XIV

Träge balancierte Cunomar das Messer, das seine Mutter ihm einst geschenkt hatte, auf der Fingerkuppe seines rechten Zeigefingers und beobachtete, wie die roten Funken, die sich in der Klinge spiegelten, eine zunehmend dunklere Tönung annahmen.
Ein lauer Abendwind wehte aus südwestlicher Richtung heran und hob sanft die glühenden Aschestäubchen in den Himmel empor - in dem römischen Nachtlager waren exakt fünfzig Feuerstellen errichtet worden. Das Rauschen des Windes überlagerte und verzerrte das Gemurmel der Legionare. Die Männer erzählten sich, wie sie den Tag erlebt hatten, und Latein vermischte sich mit den Dialekten der germanischen Stämme. Hin und wieder hörte man das charakteristische Klirren von Schwert auf Schild, wenn zwei Wachen sich während ihrer unaufhörlichen Rundgänge durch das Lager begegneten und einander anriefen. Wie ein massiger Schatten ragte der Pavillon des Legaten inmitten der funkensprühenden Ansammlung von Feuerstellen auf, ja, schien die Lagerfeuer hinter sich sogar geradezu zu verschlucken.
Die Gräben, die Valerius vormarkiert hatte und die die Bataver anschließend ausgehoben hatten, rahmten das Lager wie ein schwarzer Gürtel ein, und es war nur schwer abzuschätzen, wie breit diese Aushübe eigentlich waren. Für jene, die verborgen am Waldesrand die Anlage studierten, waren also nicht etwa die Gräben selbst, sondern die angespitzten und kreuzweise miteinander verschränkten Pfähle das Erkennungszeichen für die Begrenzungslinie des Nachtlagers. Sie zeigten an, wo die Innenseite der Schutzgräben verlief, und dienten zudem als letztes, provisorisches Bollwerk für jene Narren unter den Wilden, die es doch tatsächlich immer wieder einmal wagten, die exkrementgefüllten Gräben der Legionarslager zu durchwaten. Sobald die Nacht hereinbrach, pflegten die Römer nämlich als zusätzliche Abschreckung die Eimer mit ihren körperlichen Ausscheidungen in diese Gräben zu kippen.
Und das Loblied, das den bereits lange zurückliegenden Überfall der Bärinnenkrieger auf eines der römischen Feldlager beschrieb, ließ sich leider auch nicht näher darüber aus, auf welche Weise die Krieger damals eigentlich die Wallanlagen des Lagers überwunden hatten. Im Übrigen war es keine Geringere als die Bodicea höchstpersönlich gewesen, die zu jener Zeit mit Hilfe von Airmid, der Träumerin von Nemain, und begleitet von Ardacos, dem Vater der westlichen Bärinnenkrieger, in das römische Lager eingedrungen war und dort durch die Macht ihrer Träume den Tod des damaligen Gouverneurs herbeigeführt hatte.
Cunomar war zu jener Zeit noch ein Gefangener Roms gewesen, und in den Jahren seit seiner Rückkehr hatte er erst zweimal belauschen können, wie seine Mutter von diesem Ereignis erzählte. Und das wenige, was sie berichtet hatte, hatte auch kaum irgendeine Ähnlichkeit mit den Schilderungen in den Liedern seines Stammes aufgewiesen. Doch nach einigen geschickten Fragen an Ardacos und Airmid war Cunomar schließlich zu der Überzeugung gelangt, ein zumindest einigermaßen zusammenhängendes Bild von dem bekommen zu haben, was sich in jener Nacht tatsächlich ereignet hatte. Ob er dieses Meisterstück an Taktik jedoch auch selbst würde bewerkstelligen können, das war eine gänzlich andere Frage. Allerdings schätzte die Bärin, seine Schutzgöttin, noch vor allen anderen Tugenden die Tapferkeit. Zudem waren von Cunomars Bärinnenkriegern ganze achtunddreißig noch am Leben, sodass ihm deutlich mehr Mitstreiter zur Seite ständen als die acht Krieger, die damals seine Mutter begleitet hatten.
Im nordwestlichen Teil des Lagers wurde nun erst ein Lagerfeuer mit Sand überschüttet und dann, gleich daneben, noch ein zweites. Aus der Dunkelheit ertönte linkerhand von Cunomar Ullas Stimme: »Die Feuerstellen werden nun in immer kürzeren Abständen gelöscht. Es brennen nur noch halb so viele Lagerfeuer wie bei Einbruch der Dämmerung.«
»Wir warten, bis nur noch genau dreißig Feuer brennen. Dann greifen wir an. Bei mehr Feuern besteht die Gefahr, dass man uns sieht. Und weniger als dreißig Feuer wird man in einem solchen Lager wiederum auch nicht vorfinden, so viel habe ich immerhin schon über die Römer gelernt - auch wenn in dem Lied von dem Überfall der Bodicea auf das römische Nachtlager immer von absoluter Dunkelheit die Rede ist. Hab schließlich auch selbst schon so manches Lager in den westlichen Bergen bespitzelt.«
Ein weiteres Feuer wurde erstickt. Finsternis breitete sich aus. Sämtliche Bärinnenkrieger, die die Schlacht vom Nachmittag überlebt hatten, hatten sich nun um Cunomar versammelt und nahmen schweigend etwas Wasser zu sich. Ihre Körper glühten geradezu, strahlten die sich unter dicken Schichten von Schweiß und Bärenfett gebildete Hitze in die Nacht ab. Ein warmer Wind trieb den von ihnen aufsteigenden Gestank zurück in den Wald und fort vom Lager der Legionssoldaten.
Im Inneren des Feldlagers, dicht hinter der provisorischen Umzäunung, verglühten eines nach dem anderen noch sechs weitere Lagerfeuer, ganz so, als ob ein ferner Gott sie mit seinem Atem ausgehaucht hätte. Nervös ließ Cunomar sein Messer in die Luft emporwirbeln und fing es dann mit einer knappen, doch geschickten Handbewegung wieder auf. Seine Eingeweide schienen sich vor Erregung geradezu verflüssigt zu haben, doch im Grunde nahm er sie schon nicht mehr wirklich wahr. Auch dort, wo einst sein eines Ohr gesessen hatte, versiegte plötzlich der Schmerz. Leise rückte er die Füße ein wenig auseinander und ließ behutsam die Schultern kreisen, um damit die Anspannung wieder etwas zu vertreiben. Behutsam, doch rhythmisch stampfte er mit den Fersen in die Erde, und der Boden schien ihm mit wohltuendem Vibrieren zu antworten. Ein sanftes Schaukeln durchwogte seinen Körper, Cunomar wankte vor und zurück. Dann, als er seinen inneren Mittelpunkt, sein absolutes Gleichgewicht gefunden hatte, hielt er inne.
Doch noch immer ging ein leichtes Beben durch den Erdboden unter seinen Füßen.
»Pferde«, flüsterte Ulla. »Zwei Pferde. Aber sie laufen nicht über den Pfad, sondern kommen durch den Wald direkt auf uns zu.«
»Kavallerie. Dann hat Valerius sich also doch als Verräter entpuppt.« Mehr Zeit zum Nachdenken blieb Cunomar nicht und war auch nicht nötig, denn er hatte ja von vornherein gewusst, wie er seinen Onkel einzuschätzen hatte. Angewidert spie er auf den Boden. Dazu immerhin war noch Zeit genug. Das flüchtige Schimmern von weißen Augäpfeln, das schwache Aufblitzen von blankem Eisen zeigte ihm an, wo seine Ehrengarde sich verteilt hatte und wo ihre achtunddreißig Klingen auf nichts anderes warteten als darauf, endlich Cunomars Befehl ausführen zu dürfen.
Ein kleiner Teil seines Ichs erwog, nun endlich das Nachtlager zu stürmen. Dann aber verbannte er diesen Gedanken wieder aus seinem Bewusstsein. Mittlerweile nämlich war der Augenblick gekommen, an dem er sämtliche Hoffnungen, noch länger unentdeckt zu bleiben, endgültig aufgeben musste. Und das Überleben seiner Ehrengarde war einfach von zu großer Bedeutung, als dass er seine Gefährten nun aus einem spontanen Impuls heraus in den sicheren Tod hätte schicken dürfen. Egal, wie bereitwillig sie auch für ihn gestorben wären.
»Geht!« Er scheuchte sie zurück. »Verschmelzt mit dem Wald. Und kehrt erst auf meinen ausdrücklichen Befehl hin wieder zurück.«
Nur er blieb, wo er war, den Kopf frei von sämtlichem gedanklichem Ballast, genauso, wie die Mitglieder des Ältestenrats es ihn gelehrt hatten.
Die beiden ankommenden Reiter näherten sich den Toren des Lagers. Sie nannten ihr Losungswort, und man gewährte ihnen Einlass. Der unförmige dunkle Umriss, als der das Zelt des Legaten soeben noch erschienen war, verlor plötzlich seine Düsternis und wurde erhellt von einem Kohlebecken und einigen Fackeln. Über die Wände huschten die Schatten diverser Männer. Cunomar fluchte und kauerte sich nieder. Vorsichtig kroch er ein Stückchen weiter vorwärts, hielt aber schon bald abermals inne, als das Licht im Zelt des Legaten plötzlich von einem dunklen Schatten verdeckt wurde.
»Besser, du lässt deine Bärinnenkrieger überhaupt nicht mehr zurückkehren. Zumindest nicht in dieser Nacht«, ertönte plötzlich Valerius’ leise Stimme. Mit nachsichtigem Tonfall fuhr er fort: »Denn zwei sehr gute Freunde von mir setzen gerade ihr Leben dafür aufs Spiel, um den Legaten davon zu überzeugen, dass seinem Nachtlager nicht die geringste Gefahr drohe. Ich würde es also vorziehen, wenn du davon absiehst, ihm nun das genaue Gegenteil zu beweisen.«
Ein unangenehmer Schauer rieselte über Cunomars Kopfhaut. Er hatte geglaubt, dass nur Ardacos es fertigbrächte, sich in der Dunkelheit unbemerkt so dicht an ihn anzuschleichen. Einem anderen hatte er dieses Talent nicht zugetraut. Lautlos schien sein Messer sich in seine Hand zu schmiegen. Deutlich umriss das Licht der Sterne Valerius’ Silhouette. Doch es fehlte das charakteristische Blitzen von Metall, nirgends konnte Cunomar einen Hinweis auf eine Waffe entdecken.
»Dann hast du also den Thraker ins Lager geschickt?«, fragte Cunomar leise und mit unüberhörbarem Zweifel. Zugleich ließ er einen Hauch von Verachtung durchklingen, Verachtung für jenen Mann vor ihm, der seinen angeblichen Seelenbruder in Lebensgefahr brachte, während er selbst lieber sicher im Hintergrund zurückblieb.
»Longinus ist reinmarschiert, ja. Und auch Civilis, jener Bataver, den ich in meiner Anfangszeit in der Kavallerie meinen Seelenvater nannte und der heute im Namen deiner Mutter seine gesamte Kavallerie gegen Rom gehetzt hat. Ohne ihn hätten die Eceni wesentlich mehr Kämpfer einbüßen müssen.«
Drinnen im Legionslager wurden nach und nach wieder einige Feuer entzündet. Valerius’ Umriss trat immer schärfer hervor. Das Gesicht seines Onkels aber konnte Cunomar noch immer nicht erkennen. Nur anhand der Stimme seines Gegenübers konnte er ungefähr dessen Stimmung abschätzen.
Nachdenklich fuhr die gesichtslose Stimme fort: »Und wenn du mich jetzt tötest, wären Civilis und seine Bataver damit für uns verloren. Dann müssten sie sich stillschweigend wieder dem römischen Kriegsheer anschließen. Mir persönlich wäre es natürlich lieber, wenn sie uns während unseres Angriffs auf Camulodunum den Rücken freihalten könnten. Da wären sie uns sicherlich sehr nützlich. Und selbst wenn wir es schaffen könnten, jeden einzelnen Offizier und jeden einzelnen Soldaten in diesem Lager augenblicklich ins Jenseits zu befördern, so blieben damit doch noch immer vier weitere Kohorten, die in den Winterforts der Neunten Legion nur darauf warten, endlich in den Kampf ziehen zu dürfen.«
Unbewaffnet und allein war Valerius Cunomar in der Dunkelheit gegenübergetreten. Erst jetzt begriff der Sohn der Bodicea, dass sein Onkel sich damit ganz bewusst einer erheblichen Gefahr ausgesetzt hatte. Andererseits aber könnte man genau dies Cunomar später auch zum Vorwurf machen. Man könnte sagen, dass Valerius vollkommen unbewaffnet gewesen war, während Cunomar ein Messer bei sich getragen hatte.
Lautlos ließ Cunomar sein Messer wieder zurück in dessen Futteral gleiten. Das Feuer warf tanzende Schatten über sein Gesicht. Die Mitglieder des Ältestenrats der Kaledonier hatten einen ganzen Winter darauf verwendet, ihn zu lehren, wie man seine Gedanken und damit die Mimik seines Gesichts kontrollierte, damit der Feind noch nicht einmal die leiseste Ahnung davon bekäme, was wirklich in einem vorging. Selbst diejenigen, die auf Mona die Kunst des Gedankenlesens gelernt hatten, könnten den Blick eines derart geschulten Mannes dann nicht mehr richtig deuten. Derartig gewappnet entgegnete Cunomar: »Die Bärinnenkrieger töten keinen unbewaffneten Mann. Egal, wer dieser Mann auch sein mag.«
»Ich danke dir.« Ein Hauch von Belustigung schien durch Valerius’ leicht sarkastische Stimme hindurchzuklingen, verhallte gleich darauf aber wieder so tonlos, als habe nichts dergleichen jemals Valerius’ Bewusstsein gestreift. »Was spräche eigentlich dagegen, dass deine Schwester Cygfa das Kriegsheer anführt, falls deine Mutter dieser Aufgabe doch nicht mehr gewachsen sein sollte? Mir jedenfalls scheint Cygfa in jeder Hinsicht eine absolut bewundernswerte Kriegerin zu sein.«
Mit einer solchen Frage hatte Cunomar beim besten Willen nicht gerechnet. Noch niemals zuvor hatte er seine Schwester als Bedrohung wahrgenommen. Es dauerte also einen kurzen Moment, ehe er sich wieder erinnerte, warum dies eigentlich so war. »Meine Mutter hat den letzten, großen Angriff auf Rom bereits in einem Fiebertraum vorausgesehen. Cygfa kämpfte in diesem Traum im rechten Flügel und Ardacos im linken. Dubornos allerdings, der Träumer, der kämpft wie ein Krieger, war nirgends zu sehen. Es könnte also Dubornos gewesen sein, der im Traum das Kriegsheer anführte. Obwohl ihm die römischen Inquisitoren damals ja ziemlich übel zugesetzt hatten... vielleicht zu sehr, als dass Dubornos noch jemals die Führerschaft über das Kriegsheer übernehmen könnte.«
»Ich verstehe. Und der Einzige aus dem engsten Kreise deiner Mutter, der dann noch übrig bliebe, um diesen Platz einzunehmen, der wärst du. Das heißt, wenn man mich nicht mitzählt und sofern Breaca diese Aufgabe nicht vielleicht doch noch selbst übernimmt.«
Hell leuchtete am Rande des Lagers ein einzelnes Feuer auf. Mit einer kaum merklichen, doch zweifellos ganz bewussten Bewegung drehte Valerius den Kopf ein wenig zur Seite, sodass die Schatten von seinem Gesicht glitten und Cunomar endlich einen Blick auf dessen Züge werfen konnte. Sein Onkel wirkte erschöpft und geradezu alterslos. Vielleicht aber war er auch einfach bloß sehr geschickt darin, anderen das vorzuspiegeln, was diese gerne sehen wollten.
»Wir sollten über diese Sache jetzt endlich einmal ein paar klare Worte wechseln«, begann Valerius. »Ich persönlich dränge mich nicht danach, der Anführer des Kriegsheeres der Eceni zu werden. Weder jetzt noch irgendwann später. Aber ich werde andererseits auch nicht zulassen, dass der persönliche Ehrgeiz eines einzelnen Mannes das gesamte Heer zerschlägt oder es in den sicheren Tod marschieren lässt. Die Zukunft unseres Volkes, die Zukunft unseres gesamten Landes hängt allein vom Ausgang dieses Krieges ab. Und diese beiden, unser Volk und unser Land, sind um ein Vielfaches wichtiger als deine oder meine Eitelkeit.«
Die Fronten von Valerius’ und Cunomars ganz privatem Krieg waren somit geklärt. Beide wussten, worum sie von nun an gegeneinander kämpfen würden. »Und ich wiederum«, entgegnete Cunomar mit ruhiger Stimme, »werde nicht einen einzelnen Verräter alles das wieder zerstören lassen, was meine Mutter bereits aufgebaut hat und wofür sie ihre Seele hat hingeben müssen. Du vergisst offenbar, dass ich mit eigenen Augen mit ansehen durfte, wie du in Gallien jene Männer verraten hast, für die du einst in die Schlacht gezogen bist.«
Gierig nahm er jede der Gefühlsregungen, die sich auf Valerius’ Gesicht abzeichneten, tief in sich auf. Cunomar glaubte, nein, er war sich sogar sicher, dass er für einen kurzen Augenblick so etwas wie Kummer über Valerius’ Züge flackern sah. Aber vielleicht waren es auch bloß Angst oder Zweifel gewesen, die plötzlich die sorgsam kontrollierte Maske durchbrachen, die sein Onkel sonst zur Schau trug. In jedem Fall wog allein dieser flüchtige Anblick die unbequeme Nacht, die Cunomar im feuchten Walde verbringen musste, bereits wieder auf.
Laute Stimmen und einige lateinische Wortfetzen zerrissen das kurze, doch angespannte Schweigen zwischen Valerius und seinem Neffen. Am Rand des Nachtlagers wurden Fackeln entzündet. Die Zeit drängte. Rasch und leise mussten sie zurückweichen in den Schutz der Bäume. Dort harrten sie aus, ihre Körper fest auf die kalte Erde gepresst, bis eine komplette Zeltbelegung von acht bewaffneten Männern an ihnen vorbeigestapft war. Voller Misstrauen hatten die Legionare mit ihren Schwertern wahllos ins Unterholz gestoßen und mit ihren Fackeln unter jeden Baum geleuchtet.
Nachdem die Soldaten wieder verschwunden waren, setzte abermals Stille ein. Nach einer geraumen Weile richtete Cunomar sich wieder so weit auf, dass er in der Hocke saß, und wischte sich das modrige Laub aus dem Gesicht. Nichts um ihn herum schien sich zu regen. Er wusste nicht, ob Valerius noch immer in seiner Nähe war oder ob er bereits wieder allein war. Leise flüsterte er in die Nacht hinein: »Im Übrigen hat nicht die Sucht nach persönlichem Ruhm die Bärinnenkrieger heute Nacht hierhergeführt.«
»Aber was war dann der Grund?« Valerius war ganz in Cunomars Nähe. Dennoch klang seine Stimme fern, als ob er geschlafen hätte oder gar träumte.
»Meines Wissens nach befinden sich in diesem Zeltlager doch ziemlich genau zweitausend Legionare«, antwortete Cunomar. »Es wäre also auch aus meiner Sicht der reinste Wahnsinn gewesen, diese zweitausend nun mit gerade einmal achtunddreißig Kriegern angreifen zu wollen. Unser Plan war lediglich, an irgendeiner Stelle ungesehen in das Lager einzudringen und bloß den Legaten zu töten. Genauso, wie seinerzeit die Bodicea den Gouverneur getötet hatte. Damals, als mein Vater in Rom gefangen gehalten wurde.«
»Allerdings mit dem einen Unterschied, dass man dich - im Gegensatz zur Bodicea - sicherlich dabei erwischt hätte. Und dann wärst auch du als persönlicher Gefangener des Kaisers nach Rom verschleppt worden. Denn lebend bist du für die doch noch von wesentlich größerem Nutzen, als wenn du tot wärst. Du bist immerhin der Sohn der Bodicea. Darüber solltest du vielleicht einmal nachdenken. Im Übrigen hatte dein Vater damals großes Glück gehabt. Der Kaiser hatte ihn ja letzten Endes doch nicht zum Tode verurteilt, sondern er hatte ihn begnadigt. Du dagegen würdest unter dem jetzigen Kaiser ganz gewiss nicht mehr lange am Leben bleiben.«
Plötzlich riss die Wolkendecke auf, und hell ergoss der Mond sein Licht über Cunomar und Valerius. Wieder einmal fiel Cunomar auf, wie ähnlich Valerius seinem Vater doch sah, und nun war auch deutlich zu erkennen, dass Valerius ganz zweifellos erschöpft war. Müde fuhr Cunomars Onkel fort: »Wenn wir deinen Schlachtplan dann für heute Abend vielleicht begraben könnten...? Vor morgen früh dürfen wir den Kriegern keinen weiteren Kampf mehr zumuten. Das würde sie überfordern. Und überhaupt brauchen sie noch wesentlich mehr Übung im Kämpfen, ehe wir es wagen können, sie gegen Camulodunum zu schicken. Denn die Veteranen der Zwanzigsten Legion nennen diese Stadt nun immerhin ihr Zuhause. Sie werden also nicht brav in einer Reihe mit dem Marschland im Rücken auf uns warten. Im Gegenteil. Sie werden wortwörtlich ihr Letztes geben, um jenes Land zu verteidigen, das immerhin ihr Lohn ist für fünfundzwanzig Jahre Dienst in der römischen Armee. Das Heer der Veteranen wird kämpfen wie ein Bär in der Falle. Und selbst mit einer angemessenen Menge an erfahrenen, kampferprobten Kriegern dürfte es uns noch schwer fallen, diese Kerle zu schlagen.«
... wie ein Bär in der Falle...
Cunomar konnte es schier nicht begreifen, dass Valerius offenbar von seinem ärgsten Albtraum wusste. Unsicher erwiderte er: »Aber wir werden die Kolonne morgen auch nicht noch einmal so einfach überwältigen können, wie wir es heute geschafft haben. Die werden doch nun mit Sicherheit mit irgendetwas in der Art rechnen.«
»Das steht außer Frage. Wir müssen sie also in genau dem Augenblick erwischen, wenn sie gerade ihr Lager abbrechen.« Valerius hockte sich nieder und zeichnete mit der Fingerspitze ein Quadrat in den weichen, lehmigen Boden.
»Das hier ist das Lager«, erklärte er. »Und wir stehen hier, am westlichen Rand. Longinus und Civilis sind jetzt im Inneren des Lagers und tischen dem Legaten in diesem Augenblick ihre Lügen auf. Und sofern du keinen besseren Vorschlag hast, werden wir morgen folgendermaßen vorgehen...«
 
Der neue Tag begann mit einer Reihe schmetternder Hornstöße.
Cunomar wartete im Schutz der Bäume, rings um ihn herum hatten sich die Bärinnenkrieger verteilt. In der Nacht, als er sie zu sich zurückgerufen hatte, um ihnen zu erläutern, was Valerius von ihnen verlangte, war Ulla die Einzige gewesen, die laut ausgesprochen hatte, was die anderen nicht zu sagen wagten. »Mir wäre es lieber gewesen, wir wären so vorgegangen, wie du es ursprünglich geplant hattest. Nur leider ist diese Chance jetzt wohl endgültig vertan. Allerdings denke ich, dass auch Valerius uns eine durchaus ehrenvolle Rolle in seinem Plan zugedacht hat, und auch sein weiteres Vorgehen klingt für mich recht logisch. Immer vorausgesetzt natürlich, seine Komplizen, die er im Lager platziert hat, schaffen es, ihren Teil der List in die Tat umzusetzen.«
Alles hing nun von Civilis und Longinus ab.
Der Morgen war kalt, alle fröstelten. Cunomar lag wieder einmal flach auf dem Erdboden und beobachtete die Legionare dabei, wie sie ihre Feuer entzündeten und zum Frühstück kleine Fladen aus Gerstenmehl backten. Er fühlte sich regelrecht bedrängt von dem Geflüster der Speerkämpfer um ihn herum, den leisen Stimmen, in denen Ullas Zweifel mitklangen und ihrer Sorge damit nur noch mehr Gewicht zu verleihen schienen.
Valerius’ Stand im Heer der Krieger war sehr unsicher, viele zweifelten noch an seiner Vertrauenswürdigkeit. Ob man ihn letztlich akzeptieren würde, hing ganz und gar davon ab, ob er es schaffen würde, gemeinsam mit den Eceni die Neunte Legion der Römer zu vernichten. Vor allem würde sich an der heutigen Schlacht beweisen, wie es um sein Talent bestellt war, eine Kriegslist zu planen und in die Tat umzusetzen. Wenn die Bärinnenkrieger gut kämpften und es schafften, in das Lager einzudringen, würden sie damit nicht nur ihrer eigenen Sache dienen, sondern auch dem Ansehen Valerius’. Falls sie jedoch versagten, verlören nicht nur sie, sondern auch Valerius an Respekt. Sie alle wussten das, und die bittere Ironie, die darin lag, jagte ihnen nur noch einen zusätzlichen Schauder über den Rücken.
Im Inneren des römischen Lagers herrschte bereits bange Geschäftigkeit. Die noch verbliebenen Männer der Neunten Legion waren schon vor Sonnenaufgang wieder aus ihrer Nachtruhe erwacht, sofern sie überhaupt geschlafen hatten. Die morgendlichen Pflichten, der Abbau der Zelte, das Zusammenpacken der privaten Habseligkeiten und überhaupt die gesamte Demontage des Nachtlagers gingen wesentlich schneller voran, als dies normalerweise der Fall war, und jeder Einzelne der Legionare bemühte sich, so rasch wie möglich wieder abmarschbereit zu sein.
Im Unterholz verborgen und dicht gegen den Erdboden gedrückt, hatte Cunomar hier, in den westlichen Bergen, schon eine Unmenge von römischen Nachtlagern ausgespäht und dabei stets das gleiche Muster beobachtet: Jene Zenturien, die als Erste im Lager angekommen waren, mussten auch als Erste wieder ihre Zelte zusammenpacken und die Lagerstätte verlassen, während es denjenigen, die als Letzte einmarschiert waren, überlassen blieb, die Kloakegräben zuzuschaufeln und die Feuer zu löschen.
Normalerweise unterhielten die Männer sich oder sangen oder pfiffen ein Liedchen, während sie ihre Pflichten versahen. Auf der Lichtung am Rand des Steinernen Pfads der Ahnen jedoch arbeiteten sie nun in tiefes Schweigen versunken.
Am westlichen Rand des Feldlagers stand ein einzelner Zenturio und betete mit erhobener Stimme zu Mars Ultor, dem Gott der Legionen, dass die Männer seiner Zenturie, die in der Nacht im Wald verschwunden waren, nun endlich wieder zurückkehren und sich zu ihren Kameraden gesellen mögen.
Ulla sprach kein Latein. Cunomar, der zwei Jahre in Rom gelebt hatte, legte den Mund an ihr Ohr und übersetzte ihr mit einem Flüstern, so leise wie ein Atemzug, was der Römer gerade sagte.
Dann zerriss der Dreiklang eines Kavalleriehorns die Stille. Abrupt nahmen sowohl das Gebet als auch Cunomars Übersetzung ein Ende. Das Schmettern des Horns wurde leiser und nahm dann abermals an Lautstärke zu, genauso, wie Valerius es vorausgesagt hatte. Zuerst drei Töne, die nacheinander immer schriller klangen, dann noch einmal die gleichen drei Töne, diesmal aber leiser, und dann noch einmal, wieder mit der vorherigen Lautstärke: Das ist das Zeichen, wenn eine Zenturie von einer nicht zu bewältigenden Übermacht von Feinden angegriffen wird und dringend um Hilfe bittet. Es ist zwar schon lange her, seit ich zuletzt als Hornbläser gedient habe, aber andererseits kann ja selbst einem routinierten Bläser im Falle eines überraschenden Angriffs mal ein kleiner Fehler unterlaufen. Sollte ich es also schaffen, das Signal auch nur halbwegs authentisch wiederzugeben, dann sollte im Lager auf dieses Zeichen hin sofort das nackte Chaos ausbrechen.
Und in der Tat musste Valerius es wohl geschafft haben, das Signal mehr als nur halbwegs glaubwürdig nachzuahmen, denn Cunomar konnte beobachten, wie im Lager fast augenblicklich blinde Panik sich in die Gesichter der Männer fraß. Doch auch in Cunomars Innerem breitete sich eine leise Unruhe aus. Die Legionare brüllten einander an, rannten wild umher und bellten hektische Befehle. Pferde wurden in aller Eile zusammengetrieben. Und ohne erkennbaren Zusammenhang ertönte immer wieder das Schmettern der Signalhörner der Truppe. Wartet auf jenen einen, langen Hornstoß, der langsam immer lauter wird. Das ist Civilis’ Zeichen, mit dem er den Batavern befiehlt, aufzusitzen und sich zum Aufbruch bereitzuhalten.
Schon bald ertönte dieses Signal, schien klagend die soeben hereinbrechende Morgendämmerung willkommen zu heißen. Gut die Hälfte der Bataver saß bereits in ihren Sätteln, denn ganz zweifellos war es allein ihrem Korps zuzuschreiben, dass noch immer Legionare in den Fängen des Feindes litten, sodass es nun allein an ihnen, den noch verbliebenen Batavern lag, die Ehre ihrer Truppe wiederherzustellen und die bedrängten Kameraden endlich zu retten. Unter diesen beschämten und zugleich kampfesdurstigen Legionaren befand sich auch Civilis, der zornentbrannt und mit wehender weißer Mähne so herrisch seine Befehle brüllte, dass man diese noch bis weit in den Wald hinein verstehen konnte.
Cunomar behielt unterdessen Longinus scharf im Auge. Der junge Legionar stand unmittelbar neben Cerialis und wirkte deutlich entspannter als Civilis. Einen Moment lang schien Cerialis sich nicht ganz sicher zu sein, wie er nun am besten handeln sollte. Cunomar sah, wie Longinus respektvoll den Kopf neigte und dann mit knapper Geste auf die Kavallerie und den Steinernen Pfad der Ahnen deutete. Bald darauf schien die Entscheidung gefällt.
Cerialis ist impulsiv. Mehr als vielleicht ein, zwei Augenblicke schweigender Ermunterung braucht es nicht, um ihn zu einer Entscheidung zu bewegen. Das wird Longinus’ Aufgabe sein. Und wenn der seine Sache gut macht, wird der Legat der Kavallerie befehlen, dass sie sofort ausschwärmen und den Pfad hinaufstürmen soll.
Aber dann sehen sie doch, dass alles nur eine Finte war. Was, wenn sie wieder kehrtmachen und ins Lager zurückreiten?, hatte Cunomar eingewandt.
Für den Fall haben Civilis’ Männer bereits den Befehl erhalten, dass sie den Pfad blockieren und ihren Kameraden den Rückweg abschneiden sollen. Und sollte selbst das nicht funktionieren und die Männer zu der Erkenntnis kommen, dass sie nicht gegen die Angehörigen ihrer eigenen Legion kämpfen können, tja, dann haben wir wohl oder übel die komplette Batavische Kavallerie gegen uns. Wobei wir dann natürlich auch noch ohne Pferde dastehen werden. Für den Fall schlage ich also vor, dass wir am besten sämtliche Gedanken an eine Schlacht sofort aus unserem Bewusstsein verbannen und nur noch zusehen, dass wir schleunigst in den Wald entschwinden. Valerius hatte gegrinst, als er dies sagte, sodass Cunomar nur schwer einschätzen konnte, ob sein Onkel ein solches Fehlschlagen ihres Planes tatsächlich für möglich hielt oder ob er nur scherzte.
Doch obwohl Cunomar schließlich zu dem Ergebnis gekommen war, dass er persönlich diese Gefahr für durchaus realistisch hielt, entschied er sich dafür, seine Bärinnenkrieger im Falle eines Angriffs von Seiten der Bataver keineswegs zurück in den Wald zu schicken.
Aufmerksam beobachtete er, wie nun, da der Legat sich der Kavallerie näherte, in Windeseile Ordnung in die Reihen der Reiter einkehrte. Und mit einem Mal überlegte Cunomar, ob er seine Kampfgefährten im Zweifelsfall nicht doch besser in den Wald entfliehen lassen sollte.
Denn die Würde und die Entschlossenheit, mit denen Petillius Cerialis an der Spitze seiner Kavallerie das Lager verließ, um seinen in Bedrängnis geratenen Kohorten zu Hilfe zu eilen, waren zweifellos sehr eindrucksvoll - selbst gemessen an den ohnehin bereits strengen Maßstäben Roms.
Mit schmetterndem Trompetenschall wurde der Aufbruch des Legaten verkündet. Kaum waren die Klänge verhallt, als auch schon ein weiteres Signal ertönte, das den Infanteristen befahl, die provisorischen Palisadenzäune abzureißen, die in diesem Moment noch den Weg aus dem Lager versperrten. Als auch der letzte Pfahl eiligst aus dem Boden gerissen worden war, stürmte der Legat mitsamt seinen zweihundertundfünfzig Reitern der Batavischen Kavallerie mit zornigem, ja regelrecht rachsüchtig klingendem Hufgedonner zu den Toren des Nachtlagers der Neunten Römischen Legion hinaus.
Aus dem Stand heraus verfielen die gut genährten und trainierten Pferde in einen Galopp, der die Erde erbeben ließ. Sie kannten die Hornsignale mindestens ebenso gut wie die Reiter und brannten geradezu darauf, dem schmetternden Befehl Folge zu leisten. Alle bis auf zwei, die noch innerhalb der ersten fünfhundert Schritte zu lahmen begannen und aus dem Sturmtrupp ausscheiden mussten. Unmittelbar hinter der ersten Baumreihe des Waldes verborgen, beobachtete Cunomar, wie Civilis und Longinus sich laut fluchend zurückfallen ließen und sich schließlich ganz vom Rest der Truppe lösten.
Diese Männer sind meine Freunde. Und damit dieser Plan gelingt, haben sie das Risiko eines langsamen und qualvollen Todes auf sich genommen. Ich würde es also sehr begrüßen, wenn deine Krieger sie am Leben ließen.
Kein verbindliches Lächeln war über Valerius’ Lippen gehuscht, als er dies erklärt hatte, und sein Tonfall hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihm sehr ernst war mit dem, was er sagte.
Doch man hielt sich an Valerius’ Bitte, und Longinus und Civilis blieben unversehrt. Sie waren einen Augenblick lang am Rande des Pfads stehen geblieben, und es sah so aus, als ob sie sich miteinander berieten. Dann, mit offensichtlichem Widerwillen, ließen sie ihre Tiere wenden und ritten auf den lahmenden Gäulen langsam zurück ins Nachtlager.
Ihre Kameraden stürmten derweil unbeirrt weiter den Pfad hinab und übersahen dadurch jenen halben Flügel von Civilis’ Batavern, die einst ihre Waffenbrüder gewesen waren und die sich nun schweigend im dichten Gestrüpp des Waldes verbargen, die Hände über die weichen Mäuler ihrer Tiere gelegt, damit diese nicht etwa ein lautes Wiehern der Wiedersehensfreude ausstießen und ihre Reiter damit verrieten.
Schließlich verhallte der Lärm der vorbeistürmenden Kavallerie, und abermals legte Stille sich über das Land. Nur die von Ferne aus dem Inneren des Lagers herüberschallende Geschäftigkeit drang noch in das leise Atmen des Waldes. Wieder und wieder tönten die Stimmen der Männer und die stakkatoartigen Befehle durch die mit dichtem Baumbestand überwachsene Bodensenke und verschmolzen zu einem fast schon melodischen Ganzen.
Langsam erhob Cunomar sich vom Boden und zog sein Messer. »Noch nicht«, sprach er leise zu sich selbst und wiederholte dann in gedämpftem Flüsterton die Worte, die von Mann zu Mann durch die gesamte Reihe seiner hinter ihm versammelten Krieger weitergegeben wurden: »Noch nicht.«
Unten, im unbewaldeten Teil der Bodensenke, formierte sich im Schutz der Palisaden die römische Infanterie und machte sich bereit zum Abmarsch aus dem Lager. Unterdessen rissen die Männer der letzten Kohorte noch einige allerletzte Pfähle aus dem Boden und füllten hastig die noch verbliebenen Kloakegräben. Der klagende Ton eines einzelnen Horns erklang. Scharf schlug das Heft eines Schwertes gegen einen Schildbuckel. Augenblicklich setzte die Infanterie sich in Bewegung. Die Männer strebten in Richtung Norden und marschierten damit ihrem Legaten hinterher, für den Fall, dass dieser in seinem Kampf gegen die Eceni noch Unterstützung bräuchte. Die Rettung von Camulodunum war plötzlich wieder vergessen oder zumindest vorübergehend hintangestellt, um erst einmal die Neunte Legion vor der langsam fortschreitenden Vernichtung zu bewahren.
Wie Ameisen, die einer Duftspur folgten, schritten die Legionare jeweils in Viererreihen hintereinander her. Trotz der kurzen Nacht waren sie ausgeruht, mindestens ebenso diensteifrig wie die Pferde der Kavallerie und gewiss nicht weniger kampfsüchtig. Im Gleichschritt donnerten ihre Stiefel über den mit glitzerndem Morgentau überzogenen Grasboden, hallten hart über den Steinernen Pfad der Ahnen. Das Marschlied, das sie anstimmten, war das gleiche wie auch schon am Vortag, nur dass sie diesmal noch eine neue Strophe hinzugefügt hatten. Einige von ihnen hatten die Nacht damit verbracht, eine kleine Lobeshymne auf Civilis und den einsamen thrakischen Kavalleristen zu dichten, und aus vollen Kehlen priesen die Legionare ihre beiden Helden nun für deren Mut.
Cunomar beobachtete, wie die Männer erst Civilis und dann Longinus ihren Gruß entboten, während diese gerade ihre beiden lahmenden Tiere zurück ins Lager führten.
»Noch nicht.«
Genau in dem Augenblick, als auch der Letzte der Männer den tückischen Pfad entlang des Waldes betreten hatte, brach der Erste von ihnen auch schon tot zusammen.
Urplötzlich kam die Batavische Kavallerie aus dem Dickicht herausgeprescht, und ihre Hornbläser stießen falsche Signale aus, um ihre Kameraden von der Infanterie zu verwirren. Die allgemeine Verunsicherung hielt zwar nur wenige Herzschläge lang an, doch diese Zeitspanne reichte aus, um die Legionare so weit aus den geordneten Reihen ihres Marschtrupps hinauszutreiben, dass sie sich nun nicht mehr in ihrer gewohnten Formation Rücken an Rücken zusammenschließen konnten und ihnen somit ein wesentliches Element ihrer Verteidigungstaktik fehlte. Das Kriegsheer der Eceni hatte währenddessen das Nachtlager der Legionare umzingelt. Die Gräben waren fast vollständig wieder aufgefüllt, und die Palisadenpfähle warteten zu ordentlichen Packen verschnürt auf ihre Weiterreise. Allein die Zelte der Männer waren noch nicht zusammengelegt und breiteten sich wie tote Motten über den gesamten Lagerplatz aus.
»Jetzt!«
Cunomars Bärinnenkrieger waren die Ersten, die sich auf die feindlichen Soldaten stürzten, und nahmen somit das größte Risiko des Kampfes auf sich. Doch genau das war auch ihr Wunsch gewesen, und Cunomar hatte in der Nacht zuvor versprochen, ihnen diesen Wunsch zu gewähren. Auf seinen Befehl hin stürmten sie durch die bereits halb niedergerissenen Tore des Nachtlagers, warfen sich auf die letzte noch verbliebene Zenturie von Männern, die noch nicht einmal damit begonnen hatte, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken, sondern die nun lediglich mit Schaufeln und Stöcken bewaffnet um ihr Leben kämpfen musste.
Die Schlacht war blutig, doch kurz und kostete letztlich sämtliche Soldaten der ersten und zweiten Kohorte der Neunten Legion das Leben. Zwar hatten auch die Eceni einige Verluste zu beklagen, doch überstieg die Zahl der feindlichen Opfer die der eigenen um etwa das Fünf- oder Sechsfache. Von den Batavern dagegen war niemand getötet worden, und auch die Bärinnenkrieger hatten nur zwei Tote zu beklagen.
 
Dann begann die eigentliche Arbeit. Die Leichen mussten ihrer Rüstungen und ihrer Waffen entledigt, die Tornister mit Marschverpflegung und Kleidung ausgepackt und die Säcke mit Alteisen geleert werden, schließlich könnte man Letzteres wieder einschmelzen und zu neuen Klingen schmieden. Insgesamt erstreckte sich diese Plünderung der Leichen und des Lagers bis weit in den Tag hinein.
Gegen Mittag hockte Cygfa sich neben Cunomar, als dieser gerade den letzten der getöteten Zenturionen entkleidete. Das Schwert des Mannes war im Kampf zerbrochen, so hart hatte er damit gefochten, und auch sein Schild war zu stark demoliert worden, als dass man ihn noch hätte reparieren können. Um ihn herum lag eine Handvoll niedergemetzelter Krieger, allesamt mit Kopfwunden oder Stichverletzungen in der Brust. Unter der Rüstung des Legionars sickerte noch immer Blut heraus und auch aus der klaffenden Wunde an seinem Hals, wo eine Schwertklinge sich unter seinen Helm gebohrt hatte.
»Er hat gut gekämpft.« Cygfa saß auf dem umgedrehten Schild und beobachtete ihren Bruder dabei, wie dieser die Beinschienen des Mannes abschnallte. Auch Cygfa war verletzt worden. Dunkel quoll das Blut aus einer flachen Schnittwunde an ihrem Oberschenkel, während aus zwei Wunden an ihrem Schwertarm hellere Rinnsale tröpfelten.
»Und ich habe gesehen, wie du ihn schließlich getötet hast«, erwiderte Cunomar. Er liebte seine Schwester. An jenem Tage, als man sie schließlich doch noch aus dem Exekutionsritus des Prokurators befreit hatte, hatte er vor Ardacos einen Schwur geleistet. Cunomar hatte geschworen, dass er fortan mit seinem Leben dafür garantieren wollte, dass seine beiden Schwestern niemals wieder unter den Grausamkeiten Roms zu leiden hätten. Dafür wollte er kämpfen, das war sein erklärtes Ziel, solange er, Cygfa und Graine noch unter den Lebenden weilten. Cygfa hatte Cunomars Schutz zwar im Grunde nie gebraucht, doch sein Schwur hatte zumindest ihm dabei geholfen, nicht den Glauben an ihre Genesung zu verlieren. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Brust, doch er sagte nichts davon, denn angesichts dessen, was seine Schwestern und er bereits hatten erleiden müssen, war eine solch kleine Unpässlichkeit nicht der Rede wert. Huldvoll fuhr er fort: »Und der Kerl hätte auch noch ein weiteres Dutzend Krieger niedergestreckt, wenn du nicht gekommen wärst und ihn getötet hättest.«
Cygfa aber zuckte nur teilnahmslos mit den Achseln. »Irgendwann verließen ihn einfach die Kräfte, und Dubornos lenkte ihn ab. Aber ich bin nicht gekommen, um mit dir über den toten Legionar zu sprechen.«
Die Ältesten der Kaledonier hatten Cunomar gelehrt, seinem Kummer niemals auszuweichen. »Dann willst du also über Valerius reden? Hat er dir etwa den Hengst mit den weißen Fesseln geschenkt?«
Von allen Kriegern, die an diesem Tage auf dem Schlachtfeld gekämpft hatten, hatten zwei sich besonders hervorgetan. Und dies war zum einen Valerius gewesen, der Halbrömer, der auf seinem Krähenpferd mit einer solchen Inbrunst und Selbstvergessenheit für die Eceni gekämpft hatte, wie es nur die wirklich bedeutenden Krieger vermochten, die sich damit unübersehbar vom Rest des Heeres abhoben. Die andere war Cygfa gewesen. Sie, die Seelentochter der Bodicea, die blondschöpfige Tochter von Caradoc, hatte auf der anderen Seite des Schlachtfelds gefochten, und auch sie hatte einen schwarzen Hengst mit weißen Fesseln geritten, ein Tier, das ganz eindeutig von demselben Schlage war wie Valerius’ berüchtigter Schecke.
Zwar war Cygfas Pferd nicht ganz so wild und aggressiv wie der Hengst namens Krähe, doch es reagierte schneller auf Cygfas Befehle als jedes andere zuvor, sodass Kriegerin und Pferd geradezu zu einem einzigen Wesen zu verschmelzen schienen. Keiner kam umhin, mindestens einmal zu der Kriegerin mit dem hellen Haar emporzublicken, das hoch und golden wie eine Flamme über dem schwarz-weißen Leib ihres neuen Schlachtrosses flatterte. Cunomar hatte seine Schwester beobachtet und bemühte sich, das Tier nicht als Belohnung für Cygfas bisherigen Einsatz im Kampf gegen die Römer zu deuten. Denn er wollte kein Mann sein, der anderen ihr Glück neidete. Und schon gar nicht wollte er seiner geliebten Schwester irgendetwas missgönnen.
Cygfa grinste. Ein Anblick, der so selten war, dass allein dieses Grinsen Cunomars Herz schon erfreut höher schlagen ließ. »Valerius war offenbar so ein Gerücht zu Ohren gekommen«, begann sie. »Das Gerücht, dass ich mit ihm um das Pferd kämpfen wolle, das ich jetzt reite. Also ist er mir zuvorgekommen und hat es mir geschenkt, ehe ich ihn dazu hätte herausfordern können.« Dann strich sie sich mit der Hand durchs Haar und erklärte in wieder etwas ernsterem Tonfall: »Aber auch darüber wollte ich mit dir nicht sprechen. Stattdessen geht es mir vielmehr um Valerius selbst. Ich...«
»Du hältst ihn für den am besten geeigneten Anführer für das Kriegsheer. Ich weiß. Alle wissen das. Daran hast du bei der Ratsversammlung ja auch keinen Zweifel gelassen.« Damals hatte es Cunomar wehgetan, zu sehen, wie eindringlich seine Schwester Valerius zu unterstützen versuchte. Nun, nach der erfolgreichen Schlacht gegen die Römer, war Cunomar einfach nur glücklich, dass er und Cygfa noch lebten und überhaupt noch in der Lage waren, sich über die Führung des Kriegsheeres beratschlagen zu können.
»Ach, die anderen sollen doch von mir aus denken, was sie wollen.« Cygfa wischte sich ein Schmutzklümpchen aus dem Gesicht, verteilte dabei aber nur noch mehr Erde über ihre Wange. »Du aber sollst wissen, dass ich Valerius aus einem bestimmten Grund unterstütze. Ich bin nämlich der Ansicht, dass er genau der Mann ist, den die Götter für uns auserkoren haben. Im Augenblick ist er einfach der Beste, der uns für diese Aufgabe zur Verfügung steht. Immer vorausgesetzt, dass Breaca das Heer nicht vielleicht doch noch selbst anführen kann.«
Cygfas Blick ruhte auf ihrem Bruder. Bedächtig legte Cunomar die Beinschienen auf den Haufen mit den anderen Kleidungsstücken des Legionars. Ebenso bedächtig fragte er: »Aber ist er tatsächlich nur im Augenblick der Beste für diese Aufgabe?«
Sie kannten einander gut, die beiden Kinder Caradocs. Sie hatten in Rom gemeinsam dem Tod ins Auge gesehen, hatten nach Kaiser Claudius’ überraschender Begnadigung zwei Jahre des Exils durchlitten. Sie hatten gemeinsam die riskante Flucht quer durch Gallien erlebt und hatten Seite an Seite schließlich auch jenen schrecklichen Moment am Ufer des Feindeslandes durchstanden, als offensichtlich wurde, dass ihr Vater nurmehr ein gebrochener Mann war, der nicht mehr die Kraft besaß, in sein Heimatland zurückzukehren. Gemeinsam waren Cygfa und Cunomar nach Mona zurückgekehrt, hatten die Insel in ihren Herzen wieder zu einem neuen Zuhause wachsen lassen und hatten es dann abermals verlassen, um mit der Bodicea in den Osten zu reisen. Nur sie beide, Cygfa und Cunomar, wussten, was diese Erfahrungen sie beide gekostet hatten. Nur sie beide wussten, was es bedeutete, als Kinder eines Mannes zu kämpfen, der scheinbar von der ganzen Welt verehrt wurde. Nur sie wussten, wie es sich anfühlte, für ihre zuweilen unbequeme Art verurteilt zu werden; verurteilt von Menschen, die einfach nicht wussten, was sie beide alles schon erlitten und was diese Erlebnisse ihren Seelen angetan hatten.
Im vollen Bewusstsein all dessen entgegnete Cygfa schließlich leise: »Um ein Kriegsheer anzuführen, braucht es Mut. Und dennoch reicht das allein noch nicht aus. Jeder weiß, dass du den Mut dazu besäßest. Und wer daran noch irgendwelche Zweifel gehegt haben sollte, den hast du in den vergangenen beiden Tagen eindringlich eines Besseren belehrt. Aber ein Anführer behält stets auch die größeren Zusammenhänge im Auge. Und er vergisst nie, dass ein Menschenleben letztendlich doch noch mehr wert ist als selbst die größte Ehre. Ein echter Anführer hätte also niemals drei Dutzend Krieger darauf angesetzt, ganz allein ein römisches Nachtlager anzugreifen, während er jene dreitausend, die ebenfalls dringend etwas Kampferfahrung hätten sammeln müssen, einfach tatenlos zurücklässt. Andererseits... es ist nichts entschieden, noch ist Zeit. Breacas Heilung schreitet langsam, doch stetig voran. Hier, während unseres Angriffs auf die Neunte Legion, konnte sie uns noch nicht zur Seite stehen. Aber sie wird uns gegen Camulodunum führen. Und wer dann im Anschluss die Position des Heerführers einnimmt... nun, warten wir ab, was sich ergibt. Sollte ich bis dahin zu der Überzeugung gekommen sein, dass du uns nicht in irgendein heroisches Desaster führst, werde ich nicht mehr Valerius sondern dir meinen Treueeid schwören.«
Ein warmes Lächeln war über Cygfas Züge gehuscht, und aufmunternd drückte sie Cunomars Arm. Ihr Haar war ein wildes Durcheinander aus hellem Gold und dem Schmutz der Schlacht. Ihr Gesicht sah nicht wesentlich besser aus. Doch sie war seine Schwester, und das war wichtiger als alles andere.
Dann erhob Cygfa sich und entbot Cunomar den Kriegergruß. »Die Neunte Legion ist hiermit ausgelöscht. Jetzt steht uns der Weg nach Camulodunum frei. Wisse diesen Weg nun gut zu nutzen, kleiner Bruder. Dann, vielleicht, wirst doch noch du es sein und nicht Valerius, der das Heer in die entscheidende Schlacht gegen die Legionen führt.«
Die Kriegerin der Kelten
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