht wusste, was sie tun sollte. Früher einmal hatte
sie einen Hund auf einen Hasen gehetzt. Niemals in ihrem Leben
hätte sie sich vorstellen können, dass sie einmal einen Hasen auf
zwei Hunde hetzen würde. Jetzt aber tat sie genau das und
schleuderte ihre eigene Hoffnung und die Sehnsucht nach dem Sieg
über den hauchdünnen Faden des Hasenliedes mitten in dessen
Bewusstsein.
Selbst wenn sie nun einen Speer geworfen hätte, so
hätte dieser nicht derart unbeirrbar und pfeilschnell und
schnurgerade auf den Feind zusausen können. Hastig erteilte der
Gouverneur beim Anblick des rennenden Hasen seinen Befehl. Der
Hundeführer löste die Leinen, und schnell wie Schleudersteine
schossen die beiden Hunde auf den über die Ebene flitzenden Hasen
zu.
Angespanntes Schweigen breitete sich aus. Nun, da
die Hunde von der Leine gelassen waren, wagte es kein Einziger
unter den Legionen mehr, noch mit seinem Schwert auf seinen Schild
zu trommeln, aus Furcht, die Tiere dadurch abzulenken.
Der Atrebater hatte die beiden Hunde bewusst genau
gleichzeitig ausgeschickt, sodass sie gemeinsam davonrasten, zwei
schlanke, bläulich schimmernde Geschöpfe, Seite an Seite, ihr
Gebell jetzt verstummt in ihrer zielstrebigen Entschlossenheit. Sie
hielten eine Mannbreite Abstand voneinander und rasten
schnurstracks auf die Häsin zu, bereit, sofort umzukehren, falls
diese kehrtmachte, und sie zwischen sich immer wieder vom einen zum
anderen zu hetzen, so lange, bis die Kräfte der Häsin diese
schließlich verließen und sie verloren war. Nur die Römer setzten
bei der Jagd jeweils zwei Hunde auf einen Hasen an. Die Stämme
dagegen hielten es für verwerflich, mehr als einen Hund seine
Kräfte mit Nemains Geschöpf messen zu lassen.
Noch bevor sie ihr Opfer erreicht hatten, trat die
Katastrophe ein. Graine fühlte die Woge von Panik, als die Häsin
die beiden Jagdhunde erblickte und unwillkürlich langsamer wurde
und plötzlich nicht mehr wusste, in welche Richtung sie sich wenden
sollte. Graine versuchte, das Tier zu erreichen, und konnte es doch
nicht. Der singende Faden, der sie und die Häsin miteinander
verband, wurde überschwemmt von der nackten, panischen, blinden
Angst des Tieres. Und schlimmer noch: Diese Angst drohte, nun auch
auf sie, Graine, überzugreifen, eine mit messerscharfen Reißzähnen
bewehrte, keuchend auf sie zustürmende Vernichtung, die so schnell
kam, so unausweichlich und so …
»Lass dich bloß nicht von ihr in Mitleidenschaft
ziehen.« Links von Graine stand Breaca, rechts Stone. Gemeinsam und
mit vereinten Kräften hielten die beiden Graine aufrecht. »Graine.
Gibt es sonst noch irgendjemanden, der helfen kann?«
In dem Moment fühlte sie es plötzlich, irgendwo
jenseits des ohrenbetäubenden Gebells der Hunde und der
nervenzermürbenden Angst: Valerius war dort und mit ihm noch eine
ganze Reihe anderer. Letztere konnte Graine allerdings nur noch
verschwommen erkennen. Als ob sie über eine zerstörte Brücke
hinwegzulangen versuchte, reckte Graine sich nun nach Valerius und
nach Nemain, die hinter diesem stand. Und Valerius, der das
verzweifelte Streben seiner Nichte wahrnahm, streckte sich wiederum
ihr entgegen.
Beide reckten und streckten sich mit aller Kraft
und schafften es doch nicht, miteinander in Berührung zu kommen,
einander zu erreichen.
Die Häsin schwankte, geriet ins Straucheln. Die
Hunde sahen dies und rannten nur noch schneller.
Oben auf der Kuppe des Hügelgrates griff Cygfa mit
einem Mal nach Valerius’ Hand.
Im tiefsten Inneren seines Herzens, dort, wo nach
wie vor nur Corvus lebte, vernahm Valerius, der früher einmal Bán
gewesen war, plötzlich eine fragende Stimme... das, was du für
Mithras bist. Und jetzt, so glaube ich, auch für Nemain?
Der Stiermörder stand auf der Schwelle seines
Bewusstseins, sicher auf Abstand gehalten von Valerius’ Verlangen,
allein Nemain treu zu sein. Dem Stiermörder dicht auf den Fersen
lief ein Hund, und eine Schlange trank das Blut des sterbenden
Stieres.
Valerius sah den Mond am Himmel aufsteigen, einen
Stier auf seinen Hörnern tragend, er sah einen Bullen am Tor
stehen, seine Augen vom Licht des Mondes erfüllt, und plötzlich -
spät, aber noch nicht zu spät - begriff er. Von einer Woge der
Erleichterung durchströmt, öffnete Valerius die letzten Tore zu
seiner Seele, um den Gesang beider Götter gleichermaßen durch sich
hindurchbranden zu lassen und um ihn so schließlich ungehindert zu
dem Kind und somit auch zu dem Tier auf der Ebene
weiterzuleiten.
Es war so schnell vorbei.
Schnurgerade, pfeilschnell und gottbefohlen rannte
die Häsin zwischen den beiden Hunden des Gouverneurs hindurch.
Diese waren das Beste, was man für römisches Gold kaufen konnte:
Beide Tiere reagierten blitzschnell, machten auf der Stelle eine
enge Kehrtwende, flitzten in einem perfekten Bogen in die
entgegengesetzte Richtung zurück, trafen sich auf der Mittellinie,
dort, wo gerade eben noch die Häsin gewesen war - und prallten
dabei mit einer solchen Wucht zusammen, dass der eine Hund gellend
aufheulte und der andere so stumm wie ein geschlachtetes Schaf zur
Seite sank, um reglos und mit gebrochenem Genick im Gras liegen zu
bleiben.
Die Häsin aber rannte unbeirrbar geradewegs durch
die römischen Reihen, raste zwischen unzähligen Römerbeinen
hindurch zu den Überresten des dahinterliegenden Legionslagers, und
nicht einer von all denen, die sich hastig nach ihr bückten,
schaffte es, sie einzufangen.
Sie war in die Freiheit hinter den römischen Linien
entkommen.
Angespannte Stille senkte sich über das
Legionsheer. Nur ein einzelnes Pferd stampfte mit den Hufen, um die
lästigen Fliegen zu vertreiben. Sein Geschirr klirrte leise.
Unbeholfen tastete Breaca nach der Hand ihrer Tochter. Endlich
wagte auch Graine es, wieder aufzublicken, und stellte fest, dass
sie recht gehabt hatte mit ihrer Annahme, dass ihre Mutter
weine.
»Du solltest jetzt gehen«, sagte die Bodicea. »Nimm
Stone mit, damit er dich beschützen kann und du wiederum ihn.
Airmid wird sich um euch beide kümmern. Wenn die Schlacht zu Ende
ist, treffen wir uns wieder.«
Sie küsste ihre Tochter liebevoll in Gegenwart
beider Armeen. Dann wandte Graine sich zum Gehen. Hawk war da,
brachte den schwarzen Junghengst mit den weißen Fesseln herbei, den
Cygfa der Bodicea anlässlich der bevorstehenden Schlacht zum
Geschenk gemacht hatte.
Graine marschierte mit ihrem verkrüppelten
Kampfhund den Abhang der Rippelmarke hinauf, und schweigend teilte
sich das Kriegsheer, um sie hindurchzulassen. Genauso, wie sie es
mit Airmid zu halten pflegte, mit Cygfa und Valerius, mit Cunomar
und Hawk und Ardacos, genauso, wie sie es damals, vor langer Zeit,
mit Caradoc gehalten hatte, so sagte ihre Mutter auch ihr, Graine,
vor einer Schlacht niemals Auf Wiedersehen. Niemals. Weil es
Unglück brachte.
Schreiend stürmte die erste Angriffswelle der
Krieger über jene Stelle hinweg, an der sie gerade eben noch mit
ihrer Mutter gestanden hatte.