XXIV
Der Tote trieb mit dem Gesicht nach unten im
Wasser. Sein Haar wogte um seinen Kopf herum, als wären es die
Tentakel einer Seeanemone. Die Farbe seines Schopfes erinnerte an
ein schmutziges Gelb, an altes Stroh, was es aber nicht im
Geringsten erleichterte, ihn zu identifizieren. Er hätte ein
Silurer sein können, ein Freund, dessen Leichnam es verdiente, aus
dem Wasser gefischt und dann mit allen ihm gebührenden Ehren in die
Obhut Brigas übergeben zu werden. Vielleicht war er aber auch einer
der batavischen Kavalleristen gewesen, einer jener strohblonden
Römer, von denen es in der Zwanzigsten Legion nur so wimmelte und
deren Haupthaar sich als Folge ihres generationenübergreifenden
Aufenthalts in den nördlichen Ländern in ein unansehnliches Gelb
verwandelt hatte. Auch in letzterem Fall hätte man den Toten aus
dem Wasser holen und ihn, wenn schon nicht um seiner selbst willen,
so doch aus Respektsbezeugung Corvus gegenüber, ordentlich
bestatten müssen. Ließe man Corvus allerdings einmal für einen
kurzen Augenblick außer Acht, sprach schließlich nichts mehr
dagegen, warum man diesen Toten nicht auch einfach langsam auf den
Grund des Meeres sinken lassen könnte, quasi als Futter für die
Geschöpfe Manannans und als Dank für deren Unterstützung in der
Schlacht gegen die Römer.
Graine saß am äußersten Rand des Fähranlegers von
Mona und ließ die Füße unmittelbar über der leise plätschernden
Wasseroberfläche baumeln. Nachdenklich betrachtete sie den Toten,
der immer wieder sanft gegen einen der eichenen Poller stieß. Der
Mann trug zwar keine Rüstung, aber auch das besagte im Grunde noch
gar nichts. Denn gut die Hälfte aller Legionare hatte irgendwann im
Laufe der Überquerung der Meerenge die Rüstung abgeworfen. Der Zorn
des Meergottes, der ihnen mit immer höher schlagenden Wellen
entgegenbrandete, hatte sie beinahe zu Tode geängstigt. Für Männer,
die mit ihrem Schwert lebten und stets davon ausgingen, irgendwann
auch unter einem solchen zu sterben, war die Aussicht auf einen Tod
durch Ertrinken beinahe ebenso schrecklich wie der Gedanke, in
einem Feuer ums Leben zu kommen. Lieber traten sie ihren Feinden
ohne jegliche schützende Rüstung gegenüber, als den gierigen Wogen
zum Opfer zu fallen und noch bei lebendigem Leibe unter die
Wasseroberfläche gezogen zu werden.
Immer wieder stieß ein kieloben auf dem Wasser
treibender Leichter gegen den Mann. Ganz ähnlich einer Mutterkuh,
die ihr Kalb in eine bestimmte Richtung zu drängen versuchte,
schien das Boot den Leichnam aufs Meer hinausschubsen zu wollen.
Die Leiche drehte sich sacht, wobei sie ihre Glieder wie ein
Seestern weit von sich streckte. Der rechte Unterarm allerdings
fehlte. Blut trat in trägen Schlieren aus der Wunde am Stumpf aus
und besudelte die Krebse und das graugrüne Seegras. Über den
Oberarm des Mannes schlängelte sich eine Tätowierung in Richtung
Achselhöhle empor, und tief in Graines Innerem rief dieses Muster
einige vage Erinnerungen wach - doch die Bilder blieben
verschwommen. Überhaupt war ihre Wahrnehmung wie betäubt. Das
Grauen der Schlacht hatte ihr Denkvermögen fast komplett zum
Erliegen gebracht, und bislang hatte Graine noch keine Mittel und
Wege gefunden, um ihr Bewusstsein wieder zu klären. Sie starrte
einfach nur hinaus auf das Wasser und versuchte, sich wenigstens
noch so weit konzentrieren zu können, um ein stummes Gebet an die
Götter zu schicken. Aber auch das gelang ihr nicht.
»Das ist einer von den Batavern. Ich habe gehört,
wie er ins Wasser gefallen ist«, erklärte Bellos, der sich in
diesem Moment neben Graine niederließ. Er trug einen Stock bei
sich, das war neu. Der Stock war sehr lang, in sich gedreht und
kunstvoll bemalt. Graine dachte, dass diese Art Gehhilfe aussah,
als wäre sie aus Rotdornholz, doch sie war sich nicht sicher. In
jedem Fall schien der Stock von Luain mac Calma gefertigt worden zu
sein. Wahrscheinlich ein Geschenk, das er Bellos vor der Schlacht
gemacht hatte. Vorsichtig nahm Graine den langen Stock an sich und
langte damit hinab ins Wasser. Der Griff an seinem Ende war aus dem
Horn eines Widderbocks gefertigt, mit dem Graine nun unter die
Schulter des Toten hakte und ihn schließlich umdrehte, um sein
Gesicht erkennen zu können. Langsam öffnete sich sein Mund, und
makellos weiße und ebenmäßige Zähne wurden sichtbar. Er hätte also
trotz Bellos’ Einschätzung auch ein Silurer gewesen sein
können.
»Woher weißt du, wer er war, wenn du ihn doch nicht
sehen kannst?«, fragte Graine.
Eine kurze Pause entstand, Zeit genug für sie, um
zu erkennen, wie unhöflich ihre Bemerkung gewesen war. Aber das
schien Bellos nichts auszumachen. Stattdessen dachte er offenbar
darüber nach, wie er ihre Frage am besten beantworten könne. Nach
einer Weile entgegnete er: »Weil sein Geist noch immer in der Nähe
ist.«
Darauf hätte sie auch selbst kommen können. Denn
noch immer schwebte eine Unzahl an Geistern über dem Schlachtfeld,
das konnte sie spüren. Die Anwesenheit der Seelen der Verstorbenen
benebelte ihr nur noch zusätzlich den Verstand. »Ich glaube«,
entgegnete sie, »ich weiß jetzt so ungefähr, wie es sich wohl
anfühlen muss, blind zu sein im Land der Sehenden.«
Bellos war nachsichtig, umgänglich und tolerant.
Für ihn war der Tag wesentlich besser verlaufen, als er es sich
erhofft hatte. Graine hatte beobachtet, wie er auf dem Brückenkopf
entlanggewandert war und den Träumern seine Anweisungen gegeben
hatte, ganz so, als könnte er ebenso deutlich sehen wie sie. Nur
ein einziges Mal war er ins Stolpern geraten, und das hatte
wiederum bloß daran gelegen, dass plötzlich ein Pferd zu Boden
gestürzt war und mit seinen auskeilenden Hufen zu nahe an Bellos’
Kopf geraten war.
»Nein, das weißt du nicht«, widersprach Bellos ihr.
»Aber vielleicht bist du ja taub, während andere noch hören können.
Das ist zwar nicht das Gleiche, wie blind zu sein, aber es ist auch
nicht einfach. Möchtest du noch mehr über den Toten wissen?« Damit
nahm er ihr seinen Stock wieder ab und trocknete den Griff an
seiner Tunika. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Er
war ein Kavallerist. Sein Pferd wurde an diesem Morgen getötet, und
Corvus hatte ihm dafür ein anderes geschenkt. Darum hatte er sich
auch möglichst dicht an den Dekurio gehalten, als sie die Meerenge
überquerten. Und genau das hatte ihm wiederum das Leben gerettet,
als die See die Legionare verschlang. Dann aber, als Corvus mit
seinen unmittelbaren Untergebenen kam, um seine Männer wieder
zurück ans Festland zu geleiten, wurde der Mann plötzlich von einem
seiner Kameraden angegriffen. Er war schon zu weit in die Welt der
Träume abgedriftet, als dass er noch in der Lage gewesen wäre,
Freund und Feind voneinander zu unterscheiden.«
»Meinst du den Kavalleristen oder den
Legionar?«
»Beide. Aber während der Rest der Kavallerie sich
langsam wieder erholte, lag dieser Mann hier bereits im Sterben.
Denn im Gegensatz zu den Legionaren konnten die Kavalleristen noch
genug erkennen, um zu wissen, wo die See aufhörte und das Land
anfing, sodass nicht alle von ihnen in dem Chaos der Albträume
endeten, so, wie es den Legionaren erging. Corvus hat als Einziger
wirklich verstanden, was sich gerade am Strand ereignete. Und es
war gut, dass dein Feuertraum dir verraten hatte, dass wir Corvus
am Leben lassen sollten.«
Doch das stimmte nicht! Graines Magen schien sich
selbst zu verschlingen, und Übelkeit übermannte sie. »Nein, das ist
nicht das, was ich in den Flammen gesehen habe«, widersprach sie.
»Ich habe gesehen, wie die gesamte Kavallerie und sämtliche
Legionssoldaten sich gegenseitig umgebracht haben. Und zwar bis auf
den letzten Mann. Nur Corvus überlebte das Massaker.«
Grübelnd ließ sie den Blick über die Meerenge
schweifen. In weiter Ferne, dicht am Ufer des Festlands, lavierte
der erste der römischen Leichter mit Hilfe der auf der Leeseite
sitzenden Ruderer rückwärts durch die Wellen und drehte sich dann
mit der Breitseite zum Ufer, um die Verwundeten und Erschöpften
zumindest so nahe an den rettenden Strand zu bringen, wie es, ohne
auf Grund zu laufen, nur irgend möglich war.
Sobald Corvus am Strand von Mona wieder zu sich
gekommen war, hatte er auch schon wieder das Kommando über seine
Truppe übernommen und den Männern befohlen, die Insel so schnell
wie möglich zu verlassen. Überraschenderweise verlief das ganze
Manöver in annähernd geordneten Reihen. Dieses vorläufige Ende der
Schlacht entsprach allerdings nicht dem, was Graine in ihrer Vision
gesehen hatte.
»Der Gouverneur hat nur die Hälfte seiner Männer
ausgeschickt, um uns anzugreifen«, erklärte Graine leise. »Und die
Hälfte dieser Hälfte hat es wieder zurück ans Festland geschafft.
Es sind also nur zwei Legionen in den Feuern auf Mona umgekommen.
Um meinen Traum zu bewahrheiten, hätten wir sie aber in jedem Fall
alle umbringen müssen.«
Dieses Mal dauerte es noch länger, ehe Bellos etwas
erwiderte. Lange genug, dass der auf den Wellen schaukelnde
Leichter den batavischen Kavalleristen wieder hinaus ins offene
Wasser der Meerenge treiben konnte, wo irgendwann die Strömungen
ihn erfassten und langsam um seine eigene Achse kreiseln ließen.
Dann wurde dieses Kreisen schnell und schneller, bis er mit jeder
Umdrehung zunehmend tiefer hinuntergezogen wurde und sein
wirbelnder, strohgelber Schopf schließlich unter der
Wasseroberfläche verschwand und nicht mehr zu sehen war.
Graine spürte einen plötzlichen Sog in der
Magengegend und eine seltsame Leere, ganz so, als ob mit dem
Versinken des Kavalleristen in ihrem Inneren eine Art Vakuum
eingetreten wäre. Sie war zornig. Und getrieben von diesem Zorn
entgegnete sie: »Aber Thorn lebt doch auch noch. Dabei hattest du
dich von ihr verabschiedet, als ob du glaubtest, dass sie die
Schlacht nicht überstehen würde.«
»Das war für später, für den Tag, an dem sie
schließlich doch sterben wird.« Bellos ging mit Graine
bemerkenswert geduldig um. »Keiner lebt auf ewig. Und es kann
grundsätzlich nicht schaden, das Glück eines jeden Tages gleich
dann zu lobpreisen, während wir diesen Tag noch erleben.«
Damit beugte er sich vor und ließ die Spitze seines
Stocks so sacht durch das Wasser gleiten, dass für einen kurzen
Augenblick eine kleine Furche entstand. Dann, in etwas ernsterem
Tonfall, ergänzte er: »Hätten wir Corvus nicht am Leben gelassen,
hätten die Legionare sich tatsächlich bis auf den letzten Mann
gegenseitig hingemetzelt. Genauso, wie in deiner Vision. Denn sie
waren zweifellos noch immer in ihrem Traum gefangen, als Corvus sie
in die Leichter zwang und ihnen schließlich befahl, Mona wieder zu
verlassen. Aber er ist ein guter Mann, und er hat ein Gespür für
das Wesen der Götter. Mir persönlich tut es also gewiss nicht leid,
dass er noch am Leben ist. Aber es kann natürlich sein, dass wir
damit irgendetwas im Geflecht der Zeit verändert haben und die
Zukunft sich dadurch auf eine Art und Weise verändern wird, die
noch weit über das hinausgeht, was du aus den Flammen herausgelesen
hast.«
Daran hatte Graine auch schon gedacht. »Als ich in
das Feuer gesehen habe«, erklärte sie noch einmal, »habe ich nicht
gesehen, dass wir Corvus ganz bewusst schonen, sondern nur, dass er
nicht getötet wurde. Und ich habe zwei Legionen gesehen, die auf
Mona eingefallen sind. Heute aber hat der Gouverneur lediglich eine
seiner Legionen ausgeschickt, nämlich die Zwanzigste. Die
Vierzehnte dagegen hat er zurückgehalten. In meinem Traum hatte er
beide auf einmal auf uns gehetzt.«
»Richtig. Und du hast gesehen, wie Valerius und
Cygfa unsere Streitmacht auf dem Küstenvorland anführten. Die
Bodicea wiederum hast du nicht gesehen. Mir scheint das Ganze so,
als hättest du möglicherweise zwei unterschiedliche Ereignisse zur
gleichen Zeit beobachtet. Ich meine, dass ein Teil dessen, was in
deiner Vision geschah, tatsächlich das war, was sich heute
ereignete, und dass der Rest sich noch zu irgendeinem anderen
Zeitpunkt bewahrheiten wird. Und selbst wenn sich der noch
ausstehende Teil deines Flammentraums nicht mehr ereignen sollte,
können wir an dem, was bisher hier geschehen ist, ohnehin nichts
mehr ändern. Wir können nur einfach versuchen, mit dem, was uns die
Götter gegeben haben, zu leben.«
Damit erhob Bellos sich. Sein Gehstock war so lang,
dass er ihm bis zum Scheitel reichte, und der Griff aus Widderhorn
war kunstvoll in der Form eines Krähenkopfs geschnitzt worden, mit
kleinen Bernsteinen als Augen. Wie winzige Flammen schienen die
Augen nun in der Sonne zu funkeln. Unter dem Griff wiederum wanden
sich Schlangen über den Stab, manche schienen das hölzerne
Kunstwerk zu erklimmen, andere glitten daran hinab.
»Mac Calma hat dich zum Träumer Brigas ernannt«,
stellte Graine fest.
Bellos lächelte sanftmütig. »Ich denke, dazu wurde
ich schon vor langer Zeit ernannt. Unser Vorsitzender des
Ältestenrats war lediglich derjenige, der das noch einmal in aller
Deutlichkeit hervorgehoben hat, sodass selbst ich das irgendwann
gesehen habe. Wollen wir jetzt wieder aufbrechen, ehe es zu dunkel
wird? Für heute werden uns die Legionen bestimmt nicht noch einmal
begegnen. Wahrscheinlich auch morgen nicht. Übermorgen dagegen, das
könnte ich mir zumindest vorstellen, erfahren wir womöglich
endlich, warum die Dinge heute diese seltsame Entwicklung genommen
haben. Oder vielleicht werden wir es auch nie erfahren, sondern
einfach nur weiterkämpfen wie bisher. In jedem Fall würden wir dann
gegen Männer antreten, die wir schon einmal geschlagen haben. Und
diese Erfahrung dürfte uns - und nicht etwa ihnen - durchaus zum
Vorteil gereichen.«
Er streckte Graine die Hand entgegen. Die Geste war
eine Art Entschuldigung für all die Grobheiten, die sie über sich
hatte ergehen lassen müssen und die dennoch nicht sein Verschulden
gewesen waren.
Graine ergriff seine Hand, ließ sich von ihm
hochziehen, und gemeinsam gingen sie zurück zum Großen Rundhaus.
Sie wanderten über jene Pfade, die Bellos sicher ertasten und
Graine noch halbwegs sehen konnte. Wege, über die sich bereits
wieder der Wegerich breitete und der Bärenklau mit seinen winzigen,
weißlichen Blüten, sodass er so aussah, als hätte sich feiner
Raureif über ihn gelegt, während die Knospen des Rotdorns schon
wieder verblüht waren. Von dem höher gelegenen Strandabschnitt aus
erhob sich zwitschernd ein Brachvogel in die Luft, um beinahe im
Sturzflug über das salzige Gras der Koppeln hinwegzusausen, bis er
das dahinter wachsende, frische Grün von Heidekraut und Birke
erreichte.
Während Bellos und Graine auf das Große
Versammlungshaus zumarschierten, entdeckte Graine dicht an der
Wasserlinie plötzlich ein Schwert und rannte zurück, um es zu
holen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie nun mit einem
Schwert in der Hand durch die Abenddämmerung auf das Haus der
Träumer zuschritt.
Corvus hatte sein Schwert fallen lassen, womit er
sich unglücklicherweise selbst die Möglichkeit nahm, sich in die
Klinge zu stürzen, und das, obwohl er kurz zuvor erst beschlossen
hatte, sein Leben dem Gott des Meeres zu opfern.
Er watete aus dem Wasser und beobachtete, wie seine
Stute, kaum dass sie sich mit letzter Kraft an Land geschleppt
hatte, plötzlich in die Knie sank und mitten auf dem harten Fels
des Festlands auf die Seite stürzte. Sofort ließ auch Corvus sich
neben ihr zu Boden fallen und legte prüfend eine Hand auf ihr Herz.
Schwach und unregelmäßig spürte er es unter seinen Fingern pochen,
doch immerhin schlug ihr Herz noch. Sie lebte. Und das war
wichtiger als alles andere - wichtiger als Ursus und Sabinius und
Flavius, wichtiger als die Frage, wie diese den quälend langen,
verzweifelten Rückzug verkraftet hatten, für den sie abermals die
Meerenge hatten durchschwimmen müssen, wichtiger sogar noch als
sämtliche überlebenden Männer der Zwanzigsten Legion
zusammengenommen. Jene treuen Kameraden, die seinen, Corvus’,
Befehlen selbst durch den Nebel ihrer Albträume hindurch Folge
geleistet hatten und die sich über eine Strecke von mehr als
anderthalb Kilometern hungrigen, zornigen Ozeans schließlich wieder
in die Sicherheit ihres Lagers gerettet hatten. Hinter diesem Tier
musste selbst die normalerweise durchaus bedeutsame Anwesenheit von
Suetonius Paulinus zurückstehen, Gouverneur von ganz Britannien
durch des Kaisers Gnaden, Sinnbild der immerwährenden kaiserlichen
Präsenz und beauftragt mit der Aufgabe, auch den Westen Britanniens
dem kaiserlichen Willen zu unterwerfen oder aber bei diesem Versuch
umzukommen.
Nicht weniger als dreitausend Männer hatten für das
Gelingen dieses Unterfangens mittlerweile bereits ihr Leben
gelassen, ohne dass der Kaiser seinem Ziel dadurch näher gekommen
wäre. Der Gouverneur hingegen lebte noch immer. Zudem waren
annähernd weitere zweitausend Legionssoldaten zwar nicht als Sieger
aus den zahlreichen Kämpfen mit den Wilden hervorgegangen, hatten
die Schlachten aber zumindest lebend überstanden. Der Gouverneur
jedoch betrachtete auch das keineswegs als irgendeine Art von
Errungenschaft, denn einen Rückzug, das war allgemein bekannt,
duldete er nicht.
Nun wartete ebendieser Gouverneur am Ufer des
Festlands. Dort, wo Heidekraut und Felsgestein aufeinandertrafen,
stand er mit fest verschränkten Händen und mit so starren
Gesichtszügen, als ob diese bereits aus jenem marmornen Gedenkstein
gemeißelt wären, den man ihm zu Ehren zweifellos eines Tages einmal
errichten würde. Ohne zu jener Stelle hinabzuschauen, wo Corvus
neben seinem Pferd kniete, erklärte er mit nüchterner Stimme:
»Präfekt, Ihr werdet Euch für Euer Vorgehen verantworten
müssen.«
Corvus kämpfte sich wieder auf die Füße. Seine
Zähne klapperten, doch er konnte nicht das Geringste dagegen tun.
Sein Leib zitterte, als litte er unter der Schüttellähmung, und
mechanisch und rein gewohnheitsmäßig glitt seine Hand zu jener
Stelle hinab, wo eigentlich sein Schwertheft hätte sein sollen. Nur
unter Mühen erinnerte er sich wieder daran, dass er seine Waffe ja
schon vor geraumer Zeit losgeschnallt hatte und dass sie ihm am
Strand von Mona einfach aus der Hand geglitten war, und zwar in
genau dem Augenblick, als er sein Pferd an jener Stelle zurück in
die Fluten geschickt hatte, wo die Strömungen eindeutig tödlich zu
sein schienen und wo bereits zwei Leichter gekentert waren.
Corvus war gefangen gewesen in einer Welt und in
einer Zeit, in der er glaubte, auf nichts mehr vertrauen zu können,
angefangen mit der Festigkeit des Bodens unter seinen Füßen bis hin
zu der Identität der Männer an seiner Seite, die sich langsam in
Raben zu verwandeln schienen. Folglich hatte er es in jenem Zustand
für einen Akt außergewöhnlicher geistiger Klarheit gehalten, dass
er immerhin noch klug genug war, die schwere Masse an Eisen um
seine Hüfte abzulegen. Ein Teil von ihm glaubte im Übrigen
weiterhin, dass dies die richtige Entscheidung gewesen war.
»Habt Ihr jemals einer Dezimierung beigewohnt?«
Dicht schien das Gesicht des Gouverneurs über dem von Corvus zu
schweben. Die blutunterlaufenen Augen waren tränennass in dem
unablässig wehenden Wind. Und der Zorn - oder vielleicht war auch
dies dem Wind zuzuschreiben - hatte seine Nase so rot werden lassen
wie einen Hahnenkamm. Zudem rann ein ständiger Strom von Schleim
aus ihren Löchern hervor. Der Gouverneur erinnerte an eine
lächerliche Figur in einem primitiven griechischen
Possenspiel.
Wie es der Zufall wollte, war Corvus tatsächlich
schon einmal Zeuge einer Dezimierung geworden. Die Erinnerung daran
hatte er allerdings sorgsam in die hintersten Ecken seines
Bewusstseins verbannt, dorthin, wo sie nicht ohne Vorwarnung
einfach wieder hervorbrechen und ihm letztlich doch noch den
Verstand rauben konnten. Und auch jetzt achtete Corvus sorgfältig
darauf, sich auf keinen Fall allzu genau an das Geschehen während
der Dezimierung zu erinnern, und entgegnete: »Nein.«
Noch immer gurgelte das Meer ihm durch Ohren, Kehle
und Stirnhöhle. Und es klebte auch auf seiner Netzhaut, sodass er
Probleme hatte, überhaupt klar sehen zu können. Oder vielleicht war
Letzteres auch bloß eine Nachwirkung von dem Räucherwerk der
Träumer, denn auch auf Mona hatte er seine Umgebung nicht richtig
erkannt.
In jedem Fall war es das Meer und nicht etwa die
Insel, das ihm die Sinne geraubt hatte, und selbst seine Nase und
sein Hals waren von der Sole derart verätzt, dass er in diesen
Regionen bloß noch ein Gefühl der Taubheit spürte. Selbst den
Gestank des Wolfsfells von Ursus, der im Übrigen ganz in Corvus’
Nähe stand, konnte er nicht mehr wahrnehmen - es hatte einmal eine
Zeit gegeben, und die lag erst weniger als einen Tag zurück, in der
Corvus dies gewiss für eine Art Wunder gehalten hätte. Mittlerweile
aber schien ihm der teilweise Verlust seiner Sinne bloß noch als
ein weiterer Meilenstein auf seinem Weg in das endgültige
Verderben. Er dachte darüber nach, wie merkwürdig so eine Welt ohne
Gerüche doch war, und für einen kurzen Moment war diese Überlegung
sogar wichtiger als die Drohung des Gouverneurs.
»Corvus...«
Corvus seufzte und unternahm keinerlei Anstrengung
mehr, diesen Ausdruck der Erschöpfung zu unterdrücken. Denn dort,
am leewärts gelegenen Strand von Mona, hatte er in die Augen und
die Herzen von Dingen geblickt, die noch wesentlich schrecklicher
waren, als der Tod es jemals sein könnte. Und selbst Luain mac
Calma hatte Corvus nur versprochen, dass dieser am Leben bleiben
würde, nicht aber, dass er auch seine physische Gesundheit
behielte. Und was die geistige Unversehrtheit des Präfekten anging,
hatte der Träumer schon gar keine Versprechungen mehr
gemacht.
Erschöpft entgegnete Corvus: »Der zweite Gouverneur
von Britannien, Scapula, hatte damals, während der Aufstände der
Eceni, gedroht, die Zwanzigste Legion von Camulodunum einer
Dezimierung zu unterziehen. Dann aber war er zu dem Ergebnis
gelangt, dass ihm zu einem solchen Akt letzten Endes wohl doch die
Befugnis fehlte. Diese Männer hier aber befinden sich noch immer in
der Gewalt des Meeres und der Träumer. Sie sind zu erschöpft, um
laufen zu können. Die meisten von ihnen können nicht einmal mehr
aufrecht stehen. Selbst wenn sie Euch jetzt hören könnten, glaube
ich nicht, dass sie körperlich dazu in der Lage wären, nun um ihr
Leben zu losen. Vor allem aber müssten dann jeweils neun von ihnen
einem Zehnten mit einem Knüppel den Schädel einschlagen. Und das,
da bin ich mir sicher, schafft hier keiner mehr, egal, wie
angestrengt Ihr auch nach solchen Männern suchen mögt. Und
überhaupt haben die doch allesamt gerade erst die Hölle am Strand
von Mona überlebt. Von denen metzelt doch keiner freiwillig einen
Freund und Kameraden nieder, der eben noch tapfer an seiner Seite
gestanden hat. Sicherlich, was das Töten der Auserwählten angeht,
könnte das gewiss die Vierzehnte Legion übernehmen. Aber wenn Ihr
jetzt die Männer der einen Legion darauf ansetzt, jeden Zehnten der
anderen Legion umzubringen, dann beschwört Ihr dadurch nur eine
Spaltung zwischen den Legionen des Kaisers herauf, die deutlich
länger anhalten wird, als wir hier auf Erden wandeln. Selbst wenn
uns noch Jahrzehnte des Lebens bevorständen.«
Der Blick des Gouverneurs schweifte einmal über die
gesamte Bucht und heftete sich dann wieder auf Corvus. Er atmete
tief ein und schien dies augenblicklich auch schon wieder zu
bereuen. Denn Ursus’ räudiges Wolfsfell war ganz in der Nähe und
durchtränkt mit dem salzigen Wasser des Meeres, was seinen Geruch
sicherlich nicht verbessert hatte. »Was mich betrifft«, entgegnete
der Gouverneur, »glaube ich sowieso nicht mehr, dass ich noch den
Luxus eines gesegneten Alters erleben werde. Besonders nicht nach
dem heutigen Desaster. Entweder wir schaffen es also, diese Insel
einzunehmen und alle, die zurzeit darauf leben, auszulöschen, oder
aber wir werden selbst mit dem Tode bestraft. Sicherlich, auch
während der Eroberung der Insel könnten wir umkommen, aber das wäre
immer noch besser als das, was uns auf Caesars Befehl hin angetan
würde, wenn wir als kläglich Besiegte wieder zu ihm zurückkehren
müssten. Also, fällt Euch vielleicht noch ein besseres Argument ein
- außer der Erschöpfung und der Kameradschaft Eurer Männer, meine
ich -, warum ich die, die mich enttäuscht haben, nun nicht trotz
allem den Zorn Roms spüren lassen sollte?«
Natürlich hatte Corvus längst begriffen, dass
allein die Tatsache, eine gute halbe Legion aus den Fängen des
Hades gerettet zu haben, noch lange nicht ausreichte, um diese
Männer anschließend ungescholten einfach wieder zu Kräften kommen
zu lassen. Noch während er sich aus dem Wasser zurück ans Festland
geschleppt hatte, war ihm dies bereits klar gewesen. Doch das war
nicht die einzige Erkenntnis gewesen, die ihm in diesem Moment
gekommen war, und so weihte er den Gouverneur schließlich auch noch
in den Rest seiner ursprünglich nur privaten Sichtweise der
Situation ein.
Ruhig, entschlossen und im vollen Bewusstsein
dessen, was er da gerade tat, erklärte Corvus: »Ja, ich habe noch
ein besseres Argument. Und zwar dürft Ihr die Männer schon allein
deshalb nicht dezimieren lassen, weil Ihr einfach nicht das Recht
dazu habt. Ihr habt Euch dieses Recht nicht verdient. Ihr wart
nicht da, wart nicht bei ihnen, als meine Männer sich dem Feind
stellten.«
Corvus sah, wie der Gouverneur gegen ihn zum Schlag
ausholte, und tat doch nichts, um diesem Schlag auszuweichen.
Stattdessen spürte er, wie das Heft des Messers von Suetonius
Paulinus ihn geradewegs an der linken Schläfe traf, genau an jener
Stelle, wo eigentlich sein Helm ihn hätte schützen sollen - hätte
er den nicht ebenfalls am Anleger von Mona von sich
geschleudert.
Er fühlte gerade noch das Entsetzen und die
unmittelbar darauf einsetzende Wut, die er immer spürte, wenn
jemand ihn geschlagen hatte. Dann aber nahm er nur noch wahr, wie
er zu stürzen schien. Es war ein sehr tiefer Sturz, während dem
Corvus die Gesichter all jener noch einmal vor seinem geistigen
Auge auftauchen sah, denen er gerne wieder begegnen würde, wenn es
ihm denn endlich einmal vergönnt sein sollte zu sterben.
Andererseits wusste Corvus nur allzu gut, wie groß der Zorn des
Gouverneurs war, sodass er nicht damit rechnete, schon allzu bald
in die Gnade des Todes entlassen zu werden. Er sah gerade noch, wie
Ursus ihm einen besorgten Blick zuwarf, war sich dann aber nicht
mehr sicher, ob er dies nun tatsächlich beobachtet oder sich
vielleicht auch nur eingebildet hatte. Plötzlich entdeckte er
Valerius, wie dieser auf seinem verrückten Pferd herangeritten kam,
und von diesem Augenblick an wusste Corvus mit letzter Sicherheit,
dass er in Ohnmacht gefallen war. Und endlich, nachdem schließlich
auch das Bild von Valerius wieder verblasst war, fand Corvus in
seiner Bewusstlosigkeit jene Freiheit, die er sich in der Realität
niemals zugestanden hätte, und er umarmte in Gedanken einen
dunkelhaarigen Alexandriner, jenen Mann, der ihm einst als
Abschiedsgeschenk den Falken des Horus überreicht hatte und der
danach nie mehr zu ihm zurückgekehrt war. Zum Schluss sah Corvus
auch seine Mutter wieder, was ihn überraschte. Andererseits aber
war er ja schließlich als Feind in das Land Brigas eingefallen,
sodass es nur richtig war, wenn ihm nun seine Mutter erschien, um
da zu sein, wenn das Leben ihres Sohns sein Ende nähme.
Die Bataver feierten, und irgendjemand hatte ein
Schwein geschlachtet.
In einem wogenden Rhythmus drang der Lärm der
weinseligen Gesänge an Corvus’ Ohr und verschwand dann wieder, ganz
ähnlich den Wellenbewegungen der See, nur klangvoller. Im Übrigen
passte das Kommen und Gehen der Gesänge auch viel besser zu dem
pulsierenden Schmerz in seinem Schädel als das Rauschen des Meeres,
einem Schmerz, der sich besonders in Corvus’ linker Schläfe zu
konzentrieren schien. Im gleichen Tempo drang der Geruch nach
ausgenommenem Schwein in seine Nase und verblasste schließlich
wieder. Doch selbst dieser wahrlich durchdringende Geruch schaffte
es nicht, den Gestank von nassem Wolfsfell zu übertünchen, der sich
hartnäckig in Corvus’ Nase und Kopf und in seinen beiden
Lungenflügeln festgesetzt zu haben schien und penetrant nach
monatealtem Fisch roch.
Corvus rührte sich nicht. Er lag einfach nur da und
genoss dankbar die im Grunde ekelerregende Geruchsmischung.
Schließlich bedeutete dieser Gestank ja, dass er, Corvus, wenn er
diese Welt denn nun verlassen müsste, wenigsten noch riechen
konnte, um sich damit später an seine Erlebnisse auf Erden erinnern
zu können.
Mehr noch als die Gerüche aber erstaunte Corvus,
dass er unter einer Decke lag. Und über seinem Kopf befand sich ein
ledernes Zeltdach, auf das in unregelmäßigem Stakkato der Regen
tröpfelte und damit den Rhythmus der batavischen Chöre verzerrte.
Im Übrigen hatte die Luft einen angenehm feuchten Geruch - von dem
ranzigen Gestank des Wolfsfells einmal abgesehen. Corvus lag auf
Leinen gebettet und trug auch nicht mehr länger seine Rüstung.
Irgendjemand hatte ihn entkleidet und gewaschen. Sein Gesicht
fühlte sich glatt und sauber an, und er schmeckte auch keine Sole
mehr, wenn er sich über die Lippen leckte. Und obwohl er es noch
immer nicht schaffte, die Augen zu öffnen, so verriet ihm die fast
schon beißend kühle Luft doch, dass es bereits Nacht war.
Die zweite große Überraschung, die Corvus erst
jetzt bewusst wurde, war, dass er auch gar keine Schmerzen mehr
spürte. Nur sein Kopf tat ihm noch weh, und er fühlte sich an wie
ein zerschlagenes Ei, aus dem langsam Corvus’ sämtliches
Denkvermögen rann und sich in einem heillosen Durcheinander auf dem
Boden seines Feldbetts zu sammeln schien. Doch diesen Verlust
seiner Geisteskraft erlebte er nicht zum ersten Mal, und es war
Theophilus gewesen, der Corvus damals ein Heilmittel gegen dessen
quälende Kopfschmerzen verabreicht hatte. Corvus dachte eine Weile
lang über Theophilus nach und darüber, wie dieser wohl die
Neuigkeit aufnehmen würde, dass sein Freund, der Präfekt,
exekutiert worden war, weil er in der Ausübung seiner Pflichten
versagt hatte.
Wie gerne wäre er nun zu seinem Freund und Arzt
gegangen, hätte ihm erklärt, welches Opfer er mit seinem Tod
gebracht hatte, welche Verpflichtung er eingegangen war und wie
gerne er diese erfüllt hatte. Und er wollte, dass nicht nur
Theophilus, sondern auch noch so viele andere erfuhren, was er,
Corvus, gegeben, wollte, dass selbst die Götter begriffen, was er
getan hatte, und dass sie den Gedanken, der dahintersteckte,
lobpreisten - und dass sie ihm nicht seine Ehre absprachen, egal,
wie Rom auch über die Sache urteilen mochte. Es verwunderte Corvus,
wie groß doch sein eigener Stolz war. Er hatte Jahre des Kampfes
durchgemacht, Jahre, in denen stets allein die Dicke seiner Haut
und die Schärfe des Schwertes, das diese schon bald durchtrennen
könnte, über sein Weiterleben oder aber den baldigen Tod
entschieden hatten. Und während all dieser Jahre hatte er immer
gedacht, dass es im Grunde doch bloß darum ginge, dass man lebte,
und vor allem, dass man gut lebte. Die Art und der Zeitpunkt seines
Todes aber schienen ihm stets nur zweitrangig zu sein. Zudem hatte
Luain mac Calma, dem Corvus auf ewig seinen tiefsten Respekt
entgegenbrachte, einmal etwas ganz Ähnliches gesagt: Nimm das
Leben, das die Götter dir schenken, und lebe es, so gut es nur
irgend geht. Und bleibe deinem eigenen Herzen treu.
Mittlerweile erahnte Corvus, dass Luain mac Calma
Dinge sehen konnte, die er selbst offenbar nicht erkannte, und dass
der Träumer es sicherlich nicht gutheißen würde, dass Corvus sein
Leben Manannan, dem Gott des Meeres, hatte opfern wollen. Zumal er
dies auch nur deshalb getan hätte, weil er hoffte, damit den Zorn
eines anderen Mannes beschwichtigen zu können.
In der schier nicht enden wollenden Dunkelheit
seines Geistes hörte Corvus die Stimme des Vorsitzenden des
Ältestenrats flüstern, während hinter ihm das Meer von Manannan
rauschte: Und wenn du die weiteren Schritte in deinem Leben von
nun an mit etwas mehr Sorgfalt planst, dann, so glaube ich
zumindest, wirst du meinen Sohn in diesem Leben auch noch
mindestens einmal wiedersehen...
Und Corvus dachte, er hätte seine Schritte diesmal
in der Tat überaus sorgsam geplant… Über diesem Gedanken schlief er
ein, tastete im Traum nach Theophilus und dem Vorsitzenden des
Ältestenrats, um sie zu fragen, warum er Valerius trotzdem noch
nicht wiedergefunden hatte und wo denn der Fehler lag, wo er in
seiner Planung wohl trotz aller Mühen wieder einmal versagt
hatte.
Angekommen an dem Ort jenseits der Zeit, träumte
Corvus schließlich von der Dezimierung seiner Kameraden und erlebte
aufs Neue, was es bedeutete, einer kompletten Legion dabei zusehen
zu müssen, wie jeweils neun von zehn Männern den zehnten mit
Knüppeln zu Tode prügelten; wie Soldaten einen Mann töteten, mit
dem sie bis dahin ihr Leben geteilt hatten, mit dem sie ihre
Mahlzeiten eingenommen und Schlachten geschlagen und mit dem sie,
in einigen Fällen, sogar ein Bett und Leidenschaft und Liebe
geteilt hatten. In seinem Traum war Corvus in der Lage, diesem
Massaker Einhalt zu gebieten, in seinem Leben jedoch hatte er dies
nicht vermocht.
Als er das nächste Mal erwachte, stellte er fest,
dass irgendjemand die Zeltklappe nach oben geschlagen haben musste.
Offenbar musste dieser Jemand gewusst haben, wie heilsam ein wenig
frische Luft bei Kopfschmerzen doch sein konnte. Die Brise, die
Corvus nun über das Gesicht streichelte, war sanft und ganz und gar
nicht so streng wie der schneidende Wind auf Mona, der diesen
heimtückischen Rauch und die Schreie längst verstorbener Männer und
alter Frauen mit sich getragen hatte. Der Geruch nach Schwein und
frischem Blut hatte sich verwandelt in den Duft von gebratenem
Fleisch. Und das wiederum bedeutete wohl nichts anderes, als dass
während Corvus’ geistiger Abwesenheit irgendjemand befohlen haben
musste, endlich auch das letzte noch verbliebene Mastschwein der
Quinta Gallorum zu schlachten.
Eine raue, müde Stimme sprach: »Na, das hat ja ganz
schön lange gedauert, bis Ihr endlich wieder aufgewacht seid. So
hart hat er Euch nun auch wieder nicht geschlagen. Ich dachte
schon, die Träumer hätten Euch Eure Seele gestohlen, und dass ich
nun Flavius ausschicken müsste, um zurück nach Mona zu schwimmen
und sie Euch wiederzuholen. Und den Gefallen hätte er Euch sogar
getan, das wisst Ihr genau. Nach unserem heutigen Erlebnis würde er
Euch sogar bis in den Hades und wieder zurück folgen, und das, ohne
auch nur ein einziges Mal zu murren.«
»Ursus«, unterbrach Corvus seinen Dekurio mit
tonloser Stimme, was recht unhöflich war, sodass er sich sogleich
bemühte, ein wenig zu lächeln, um seiner knappen Bemerkung damit
den Stachel zu rauben. Worauf Ursus anspielte, war im Übrigen ein
Erlebnis gewesen, das sich früher am Tage zugetragen hatte. Corvus
hatte nämlich mit außergewöhnlicher Reaktionsschnelle einen
Schwerthieb abgewehrt, der Flavius ansonsten den Kopf abgetrennt
hätte. Im Grunde war das zwar keine besonders verdienstvolle Tat
gewesen, und Corvus hatte nicht gedacht, dass irgendjemand dies
beobachtet hätte. Wahrscheinlich hatte auch niemand den Vorfall
beobachtet, aber Flavius hatte anschließend allen davon berichtet,
was wiederum einiges über Flavius’ Empfindungen aussagte - wenn
Corvus nur wüsste, was.
Er spielte mit dem Gedanken, sich nun aufzusetzen,
entschied sich aber doch dagegen und starrte stattdessen nach oben
und dann zur Seite auf die kleine, flackernde Specksteinlampe, die
einige merkwürdig geformte Schatten auf seine, Corvus’, Brust warf.
Eine Weile lang sah er diesen Schatten einfach nur zu, bis er
entdeckte, dass über ihm das ranzige Wolfsfell ausgebreitet lag.
Niemals, in den ganzen fünf Jahren, die er Ursus schon kannte,
hatte dieser einem anderen Mann erlaubt, seinen Talisman auch nur
mit dem Finger zu berühren.
»Ich bin dir dankbarer, als ich in Worte fassen
könnte«, fuhr Corvus müde fort. »Aber du solltest nicht hier sein.
Nach dem heutigen Tag kann es für einen Mann unangenehme
Konsequenzen haben, wenn man ihn in meiner Gesellschaft
sieht.«
Ursus saß gleich hinter Corvus’ Kopf und grinste.
Aus Corvus’ Perspektive aber sah es so aus, als ob er in Wahrheit
eines der Monster sei, denen Corvus am Strand von Mona begegnet
war. Corvus schloss die Augen, um das Trugbild wieder zu
vertreiben. Alles wurde schwarz. Da hörte er Ursus auch schon
widersprechen: »Ach, ein Weilchen werde ich bestimmt noch
ungestraft bei Euch sitzen dürfen. Zumindest so lange, wie Paulinus
sich mit seinen Kurieren berät. Und deren Unterredung könnte sich
allem Anschein nach bestimmt bis in den Morgen hinein erstrecken.
Geschieht ja schließlich nicht alle Tage, dass die Fürstlichkeiten
ihn einmal ganz persönlich anschreiben.«
»Fürstlichkeiten?« Nun setzte Corvus sich doch auf,
allerdings ein wenig zu hastig, sodass seine Umgebung für ihn zu
einem unheimlichen, düsteren Rot verschwamm. Er stützte die Stirn
auf die Knie, öffnete den Mund und atmete einige Male tief ein. Mit
gedämpfter Stimme hakte er nach:
»Welche Fürstlichkeiten? Haben die Eceni dem
Gouverneur etwa einen Boten geschickt?«
»Wohl kaum. Es scheint eher - das heißt, falls
Sabinius sich da nicht verhört hat, und er hat wirklich so lange an
dem Heft seiner Standarte herumrepariert, während er mit dem Rücken
ganz dicht am Zelt des Gouverneurs saß, dass selbst ich das schon
als ungehörig bezeichnen würde... Also, falls Sabinius richtig
gehört hat, stammt die Nachricht geradewegs von Cartimandua,
Königin der Briganter von des Kaisers Gnaden. Von des Kaisers
überaus bereitwillig gewährten Gnaden, sollte man in diesem Fall
wohl sagen. Aber auch der Legat ist da, zwei Tribune und die ersten
beiden Kohorten der Zweiten Legion. Und sie alle sind aus eigener
Initiative heraus aus dem tiefen Südwesten des Landes bis hier zu
uns gereist. Außerdem haben sie dem Gouverneur alle die gleiche
Nachricht überbracht, was dann wohl bedeuten dürfte, dass an dieser
Nachricht tatsächlich etwas dran ist.«
Corvus legte die Hände über die Augen und wünschte
sich sehnlichst, er könnte bereits wieder etwas klarer denken. Noch
immer glaubte er, die Schreie der Männer zu hören, glaubte zu
spüren, wie seine Albträume von außen gegen die Wände seines Zeltes
drückten. Aber plötzlich verschwanden diese Eindrücke auch wieder,
und alles war still.
»Wie genau lautete denn die Nachricht?«, fragte er
Ursus. »Was ist der Anlass dafür, dass die Kampfverbände der
Zweiten Legion derart weit in den Norden reisen und Cartimandua
einen Kurier so weit hinunter in den Süden schickt? Zumal die
Handelsrouten noch gar nicht wieder richtig passierbar sind.«
Ursus war kein Mann der feinen Zwischentöne, sodass
die Neuigkeiten geradezu aus ihm herauszusprudeln schienen. Fast
schon verschluckte er sich, als er sprach, und war offensichtlich
ganz erschüttert von der Bedeutung dieser Nachricht und der
politischen und auch ganz persönlichen Tragweite, die diese
womöglich für ihn haben könnte. In dem Tonfall eines Mannes, der
eine sehr wichtige Ankündigung zu machen hatte, erklärte er: »Der
Osten revoltiert. Die Eceni haben sich wieder einmal gegen den
Kaiser erhoben und stürmen Camulodunum. Mittlerweile dürfte von der
Stadt nur noch ein Haufen Asche übrig sein. Und als Nächstes sind
wohl Canonium, Londinium und Verulamium dran. Wenn die Legionen
also nicht bald ausrücken, um den Wilden Einhalt zu gebieten,
werden die einmal quer durch sämtliche Städte südlich des Flusses
hindurchbrausen, bis sie irgendwann in Berikos’ Reich unten an der
Küste angelangt sind.«
Corvus war entsetzt. Was er da gerade gehört hatte,
war doch ganz unmöglich. Und zugleich war es unvermeidlich. Wie ein
Wirbelsturm tobten diese beiden Einsichten durch seinen Kopf und
prallten unmittelbar hinter seiner linken Schläfe mit quälend
lautem Scheppern geradewegs aufeinander. »Und was ist mit der
Neunten passiert? Die sollten doch den Osten halten. Von dort aus
ließe sich doch jede Revolte, noch ehe sie richtig begonnen hätte,
problemlos niederschlagen.«
»Nicht mehr. Denn die Neunte Legion gibt es nicht
mehr. Die Eceni haben Arminius’ Taktik vom Rhein angewendet und
unsere Kameraden einfach niedergemetzelt. Was von der Neunten noch
übrig ist, und das ist wahrlich nicht viel, ist in der Festung an
der Ostküste eingekesselt und steht unter Belagerung. Petillius
Cerialis ist zwar noch am Leben, aber das wird, zumindest meiner
Einschätzung nach, auch nicht mehr lange dauern. Wenn er nur noch
einen Funken Verstand hat, stürzt er sich schon bald in sein
Schwert.«
Die Nachricht über den Verlust der Neunten Legion
schien Ursus nicht sonderlich zu beschäftigen, ganz so, als ob das
keine große Sache sei, sondern lediglich eine Angelegenheit, die
zwar einen einzelnen Mann vielleicht das Leben kosten könnte,
keineswegs aber Kaiser und komplette Heerscharen zerstörte.
Stattdessen richteten sich seine Gedanken allein auf seine ganz
persönlichen Anliegen, sodass er mit erregter Stimme fortfuhr:
»Flavius glaubt ja noch immer, dass die Frau, die wir damals
befreit hatten, die Bodicea war. Ein Glück, dass Ihr also
ausgerechnet Flavius heute das Leben gerettet habt. Ansonsten würde
dessen Bericht vor dem Gouverneur jetzt wohl etwas anders
ausfallen, und Ihr und ich und Sabinius könnten uns schon einmal
unseren Grabstein aussuchen. Denn dass Ihr den Gouverneur einen
Feigling genannt habt, das wird er Euch vielleicht noch vergeben.
War ja auch sonst niemand anwesend, der das mitgehört hätte. Aber
wenn Paulinus der Ansicht wäre, dass Ihr ausgerechnet jener
Rebellin, die nun das Feuer unter dem Hintern der östlichen Stämme
entzündet hat, die Freiheit geschenkt habt - also, das würde er
Euch mit Sicherheit nicht verzeihen. Präfekt, hört Ihr mir
eigentlich zu?«
Die Neunte Legion gibt es nicht mehr. Die Eceni
haben Arminius’ Taktik vom Rhein augewendet... Nein,
nicht die Eceni. Sondern Valerius. Niemand sonst hätte Rom auf
die gleiche Weise verraten können, wie es zuvor nur Arminius gewagt
hatte. Vor seinem inneren Auge sah Corvus Valerius wieder vor sich.
Sah noch einmal, wie dieser mitten in der Eceni-Siedlung auf diesem
wahnsinnigen Pferd thronte, den Prokurator zu seinen Füßen. Und
schon in jenem Moment hatte Corvus begriffen, dass Valerius sich
offenbar wieder seiner Schwester anschließen wollte. Wenn diese
überleben würde. Und wenn auch der Rest des Volkes der Eceni bereit
wäre, ihn wieder bei sich aufzunehmen, statt ihn noch auf der
Grenze zu ihrem Stammesgebiet zu steinigen.
Wenn man diese Geschichte mit einem gewissen
zeitlichen Abstand betrachtete, wenn man sich in die Sichtweise der
Stämme hineindachte und auch alles das mit einbezog, was Corvus in
der Zwischenzeit noch über den Krieg zwischen den Römern und den
Stämmen gelernt hatte, dann konnte man durchaus glauben, dass die
Götter Valerius’ gesamtes Leben allein im Hinblick auf diese eine
Aufgabe geprägt hatten: die Vernichtung der römischen Besatzer.
Sofern man denn an Götter glaubte und daran, dass sie sich ihre
Menschen zumeist nach ihren ganz eigenen Plänen zurechtschmiedeten.
Im Augenblick jedenfalls wollte Corvus nur allzu gerne an
irgendetwas glauben, das das Leben der Menschen formte und das auch
alles das bestimmte, was einen nach dem Leben noch erwartete. Im
Tode, genauso wie im Traum, ist alles möglich... Und auch das
hätte Corvus in diesem Moment nur allzu gerne geglaubt.
Plötzlich und scharf wie ein Messer drang die
Erkenntnis in ihn ein, dass er Valerius wohl auf immer verloren
hatte, und alles um ihn herum schien schwarz zu werden. Dann hörte
er sich zu seinem eigenen Erstaunen plötzlich sagen: »Aber
natürlich. Ich höre dir doch grundsätzlich zu. Und wenn du auch nur
einen Funken Verstand im Leibe hättest, würdest du jetzt Flavius’
Aufgabe übernehmen und dem Gouverneur von meiner Tat
berichten.«
Corvus wartete auf eine passende Antwort, nahm aber
nur Schweigen wahr. Langsam ließ er die Hände von seinem Gesicht
sinken und blickte in die kleine, doch schmerzend helle Flamme der
Specksteinlampe.
Ursus starrte seinen Vorgesetzten sprachlos an.
»Nein, Ihr habt mir offenbar gar nicht zugehört. Denn was ich sagen
will, ist doch, dass auf Flavius so oder so kein Verlass ist. Er
liebt Euch, und nun verdankt er Euch auch noch sein Leben. Und
darum wiederum liebt er Euch nicht nur, sondern hasst Euch auch
gleichzeitig. Und eines Tages wird er Euch verraten, weil er
einfach ein Schwätzer ist. An die Folgen dessen, was er sagt, denkt
er doch meistens erst hinterher. Ich dachte also, Ihr würdet Euch
dieses Problems schon wesentlich eher annehmen. Aber das habt Ihr
nicht getan. Ihr hättet ihn doch einfach da hinten auf dem
Küstenstreifen verrecken lassen können. Hättet ihm ja noch nicht
einmal selbst etwas antun müssen. Niemand hätte jemals davon
erfahren.«
»Vielleicht.« Der Duft von geröstetem Schwein
erreichte gleichzeitig sowohl Corvus’ Magen als auch seine Nase.
Hunger und Übelkeit schienen ihn schier zwischen sich zerreißen zu
wollen, und der Mund wurde ihm wässrig. Manchmal half es ja, in
solchen Momenten trotz der Übelkeit einfach etwas zu essen. Aber er
hatte diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, da
bedauerte er ihn auch schon wieder.
Langsam stieg ihm ein bitterer Geschmack die Kehle
empor, und er entgegnete: »Ich bin doch ohnehin so gut wie
verloren. Von mir aus soll der Gouverneur mich morgen früh ruhig
aufknüpfen, als Strafe dafür, dass ich den Rückzug von Mona
befohlen habe. Oder auch dafür, dass ich Breaca von den Eceni vor
der Kreuzigung durch den Prokurator bewahrt habe. Aber ganz gleich,
ob nun wegen der einen Sache oder der anderen oder auch wegen
beider Vergehen zusammen, so kann ich doch in jedem Fall nur einmal
sterben. Du und Sabinius dagegen, ihr habt das Leben noch vor euch.
Und was Flavius angeht, so glaube ich, dass der sein eigener Feind
ist, und ehe der irgendjemand anderen an den Galgen liefert, bringt
er sich doch eher selbst um. Aber wenn ihr beide, du und Sabinius,
meint, dass er euch zum Problem werden könnte, dürft ihr morgen
gerne selbst darüber entscheiden, was ihr mit ihm anfangen wollt.
Morgen oder an irgendeinem anderen Tag, je nachdem, wann Flavius
wieder vergessen hat, dass ich ihm heute das Leben gerettet habe.
In der Zwischenzeit würde ich dich gerne bitten, den Batavern
vielleicht eine kleine Gefälligkeit zu entlocken und mir etwas von
deren Schweinefleisch zu bringen. Ansonsten könnte es gut
passieren, dass ich mich auf dein kostbares Wolfsfell
übergebe.«
Plötzlich ertönte hinter der Zeltklappe eine
Stimme: »Das habe ich schon erledigt, hier ist etwas Fleisch für
Euch. Und es ist durchaus möglich, dass ich mein eigener Feind bin.
Aber ich werde trotzdem nicht vergessen, was Ihr für mich getan
habt.«
Plötzlich nahm die Luft im Zelt einen säuerlichen
Geruch an. Der Duft des gebratenen Schweinefleischs war
überwältigend würzig und köstlich, und dennoch schaffte er es noch
nicht einmal ansatzweise, den Gestank des nassen Wolfsfells zu
übertünchen. Corvus schloss die Augen, dann öffnete er sie wieder.
»Es tut mir leid.« Doch zu seinen Füßen schien sich bereits ein
gähnender Abgrund aufgetan zu haben. Haltlos fielen die Worte in
die Tiefe. Eine einfache Entschuldigung reichte hier nicht mehr
aus, würde niemals ausreichen können.
Unmittelbar vor der Tür, noch nicht ganz im Inneren
des Zelts, stand Flavius. Müde schüttelte er den Kopf. »Ihr habt
nur gesagt, was Ihr denkt. Und auch Ursus hat nur gesagt, was er
meint. Vielleicht hat er damit sogar recht. Hätte ich heute Morgen
nicht gesehen, wie Ihr den Schwerthieb des Zenturios von mir
abgewehrt habt, vielleicht würde ich dann in genau diesem Moment
mit dem Prokurator sprechen. Oder auch morgen, wann auch immer mir
diese Geschichte wieder eingefallen wäre oder auch nicht. Aber
andererseits, selbst wenn ich irgendwann mit dem Gouverneur
sprechen würde, könnte das bereits zu spät sein. Ich bin
schließlich nicht der Einzige, der weiß, was Ihr getan habt. Denn
wir waren insgesamt zwanzig Männer, die mit Euch in die Siedlung
der Eceni geritten sind, um dort den Prokurator zu bezwingen. Und
ich war sicherlich nicht der Einzige, der begriffen hat, wen wir da
eigentlich vor dem sicheren Tod gerettet haben. Wenn Ihr also
glaubt, dass nur ich auf die Idee gekommen wäre, mir mein eigenes
Leben zu erkaufen, indem ich meinen Vorgesetzten verrate, seid Ihr
ein noch größerer Narr, als ich ohnehin schon von Euch
dachte.«
Flavius ließ den Blick einmal über Corvus’ gesamten
Körper schweifen, begonnen bei den Wunden an dessen Fußgelenken,
die er sich an Bord zugezogen hatte, über die knotige Narbe unter
seinen Rippen, die von einem Speerstoß herrührte, bis zu der
frischen, offenbar schmerzhaft pochenden Verletzung an dessen
linker Gesichtshälfte. Und irgendetwas flackerte dabei in Flavius’
Augen auf. Vielleicht war es Kummer gewesen oder auch Boshaftigkeit
oder Verachtung oder das Versprechen von Vergeltung, das er sich
noch für einen späteren Zeitpunkt aufheben wollte.
»In jedem Fall möchte der Gouverneur Euch jetzt
gern in seinem Zelt sprechen. Er hat ein Tribunal zusammengerufen.
Aber vorher solltet Ihr Euch wieder ankleiden.«
Flavius hatte ein hölzernes Brett mitgebracht, auf
dem drei Scheiben heißen Schweinefleischs lagen, neben denen sich
wiederum ein Häufchen Oliven befand. Das Fleisch war vorzüglich
gegart, in der Mitte noch leicht rosa, die knusprige Kruste war
gebräunt und delikat gewürzt, und die Oliven waren bereits
entkernt. Flavius setzte sein Geschenk an der Schwelle zu Corvus’
Zelt ab und trat wieder zurück in die wolkenlose Nacht. Er wandte
sich um, ging drei Schritte, machte dann aber noch einmal kehrt,
und mit kummervollem Gesicht, den Mund vor innerer Qual verzerrt,
blickte er seinen Präfekten an.
Die Stimme schwer vor lauter Gram sagte er: »Ich
hatte wirklich mehr von Euch erwartet.«
Es war von Anfang an ein Risiko gewesen. Von dem
Augenblick an, als Corvus mit den zwanzig Legionaren, die zu seinem
persönlichen Gefolge gehörten, in die Siedlung der Eceni geritten
war und dann gesehen hatte, wie eine Frau, die ihm wohlvertraut
war, unter einem Schandpfahl auf dem Boden lag. Genau genommen
hatte er sich sogar schon viel eher in Gefahr gebracht, in dem
Moment, als er jenen Falkenspäher der Coritani mit der Messerwunde
an der Unterlippe entdeckt und in dessen Augen diese rätselhafte
Wildheit gelesen hatte. Und sogar noch eher hatte das Risiko
begonnen, damals, als er einen Jungen aus dem Volk der Eceni in
Gallien auf einem Pferdemarkt entdeckt hatte und noch wesentlich
mehr in ihm erkannte als bloß dessen ungezügeltes Temperament
…
Doch es war nutzlos, nun sämtliche
Fehlentscheidungen, die er jemals getroffen hatte, im Geiste noch
einmal nachzuvollziehen. Er hatte Grenzen überschritten und
Vertrauen missbraucht, und jedes Mal hatte er sich wieder
irgendeine fadenscheinige Rechtfertigung für sein Handeln
ausgedacht. Immer wieder hatte er sich eingeredet, dass er in
Wirklichkeit keinen Verrat an seinem Kaiser beziehungsweise an
seiner Standarte beziehungsweise an dem Eid, den er einst seinem
General geschworen hatte, begehe. Hatte sich in dem Glauben
gewähnt, dass er genau Bescheid wüsste über das komplexe
Lebensgefüge innerhalb der Stämme, und dass er darum recht gut -
wahrscheinlich sogar besser als jeder andere - dazu geeignet sei zu
beurteilen, wie man das Chaos und das Elend, das andere
anzettelten, durch geschicktes Eingreifen vielleicht doch noch zum
Besseren wenden könnte. Corvus war der Ansicht gewesen, dass er
stark genug sei, um stets und in allem, was er tat, ein Ehrenmann
zu bleiben, und dass diese, seine ganz persönliche Ehre irgendwann
auch der Ehre seiner Rasse und seines gesamten Berufsstands zugute
käme.
Nun marschierte er den kurzen Weg durch Heidekraut
und die ersten Schlammpfützen zum Zelt des Gouverneurs und dachte
darüber nach, ob er das, was ihm gerade durch den Kopf gegangen
war, nicht auch einfach dem Tribunal erzählen sollte, das im
Zeltinneren bereits auf ihn wartete. Dann aber schienen die Worte,
die er eben noch auf seiner Zunge getragen hatte, sich seltsam zu
verkrümmen und zu verbiegen, sodass er sie doch lieber
unausgesprochen ließ und sie aus seinem Kopf verbannte. Er wollte
nicht lügen, wollte das winzige Stückchen vom Leben, das ihm noch
verblieb, nicht mit Unwahrheiten besudeln. So viel immerhin hatte
er mittlerweile gelernt.
Stattdessen grübelte er darüber nach, wie er die
Wahrheit am geschicktesten vermitteln könnte: Ich habe es getan,
weil diese Frau dort auf dem Boden mir einst ihre Waffe angeboten
hatte, als ich dringend eine Waffe brauchte. Auch wenn ich die
tiefere Bedeutung dessen, was sie mir damals angeboten hatte, in
dem Moment noch gar nicht verstanden hatte. Vielleicht aber
würde er auch sagen: Ein kleines Mädchen schenkte mir einst ihr
Pferd, und zwar als ein Geschenk einer Schwester an einen Bruder.
Und in meiner Dummheit hatte ich damals gedacht, dass ich bereits
wüsste, was sie mir damit überreicht hatte. In Wirklichkeit aber
habe ich das erst verstanden, als ich heute mit genau diesem Pferd
die Meerenge durchquerte und begriff, was für eine großartige Geste
dieses Geschenk doch gewesen war. Oder aber er sagte einfach
nur: Ich tat es, weil die Ehre es mir zu gebieten
schien.
Letzteres aber klang für ihn, Corvus, irgendwie
hohl. Gleichzeitig jedoch war das die einzige Erklärung, bei der
die Hoffnung bestand, dass die, die sich nun im Zelt versammelt
hatten, sie noch irgendwie würden nachvollziehen können. Alles in
allem kam er schließlich zu der Entscheidung, dass es wohl am
einfachsten wäre, wenn er einfach schwieg. Denn was den Ausgang des
Tribunals betraf, würde daran sowohl die eine wie die andere
Erklärung ohnehin nichts mehr ändern können.
Dann hatte er das Zelt erreicht. Die Kohlebecken
ließen die Zeltwände stellenweise rötlich aufglühen. Noch vor der
Zelttür konnte Corvus bereits die Wärme und die feuchte Luft, den
Schweiß und den vagen Gestank der verbrennenden Kohlen wahrnehmen.
Und plötzlich wurde ihm auch sein eigener Geruch bewusst, der
Geruch nach nassem Wolfsfell, ein Umstand, der ihm in seiner
ohnehin prekären Situation nun sicherlich nicht zum Vorteil
gereichen würde. Doch es ließ sich nichts mehr daran ändern.
Er holte noch einmal tief Luft, genoss den Duft des
Heidekrauts und des Meeres und nahm die scharfe Kälte der
Frühlingsnacht in sich auf. Bis er schließlich kurz an der
Zeltklappe kratzte. Gleich darauf konnte er hören, wie der
Schreiber sich erhob, um ihm die Tür zu öffnen und ihn jenen
Offizieren anzukündigen, die nun über all das, was Corvus in seiner
Heereslaufbahn gewesen war, zu Gericht sitzen würden.
Doch was ihn nun erwartete, war gar kein Tribunal.
Es war etwas noch sehr viel Größeres. Der Legat und die Tribune der
Zweiten Legion waren da, genauso wie der Legat und die Tribune der
Vierzehnten Legion. Zwei der drei rangältesten Offiziere der
Zwanzigsten Legion waren noch am gleichen Tag ums Leben gekommen,
wodurch nur noch ein rangniedrigerer Tribun zurückblieb, um seine
Legion anzuführen und zu repräsentieren.
Acht Offiziere drängten sich um jenen Tisch des
Gouverneurs, der eigentlich nur für vier geschaffen worden war,
Schulter an Schulter, regelrecht zusammengepfercht, und mit kleinen
Lämpchen vor einem jeden von ihnen, sodass Streifen aus Licht und
Schatten von unten über ihre Gesichter zu kriechen schienen. Ganz
am Ende des Tisches saß ein neunter Mann, der etwas stämmiger war
als die anderen und dessen Haar von einem so hellen Blond war, dass
es fast schon weißlich schimmerte. Er allein hatte genügend Raum
zum Atmen, um sich zu bewegen und um seine dicken Finger um seinen
Weinkelch zu legen. Drei mal drei, die Zahl des Jupiter, oder aber
auch die Zahl eines kompletten Militärgerichts.
Die Binsen auf dem Boden waren noch in nassem
Zustand geschnitten worden, sodass sie mittlerweile zu verfaulen
begannen. Corvus spürte, wie sie ihm unter den Füßen wegrutschten,
während er näher trat. Die Zeit schien sich zu dehnen, sodass ihm
der kurze Weg von der Tür bis zu jenem Platz, an dem er zu stehen
hatte und wo die Lampen besonders hell brannten, ebenso lang vorkam
wie die Überquerung der Meeresenge von Mona. Er kannte sämtliche
der Offiziere, die ihm nun gegenübersaßen, manche von ihnen besser,
andere weniger gut. Mit Galenius, dem Legaten der Vierzehnten
Legion, war Corvus in seiner Jugend befreundet gewesen. Agricola,
der Tribun der Zwanzigsten, teilte sich ein Zelt mit dem
Gouverneur. Und Clemens, der befehlsführende Tribun der Zweiten
Legion, hatte mit seinen Truppen einen Winter in Camulodunum
verbracht und so oft Wein, Bad und Essen mit Corvus geteilt, dass
dieser ihre Treffen schon gar nicht mehr hatte zählen können.
Keiner dieser Männer wagte es nun, ihm in die Augen
zu schauen. Und keiner ließ auch nur im Geringsten erkennen, dass
er Corvus bereits kannte. Somit blieb es also dem weißblonden
Britannier überlassen, sich schließlich umzuwenden, Corvus vom Kopf
bis zu den Füßen zu mustern und zu fragen: »Und das hier soll der
Mann sein, den ihr gerne tot sehen möchtet? Sieht doch eigentlich
gar nicht so aus, als ob der das Zeug hätte, erst den Göttern in
die Augen zu blicken und das dann auch noch völlig unbeschadet zu
überstehen, egal, ob nun im Meer oder an Land.«
Er sprach Latein mit dem Akzent eines Mannes aus
dem Norden. Keiner erwiderte irgendetwas. In einem Militärgericht,
das durch den Befehl und die Zustimmung des Kaisers zusammengerufen
wurde, fügten sich die Anwesenden üblicherweise der Ansicht jenes
Offiziers, der den höchsten Rang bekleidete, was in diesem Fall der
Gouverneur war. Ein Mann der Stämme dagegen, selbst wenn er ein
Kurier einer dem Kaiser treu ergebenen Königin war, galt hier
schlicht als Barbar, dessen dümmliche Bemerkung ihm somit verziehen
war und nicht ins Protokoll aufgenommen wurde.
Endlich hatte Corvus seinen Platz vor dem
Gouverneur erreicht und blieb stehen. Nur sehr langsam sah jener
Mann, dessen Wohlwollen nun darüber entschied, ob Corvus auch
weiterhin leben würde oder nicht, von seinen beiden schiefergrauen
Windhunden auf, die bis dahin offenbar seine ganze Aufmerksamkeit
gefesselt hatten. Paulinus hatte sich wieder beruhigt. Der Zorn,
den er vor nicht allzu langer Zeit noch empfunden hatte, war einer
für ihn typischen nüchternen und fast schon ätzend scharfen Neugier
gewichen.
Corvus hatte schon des Öfteren mit ansehen müssen,
wie der Gouverneur Männer regelrecht in die Verdammnis geschickt
hatte, als er in genau dieser Stimmung gewesen war. Corvus
versuchte, dem offenen Blick aus braunen Augen so gelassen zu
begegnen, wie sein dröhnender Kopf es ihm nur irgend erlaubte.
Wahrscheinlich konnten die Männer, die nun über ihn urteilen
würden, zwar nicht das Hämmern des Herzens in seiner Brust hören.
Aber sie würden wahrscheinlich das leichte Beben sehen, das sein
Herz mit jedem neuerlichen Schlag durch seinen Körper jagte.
Vorsichtig presste Corvus die Fingerspitzen an die Seiten seiner
Beine, damit wenigstens seine Hände nicht zitterten.
»Und, habt Ihr in der Zwischenzeit ein wenig geruht
und Euch etwas gestärkt?«, fragte der Gouverneur schließlich.
»Ja.« Das war zwar eine Lüge, aber immerhin nur
eine kleine Lüge, verglichen mit dem riesigen Berg an Verrat, den
Flavius oder irgendeiner der anderen von Corvus’ persönlichem
Gefolge nun über ihm zusammenstürzen lassen würde. Irgendeiner
jener zwanzig, die mit ihm in die Siedlung der Eceni geritten
waren, und von denen acht dem Meer beziehungsweise den Träumern zum
Opfer gefallen waren. Ihnen allen hatte er sein Leben anvertraut
und sie ihm. Corvus bemühte sich also, jetzt nicht darüber
nachzudenken, wer sonst, außer Flavius, ihn womöglich noch verraten
würde - derlei Gedanken spiegelten sich nur allzu leicht auf dem
Gesicht eines Mannes wider.
»Gut.«
Der Gouverneur schob seinen Stuhl ein Stück vom
Tisch zurück, erhob sich und stützte sich mit beiden Händen auf die
eichene Tischplatte. Der Schreiber, den Corvus insgeheim regelrecht
verabscheute, saß in dem trüben Zwielicht hinter Paulinus, bereit,
den Urteilsspruch zu protokollieren.
Der Gouverneur nahm eine der vor ihm auf dem Tisch
stehenden Lampen auf und stellte sie dann auf ein kleines Podest
dicht neben der Zeltwand, sodass die Schatten sich streckten und
man den Schreiber kaum mehr erkennen konnte. Anschließend kehrte
Paulinus wieder zurück zu seinem Platz hinter seinem Stuhl. Bis auf
das Schlurfen seiner Füße über die mit dem Schleim der Fäulnis
überzogenen Binsen auf dem Boden herrschte Totenstille im
Zelt.
Doch das Licht der kleinen Laterne auf dem Podest
ließ auch die scharfen Züge des Gouverneurs noch deutlicher
hervortreten, und mit einem Mal begriff Corvus, dass er diesen Mann
im Grunde überhaupt nicht kannte. Von allen Gouverneuren, denen er
bisher gedient hatte, war Suetonius Paulinus der Einzige, bei dem
Corvus sich nicht die Zeit genommen oder die Mühe gemacht hatte,
sich in dessen Wesen hineindenken zu wollen.
Dennoch waren die Vorlieben von Paulinus natürlich
allgemein bekannt. Neben dem kurzweiligen Zeitvertreib, den die
Hunde und der junge Hundeführer ihm boten, liebte der Gouverneur
die Gesellschaft von Agricola, der dessen Zelt bereits geteilt
hatte, seit sie beide das erste Mal in den Westen ausgesandt worden
waren. Ebenso bekannt waren Paulinus’ Abneigungen, zu denen zum
einen die Unordnung und zum anderen die Ineffizienz zählten - beide
bestimmten bedauerlicherweise das Leben eines jeden Mannes im
Dienst der Legionen - und natürlich die Erinnerungen an jenen
bereits lange zurückliegenden Feldzug mitten im Atlasgebirge, das
nach ihrer aller Ansicht das Dach der Welt darstellte. Sogar über
die näheren Einzelheiten dieser unliebsamen Facetten in Paulinus’
Leben wusste man in den Legionen unter seinem Befehl gut Bescheid.
Und dennoch sagte einem dieses Wissen noch nichts über jene Dinge,
die seine Kindheit und seine Jugend geprägt hatten, verrieten einem
nichts über die Männer, die er bewundert hatte, und über jene, die
er verachtete, jene, die noch immer seine Ideen beflügelten und an
deren Anerkennung ihm gelegen war und deren Missbilligung ihn
verletzte.
Viel zu spät erst erkannte Corvus, dass ihm all
dieses Wissen fehlte und dass dies genau jener
Informationsvorsprung war, der ihm schließlich das Leben hätte
retten können. Der Druck in seinem Schädel nahm kaum mehr
erträgliche Ausmaße an. Im Stillen fragte er sich, ob er nun wohl
in Ohmacht fallen würde und ob das vielleicht noch irgendetwas an
seinem Schicksal ändern könnte.
Der Gouverneur senkte den Blick auf seine eigenen,
verschränkten Hände. Seine Finger waren fein wie die eines
Künstlers, die Nägel ordentlich gekürzt und sehr sauber. Und man
musste wahrlich eine Menge Zeit aufbringen, um dies auch während
eines Feldzugs zustande zu bringen. Von allen anwesenden Offizieren
konnte allein Corvus mit vergleichbar sauberen Nägeln aufwarten,
wenngleich dies natürlich einzig und allein daran lag, dass er den
größeren Teil des Tages im Wasser verbracht hatte. Allerdings war
ihm die Erinnerung an die Durchquerung der Meerenge gerade in
diesem Moment keine große Hilfe.
»Ich habe unserem Gast, Velocatos, soeben von Eurem
Versagen bei der Eroberung Monas berichtet«, ergriff Paulinus
wieder das Wort. »Er ist der Ansicht, dass ein Mann, der so etwas
verbrochen hat, prinzipiell nicht am Leben bleiben sollte.«
Endlich, das Warten hatte ein Ende. Corvus war in
gewisser Weise erleichtert. »Und es liegt ganz allein in Eurer
Macht, dieses Todesurteil zu vollstrecken«, erwiderte Corvus.
»Selbstredend. Es könnte also durchaus sein, dass
ich das auch tatsächlich veranlassen werde. Und es gibt eindeutig
so manchen unter Euren Offizierskameraden, die das befürworten
würden.« Langsam ließ Paulinus den Blick über die Köpfe der vor ihm
sitzenden Männer schweifen. Clemens von der Zweiten Legion errötete
leicht. Der Rest der Männer verharrte lobenswerterweise in
Schweigen und saß wie erstarrt einfach nur auf seinem Platz. »Mein
Gast meint allerdings auch, dass es in Eurem Fall vielleicht doch
ein wenig überstürzt wäre, Euch gleich zum Tode zu verurteilen. Er
meint sogar, Ihr besäßet ein außergewöhnliches Maß an Mut und
innerer Stärke, und er schwört, dass Ihr darum seiner Ansicht nach
wohl unter dem Schutz der Götter der Insel von Mona stehen müsst.
Ersteres erwarten wir natürlich von jedem Offizier der römischen
Legionen. Letzteres wiederum... nun, unter den gegenwärtigen
Umständen dürfte Euch das wahrscheinlich noch zugute kommen.«
Und wenn du die weiteren Schritte in deinem
Leben von nun an mit etwas mehr Sorgfalt planst, dann, so glaube
ich zumindest, wirst du meinen Sohn in diesem Leben auch noch
mindestens einmal wiedersehen...
Corvus hatte den Eindruck, als ob die Luft, die ihn
umgab, in diesem Augenblick einen Riss bekäme und ein Ruck sie
durchwogte. Er bemühte sich, nun tatsächlich gemäß mac Calmas
Empfehlung zu handeln und ausnahmsweise einmal mit
außergewöhnlicher Behutsamkeit vorzugehen, sodass er nun einfach
nur schwieg und nicht etwa hinterfragte, was genau die Offiziere
denn bereits über ihn wüssten. Und er lächelte auch nicht, atmete
noch nicht einmal, obwohl ihn die Anspannung an den Rand der
Ohnmacht brachte, sondern hob lediglich leicht eine Braue und
wandte sich um, um jenen blonden Stammesangehörigen zu mustern, der
sich den einzig bequemen Platz am Ende des Tisches gesichert
hatte.
Der Britannier hatte eine kräftigere Statur als
jeder andere der Anwesenden. Sein Körperbau glich in etwa dem der
Bataver, und sein Hals war so dick, dass es aussah, als säße sein
Kopf unmittelbar auf den Schultern. Sein Haar dagegen wirkte
seltsam feminin, und bei Tageslicht war es wahrscheinlich von einem
reinen, silbrigen Weiß. Im Schein der Lampen jedoch hatte es das
blasse Gelb von polierten Fohlenhufen angenommen. Locker lag es auf
seinen Schultern und fiel dann schwer über eine grellgrüne Tunika
mit einem Muster aus gelben Kordelknoten am Saum und an den
Unterkanten der kurzen Ärmel. Der goldene Reif, der sich dicht über
seinem Ellenbogen um seinen Arm wand, war von solch teurer Machart,
wie ein Angehöriger der südlichen Stämme es sich niemals leisten
könnte. In den Reif eingelassen war die lang gestreckte Silhouette
einer Stute, die ganz aus Weißgold gefertigt war und über der
wiederum ein Dreieck zu schweben schien.
Velocatos. Langsam begann Corvus, mit diesem Namen
eine gewisse Bedeutung zu verknüpfen. Denn der Mann war ganz
eindeutig nicht bloß ein Kurier. Und auch die Tatsache, dass
ausgerechnet ihm der Platz am Kopfende des Tisches zugewiesen
worden war, erschien Corvus nun logischer als noch vor wenigen
Augenblicken. »Es ist lange her«, wandte er sich an Paulinus’ Gast,
»dass wir zuletzt durch die Anwesenheit eines Kuriers der Briganter
beehrt wurden. Vor allem nicht von dem Gemahl von Cartimandua, der
Königin der Briganter.«
Das Licht der kleinen Laternen ließ die Augen des
Gesandten blässlich leuchten. »Es ist ja auch schon eine ganze
Weile her, dass die Eceni den Aufstand probten. Aber wenn ich mich
recht erinnere, hattet Ihr auch zum Zeitpunkt ihrer letzten Revolte
bereits den Dienstgrad des Präfekten inne, nicht wahr? Ich meine,
damals, als man dem Sohn des Gouverneurs für seinen Einsatz in der
Schlacht der Zerschlagenen Stämme das Eichenblatt verlieh.«
Der Gouverneur wusste ganz genau, wie die Schlacht
in Wahrheit verlaufen war, und zumindest, was seine eigenen
Offiziere anbelangte, hatte er zu diesem Thema niemals falsche
Schmeicheleien erwartet. Mit formvollendeter Höflichkeit entgegnete
Corvus also: »So, das ist also der Name, unter dem diese Schlacht
im Norden bekannt wurde? Die Eceni nennen sie die Schlacht der
Salmfalle. Sie feiern sie noch heute als einen Sieg über die
Besatzer. Und zumindest was mich ganz persönlich betrifft, würde
ich ihnen in dieser Hinsicht gewiss nicht widersprechen. Mal
abgesehen davon, dass die Vergeltungsmaßnahmen, die im Nachhinein
über ihr Volk hereinbrachen, natürlich von außergewöhnlicher
Grausamkeit waren, sodass man sagen könnte, dass die Eceni diese
Schlacht letztendlich doch verloren haben.«
Der junge Tribun der Zweiten Legion schnappte
hörbar nach Luft. Seine Offizierskameraden dagegen hatten sich
deutlich besser unter Kontrolle. Galenius, Legat der Vierzehnten
Legion, der früher einmal Corvus’ Freund gewesen war, wagte es
immerhin, den Blick ein wenig nach rechts schweifen zu lassen und
dann ein Auge langsam zu schließen.
Der blonde Stammesangehörige am anderen Ende des
Tisches starrte Corvus nur regungslos an. Dann griff er nach seinem
Becher, ließ den Wein darin so heftig kreisen, bis dieser seine
Finger rötlich benetzte, und entgegnete in gedehntem Tonfall: »In
einer Schlacht gibt es die, die Glück haben, und es gibt die, die
einfach nur mit unverschämter Dreistigkeit voranpreschen. Und
manchmal ist es schwer, den einen von dem anderen zu unterscheiden.
Vielleicht war Euer Handeln heute auf der Insel der Götter also
doch weniger mutig, als es zuerst schien. Womöglich habt Ihr nur
noch nicht so recht begriffen, aus welcher Richtung die wirkliche
Gefahr droht. Sicherlich, wir könnten die Eceni-Siedlungen jetzt
mal wieder mit einer Welle der Vergeltung überrollen. Aber meint
Ihr denn allen Ernstes, dass man damit die Zerstörung von
Camulodunum bereits wieder gerächt hätte? Und glaubt Ihr wirklich,
dass das bereits ausreichen würde, um die Eceni davon abzuhalten,
auch noch das gesamte Gebiet südlich von Camulodunum
niederzubrennen, bis hinunter zu den Häfen im Süden, wo Eure
Schiffe anlegen und Eure Händler ihren Geschäften nachgehen?«
»All das, was Ihr da aufzählt«, widersprach
Corvus,
»können die Eceni allein gar nicht schaffen. Dazu
sind sie viel zu wenige. Und ich denke auch nicht, dass ihr
zerstörerischer Ehrgeiz so weit reicht, dass sie sich davon so weit
aus ihrem eigentlichen Heimatgebiet hinaustreiben lassen.«
Der blonde Hüne lächelte. Seine Zähne, zwischen
denen jeweils eine winzige Lücke zu sehen war, waren kräftig wie
kleine Pfähle. »Dann ist es nur noch umso bedauerlicher, dass die
Eceni eben nicht allein auf sich gestellt sind. Die Trinovanter
haben sich mit ihnen verbündet. Im Übrigen, wie hätten die
Trinovanter sich einem solchen Bündnis auch widersetzen sollen?
Schließlich steht ganz Camulodunum in Flammen. Und hätten sie sich
nicht auf die Seite der Eceni geschlagen, hätten diese nicht nur
die Römer, sondern auch die Trinovanter angegriffen. Die
Catuvellauner, denke ich, werden Rom trotz allem die Treue halten.
Aber die Coritani und die Cornovii haben sich bereits zum Banner
der Bodicea bekannt. Und sogar ein halber Flügel der batavischen
Kavallerie hat sich von uns losgesagt und hält nun die letzten
Überlebenden der Neunten Legion in deren eigenen Winterforts
gefangen. Die Speerkämpfer der Briganter haben sich dem Kriegsheer
der Bodicea natürlich nicht angeschlossen. Und meine Gemahlin hat
all jenen, die dies dennoch befürworten würden, bereits gehörig die
Flügel gestutzt. Sollte sie in ihrer Haltung dem römischen Kaiser
gegenüber aber dennoch eines Tages ins Wanken geraten, dürfte der
Osten für Euch wohl endgültig verloren sein.« Deutlich klang hinter
dem scheinheiligen Bedauern, mit dem er seine Worte hervorgebracht
hatte, ein gewisser Stolz hindurch.
Galenius von der Vierzehnten Legion bekleidete von
allen Anwesenden nach dem Gouverneur den höchsten Rang. Fest
drückte er seine Hände auf den Tisch; so fest, dass seine
Fingerspitzen bleich wurden. Dann erhob er zum ersten Mal in dieser
Unterredung die Stimme: »Zudem haben die Gäste von der Zweiten
Legion berichtet, dass auch die Durotriger und die Dumnonii aus dem
Südwesten sich nicht mehr so leicht kontrollieren lassen wie einst.
Es scheint, als ob auch sie sich dem Aufstand bereits angeschlossen
hätten.«
Unmittelbar neben Corvus stand ein Stuhl. Auf ein
Nicken des Gouverneurs hin ließ er sich darauf nieder. Anschließend
bedeutete Paulinus seinem Schreiber mit einer knappen Geste, dass
dieser das mit Sand ausgestreute Tablett heranrücken solle. Die
Sandoberfläche war bereits zu einer makellos glatten Fläche
ausgestrichen worden. Geschickt umriss der Schreiber mit einem
Stift die Konturen Britanniens, inklusive des kleinen Zipfels im
Westen und des sich nach Osten hin vorwölbenden Rückgrats und der
Insel Mona und ihrer größeren Cousine, Hibernia, die ein Stück
jenseits der westlichen Küstenlinie lag. Nachdem der Schreiber
akribisch genau jeden seiner Striche in den Sand platziert hatte,
legte er den Stift vorsichtig wieder beiseite und setzte einen
kleinen, aus Kupfer gefertigten Adler unmittelbar auf die
Küstenlinie gleich gegenüber von Mona.
Anschließend löschte der Gouverneur mit einem
raschen Druck seiner Daumenkuppe in den Osten des Sandtabletts
sämtliche Erinnerungen an Camulodunum. Mit dem Daumennagel fuhr er
dann ein kleines Stück nach unten und nach links. »Genau hier«,
verkündete er, »entlang der Thamesis, jenem Strom, den die Wilden
nur den Großen Fluss nennen. Clemens sieht das zwar immer noch
anders, aber ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die Eceni,
sobald sie Camulodunum niedergebrannt haben, weiterziehen werden,
und zwar nach Süden an den Ort ihrer ersten Niederlage, wo sie dann
sämtliche Handelshäfen entlang des Flusses in Schutt und Asche
legen werden, bis hin zu der von Vespasian erbauten Brücke - der
diese Brücke im Übrigen bewusst so niedrig errichtet hatte, dass
die größeren Schiffe nicht darunter hindurchfahren können und sein
Hafen sich somit zum größten der gesamten Thamesis entwickeln
konnte. Vespasians Hafen wird einem Angriff wohl noch am längsten
standhalten können. Falls wir es also schaffen sollten, diese
Brücke zu erreichen, sie einzunehmen und die örtlichen Obrigkeiten
dazu zu bewegen, diese Brücke gegen die Wilden zu halten, hätten
wir immerhin eine Route, über die wir jene südlichen Stämme
erreichen könnten, die Rom als Erste ihren Treueschwur geleistet
haben. Und was den Zeitplan angeht, so glaube ich, dass Camulodunum
in spätestens drei Tagen komplett zerstört sein wird. Das heißt,
falls nicht noch ein Wunder geschieht und die Veteranen die
Belagerung länger ertragen.«
»Ihr baut also auf die Unterstützung von Berikos’
Atrebatern«, stellte Corvus fest.
»So ist es. Denn sollten die Wilden es schaffen,
uns von sämtlichen Routen abzuschneiden, die zum Meer oder an die
Küste führen, wäre das unser Todesurteil. Diese eine Brücke ist so
etwas wie unsere Lebensversicherung, und Angriff ist noch immer die
beste Verteidigung. Aber für so ein Unterfangen sind die Legionen
natürlich viel zu langsam. So etwas kann man nur mit der Kavallerie
schaffen. Ich brauche also eine Truppe von Kavalleristen. Und die
muss angeführt werden von einem Offizier, der sowohl die
Küstengebiete als auch die Gezeitenverhältnisse kennt und der
bereits mit den Handelskapitänen bekannt sein muss, die mich auf
meiner Reise unterstützen werden. Mit anderen Worten: Ihr behaltet
Euer Leben, dafür aber müsst Ihr mich begleiten.«
Corvus starrte den Gouverneur an. »Und damit wollen
wir dem versammelten Volk der Eceni gegenübertreten? Nur wir beide
und ein Kavallerieflügel?« Niemals hätte Corvus gedacht, dass der
Gouverneur so bereitwillig in den Tod gehen würde.
»Nein, weniger als ein Kavallerieflügel. Denn wie
soll man einen kompletten Flügel in die Boote zwängen? In jedem
Fall müssen wir noch vor den Eceni dort unten ankommen, und zwar
zusammen mit ein paar Kavalleristen, die dann im Anschluss mit
meinen neuen Befehlen hierher zurück ins Lager eilen. Eine Legion
ist ja immer nur so schnell wie der langsamste Esel. Zwei Dutzend -
vielleicht auch nur ein Dutzend - Reiter aber können problemlos per
Schiff von diesem Hafen aus zu dem hier gelangen...« Damit fuhr
Paulinus mit dem Stift in südliche Richtung bis an die Küstenlinie
hinab und rammte ihn dort am Ufer, unmittelbar westlich des
Seehafens an der Thamesis, wie eine winzige Fahnenstange in den
Sand. »Die örtlichen Behörden werden das Ausmaß der Gefahr, die
ihnen droht, schon einzuschätzen wissen. Sie werden begreifen, wie
kurz sie vor ihrer eigenen Vernichtung stehen. Sollte uns also noch
Zeit bleiben, die Legionen zu uns in den Süden zu befehligen,
werden wir das selbstverständlich auch tun. Falls die Zeit dazu
nicht mehr ausreicht, wissen wir ja immerhin, was uns erwartet.
Derweil wird der Legat der Vierzehnten Legion den Angriff auf Mona
fortsetzen.«
»Wann brechen wir auf?«
»Mit der Ebbe bei Sonnenaufgang. Die Eceni werden
bestimmt keine Zeit verschwenden, ebenso wenig wie ihre
Verbündeten. Wenn wir also überleben wollen, müssen wir Britannien
schleunigst wieder in unsere Gewalt bekommen. Und um das zu
schaffen, reicht es nicht, zu Fuß loszumarschieren, sondern wir
müssen reiten, so schnell wir nur irgend können.«