VIII

Mit der Morgendämmerung des folgenden Tages machten sechs Kohorten der Neunten Legion sich auf den Weg nach Süden und auf Camulodunum zu. Salzige Böen fegten von Westen her durch die Reihen der Männer.
Hier und dort durchbrachen gleißend helle Sonnenstrahlen die graue Wolkendecke, fielen schräg auf die allein durch vehementes Putzen rostfrei gehaltenen Bandeisenrüstungen der Männer und spiegelten sich funkelnd in exakt dreitausend nicht weniger sorgfältig polierten Helmen.
Jeweils zu viert nebeneinander her und mit zwei Wurfspießlängen Abstand zwischen den einzelnen Reihen, sowie zwölf Längen Abstand zwischen den Kohorten, bewegte sich die Legion rasch und leicht durch das Gelände.
Die Männer hatten weder Maultiere noch Lastkarren mit sich genommen, sondern trugen ihr Gepäck auf dem eigenen Rücken, wobei jeder nur gerade so viel Marschverpflegung und Ausrüstung bei sich hatte, wie man für zwei Übernachtungen in einem Feldlager benötigte.
Der Adler, das Zeichen der Neunten Legion, sowie die Standarten der jeweiligen Kohorten hatten sich in einer Art blutrotem, glitzerndem Fahnenwald in den vordersten Reihen des Zuges versammelt und wurden flankiert von den Offizieren, die auf ihren Pferden thronten. Die Kavallerie, die im Übrigen leistungsfähigere Reittiere vorzuweisen hatte als die Offiziere, folgte unmittelbar hinterdrein.
Dies waren die ersten Reihen der schier endlos langen Marschkolonne. Zwischen den vorderen und den hinteren Reihen des Zuges wand sich eine ununterbrochene Linie von berittenen und unberittenen Legionssoldaten, eingelullt vom gleichmäßigen Stampfen ihrer Schritte.
Sie marschierten in südliche Richtung über den Steinernen Pfad der Ahnen, eine befestigte Handelsstraße, die bereits so alt war, dass wohl schon Hunderte Generationen von Fuhrleuten ihr Roheisen, Salz, Kupfer und ihr Emaille über diesen Weg von den südlichen Häfen am Großen Fluss bis hinauf zu jenem nördlichen Seehafen transportiert hatten, an dem nun die Winterfestung der Neunten Legion lag und von dem aus man zu den von Schnee umschlossenen Ländern jenseits des Meeres gelangte. Auf ihrem Rückweg nahmen die Fuhrleute dann wiederum Hunde und feines Leder, den kostbaren Bernstein aus dem Norden und Walrosselfenbein mit sich, ebenso wie köstliches Schaffleisch und dicke Wollballen, und beförderten diese hinab zum Großen Fluss und von dort aus weiter nach Gallien, in die germanischen Provinzen, nach Iberien und Rom und in den Rest des Kaiserreichs. Natürlich bereisten auch die Legionen diesen Weg und hielten die Straße instand. Dennoch war der Pfad bereits alt, als Rom noch jung gewesen war, und hatte schon als eine der entscheidenden Handelsrouten gedient, als die Ahnen ihre Speere noch mit Feuersteinspitzen bewehrten.
Ein kompletter Flügel von fünfhundert batavischen Kavalleristen trottete zu beiden Seiten jener Kohorte, die den Zug anführte, und wie fernes Donnergrollen hämmerten die Hufe ihrer Tiere über den Steinernen Pfad. Die Reiter waren ausnahmslos große, breitschultrige Männer mit schweren Kettenhemden. Darüber trugen sie Mäntel aus ungefärbter Lammwolle, an deren Saumkanten sich jeweils eine Reihe eingewobener, grüner Quadrate entlangzog, die wie kleine Smaragde von ihrem hellen Untergrund hervorstachen. Die Bataver ritten dem ihnen nun womöglich bevorstehenden Krieg ohne Helme entgegen und hatten ihr goldenes Haar an der rechten Schläfe jeweils zu einem festen, kleinen Knoten hochgebunden. Schimmernd strich die Sonne über ihre nackten Arme, und freimütig zeigten die Männer ihre zahlreichen Armbänder aus mit Emailleeinlegearbeiten verziertem Gold und Silber, die sowohl ihr ganzer Stolz als auch ihre persönliche kleine Wertanlage waren.
Ähnlich wie ihre Reiter, so waren auch die Pferde groß und kräftig und wohltrainiert. Ihr Fell war zumeist von rotbrauner Farbe, und sie alle trugen schwere Schutzdecken aus festem, üppig mit Silber eingefasstem Ochsenleder. Erst vor kurzem hatte man den Tieren sorgsam die Mähne hochgeknotet, und auch ihren Schweif trugen die Pferde zu einer dicken Schlinge hochgebunden, damit sich in den Schlachten keiner der Feinde daran emporschwingen könnte. Von klein auf wurde den Batavern beigebracht, dass sie für den unglücklichen Fall, mitten in einer Schlacht vom Pferd zu stürzen, sofort nach dem Schwanz eines feindlichen Streitrosses greifen sollten, um sich daran auf dessen Rücken zu schwingen, den ursprünglichen Reiter hinunterzustoßen und das Tier für sich selbst zu beanspruchen. Und selbst zwanzig lange Jahre des Kampfes gegen die Stämme Britanniens hatten die Bataver noch nicht davon überzeugen können, dass die Krieger, gegen die sie hier antraten, nicht einmal im Traum daran denken würden, jemals nach dem Schwanz eines vorbeigaloppierenden Pferdes zu greifen.
Am Kopf der Truppe von batavischen Kavalleristen ritt Valerius, flankiert von Civilis auf der einen Seite und Longinus auf der anderen. Allein die kleine Gruppe von Standartenträgern trennte ihn noch von dem Legaten, Petillius Cerialis. Valerius’ Pferd war der fast schwarze Junghengst mit den weißen Fesselgelenken und der schwungvollen Halskontur. Er war das einzige Tier, dessen Mähne und Schweif - auf Valerius’ ausdrücklichen Wunsch hin - nicht hochgeknotet worden waren.
Leider schien Civilis in dieses Tier augenscheinlich regelrecht verliebt, sodass er blind gewesen war gegenüber den Untugenden des noch nicht gänzlich gezähmten Hengstes. Vielleicht aber hatte der alte Mann es mit der Wahrheit über den Charakter des Tieres auch bloß nicht so genau genommen, als er es Valerius zum Geschenk gemacht hatte. Denn der fast schwarze Hengst war keineswegs so viel leichter zu reiten als sein berühmter Urahn, sondern lediglich jünger und damit im Grunde nur noch unberechenbarer als das Krähenpferd, das den Vater des Hengstfohlens gezeugt hatte. Das unerfahrene Tier scheute bei jeder sich bietenden Gelegenheit und brach immer wieder nervös zur Seite aus, wenn längs des Handelspfads hohe Grasbüschel im Wind schwankten oder Sonnenstrahlen über die Erde flirrten. Und sobald der Wind nur etwas auffrischte oder das blecherne Scheppern einer Rüstung aus den Reihen der Legionare zu hören war, wollte es auch schon zu einem spontanen Spurt ansetzen. Dennoch hatte es Valerius, als dieser sich in den Sattel des Tieres schwang, nicht abgeworfen. Wenngleich diese glückliche Fügung wohl nur dem Umstand zu verdanken war, dass man den Reiter des Tieres bereits vorgewarnt hatte, dass so etwas passieren könnte, und weil dieser schon so manche Erfahrung im Aufsitzen auf den Großvater des fast schwarzen Hengstes hatte sammeln können.
Während der Morgen also seinen Fortgang nahm, schien das ohnehin schon blässliche Sonnenlicht beinahe gänzlich von heimtückischen, stetig umhertreibenden Nebelschwaden aufgesogen zu werden, sodass es gegen Mittag fast so aussah, als hätte sich bereits die Abenddämmerung über den Zug der Legionssoldaten gelegt. Auch der Aufbruch aus seiner gewohnten Umgebung machte den fast schwarzen Junghengst keineswegs gefügiger, sondern er zeigte sich eher noch halsstarriger als ohnehin schon, und für jeden Schritt vorwärts, den das Tier machte, versuchte es mindestens drei Schritte zur Seite zu tänzeln. Grinsend hielten die Männer zu beiden Seiten des Pferdes einen gehörigen Sicherheitsabstand, während Valerius auf der Unterlippe kaute und herzhaft in irischer Sprache auf das Tier fluchte.
Schließlich, als der Enkel des Krähenpferdes ausnahmsweise einmal länger neben dem Pferd von Longinus hertrottete, bemerkte der Thraker hämisch: »Gib es ruhig zu. In Wirklichkeit macht dir das doch Spaß.«
Valerius hob lediglich träge eine Braue. »Nicht so sehr, wie du vielleicht glaubst. Und sollten wir lebend in der Siedlung ankommen, dann kannst du das Tier hier von mir aus gerne geschenkt haben. Ich werde mich doch lieber an Krähe halten.«
»Nein, vielen Dank. Manche von uns ziehen es vor, ohne ständige Angst um Leib und Leben im Sattel sitzen zu dürfen. Ich bin schon recht zufrieden mit dem, was ich habe. In jedem Fall ist das Pferd, auf dem ich nun sitze, wesentlich besser als das, mit dem ich hierhergeritten bin.«
Auch Longinus war ein Pferd zum Geschenk gemacht worden, und dieses Pferd besaß die gleiche rotbraune Felltönung wie auch sämtliche andere der Batavischen Kohorte, sodass die Tiere im Grunde nicht voneinander zu unterscheiden waren. Longinus’ einzige Sorge war, dass sein Pferd womöglich auf die batavischen Kampfbefehle abgerichtet sein könnte. Befehle, die ihm, Longinus, selbst wiederum vollkommen fremd waren, sodass er befürchtete, womöglich ausgerechnet dann auf den Feind zuzustürmen, wenn er selbst dies gar nicht wollte. Wen oder was der Thraker als Feind betrachtete, konnte er mit Valerius nicht näher erörtern, denn als er über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte, waren sie gerade als Gäste an Cerialis’ Festtafel gesessen. Es gab in Honig geröstete Ringeltauben mit Feigen und Oliven und reichlich wohlschmeckenden Rotwein. Allein Valerius’ hartnäckige Weigerung, irgendetwas Hochprozentigeres als Wasser zu sich zu nehmen, hatte die festliche Stimmung an diesem Abend ein wenig getrübt.
Doch da Valerius natürlich nicht vorgehabt hatte, den Legaten gegen sich aufzubringen, hatte er seinen Alkoholverzicht im Nachhinein wiedergutgemacht, indem er sich als eingeschworener Löwe Mithras’ zu erkennen gab. Zu seiner eigenen Überraschung nahm er damit von allen initiierten Jüngern des Stiermörders in der Neunten Legion den höchsten Rang ein, denn der Zenturio, der vor ihm als »Vater unter der Sonne« genannter Priester der Jünger Mithras’ fungiert hatte, war zu Mittwinter von einer epidemieartig wütenden Lungenentzündung dahingerafft worden. Die Stunden zwischen der zweiten und vierten Wachablösung, also von zehn Uhr abends bis zwei Uhr früh, hatte Valerius dann damit verbracht, vor dem Schrein im Keller gleich unterhalb der Lagerkammern des Quartiermeisters einen Initiationsritus abzuhalten.
Longinus, der die Mondgötter der Thraker noch immer dem alt-iranischen Neuankömmling im Reigen der Götter vorzog, war nicht zu den geheimen Riten zugelassen worden und hatte den neu in Valerius’ Blick eingekehrten Frieden somit erst gesehen, als sein Gefährte wieder aus den Kellergewölben heraufgekommen war. Und überhaupt schien der Schlafverlust in dieser Nacht für Valerius kein allzu großes Desaster zu sein.
Später, in dem fahlgrauen Licht kurz vor Tagesanbruch, während der erste Tau sich über die Gräser legte und die jungen Hähne zu krähen begannen, waren Longinus und Valerius über die Pferdekoppel gewandert, auf der Suche nach einem weiteren Schrein, von dem Civilis ihnen beiden erst kürzlich erzählt hatte und der aus einem Felsen über einer Quelle bestand, in den man die Silhouette einer galoppierenden Stute gemeißelt hatte. Über der Stute wiederum prangte ein noch wesentlich älteres Zeichen - das Zeichen des Mondes in Verbindung mit dem Zeichen des Hasen. Als Trankopfer für ihre jeweiligen Götter und natürlich auch füreinander hatten die beiden Männer dann Wasser aus der Quelle dargebracht.
Doch auch für Civilis hatten sie ein wenig Wasser geopfert, wenngleich weder Longinus noch Valerius sich in diesem Moment so recht darüber im Klaren gewesen waren, was sie damit eigentlich zum Ausdruck bringen wollten oder was diese Geste für sie persönlich bedeutete.
Nun, da sie den Steinernen Pfad der Ahnen entlangritten, erinnerte Longinus sich wieder an die Trankopfer in der Morgendämmerung und sagte auf Thrakisch zu Valerius: »Dein einstiger Bruder ist alt geworden. Das hier ist nun seine Chance, seinen Namen in der Geschichte zu verewigen. Du brauchst dich also wirklich nicht dafür verantwortlich zu fühlen, wenn er nun den Ehrentod im Kampf wählt.«
Der Pfad führte an einem kleinen See entlang. Mit wildem Flügelschlagen und gekränktem Schnattern stoben drei Enten in die Luft empor. Erschrocken und mit wild rollenden Augen wirbelte der Junghengst mit den weißen Fesseln auf der Hinterhand herum und schnaubte aufgebracht. Valerius fluchte auf Thrakisch, Batavisch, Gallisch und Lateinisch, schaffte es dann aber schließlich doch, sein Tier zu beruhigen und wieder in die Reihe der anderen Pferde einzugliedern. Atemlos erklärte er: »Ich bin für niemanden verantwortlich. Civilis’ Leben gehört ihm ganz allein, und er kann damit anstellen, was er will. Und sollte er unseren Plan durchkreuzen, werde ich ihn sogar höchstpersönlich umbringen, das schwöre ich dir.«
»Ich weiß. Ich habe ja mit eigenen Augen gesehen, wie weit du zu gehen bereit bist, um den Eceni zu helfen.« Longinus drängte sein Pferd ein Stück seitwärts, um einem Schlagloch auszuweichen, das sich über die halbe Breite des Pfades erstreckte, und verfluchte dabei die faulen römischen Pioniere und die harschen Winter. »Was aber, wenn Civilis sich irrt und die Bataver ihm keineswegs so treu ergeben auf die gegnerische Seite folgen werden, wie er glaubt?«
»Dann werden wir eben auch gegen die Bataver kämpfen müssen. Genauso, wie wir es ja ursprünglich auch vorgehabt hatten. Das heißt, falls wir dann, wenn die Schlacht losbricht, überhaupt noch leben sollten, was ich zurzeit noch bezweifle. Denn wenn du mal ein Stückchen weiter nach vorn schaust, wirst du sehen, dass auch der Legat bereits jenen Teil der Strecke entdeckt hat, wo das Marschland fast unmittelbar an den Wald stößt und unser Pfad sich genau an der Grenzlinie entlangschlängelt. Und vielleicht, so vermute ich jedenfalls, sind ihm dabei auch gerade wieder die Sagen von Arminius eingefallen - wie dieser am Rhein gleich drei komplette Legionen niedermetzelte. Ich denke doch, man wird ihm diese Geschichte als jungem Tribun irgendwann einmal erzählt haben.«
Petillius Cerialis ritt auf einem weißen Wallach mit blauen Augen und einem winzigen kastanienbraunen Flecken an einem Ohr. Mit hochbeinig gestelzten Schritten trabte das Tier an der Spitze des Zuges und machte im Grunde nicht den Eindruck, als ob es einen Mann allzu lange durch eine Schlacht tragen könnte. Dann beugte Cerialis sich etwas zur Seite und sprach mit dem jungen Melder neben sich, der daraufhin aus der Reihe der Reiter ausscherte und sich bis zu Civilis zurückfallen ließ.
»Seine Exzellenz möchte Euch darauf aufmerksam machen, dass dort vorn, wo der Pfad sich zwischen dem Marschland und dem Wald hindurchschlängelt, ein Hinterhalt auf uns lauern könnte. Seine Exzellenz möchte, dass Ihr nun die mutigsten Eurer batavischen Krieger um Euch versammelt und dann gemeinsam mit dem Boten Mithras’, der die Gaben eines Pioniers zu besitzen scheint« - damit warf der Kurier Valerius einen schmachtenden Blick zu -, »schon einmal vorausreitet bis zu jener Stelle, an der wir unser Nachtlager aufschlagen werden, um den Lagerplatz zu sichern und gegen eventuelle Angriffe zu verteidigen, bis die Vorhut der Legionskohorten zu Euch stößt. Außerdem befiehlt der Legat, dass Ihr für den Fall, dass Ihr angegriffen werdet, nicht darauf warten sollt, bis man Euch weitere Befehle erteilt, sondern nach Eurem eigenen, im Kriege erworbenen Sachverstand verfahren müsst. Seine Exzellenz verlässt sich also auf Euren profunden, seit Anbeginn der Invasion genährten Erfahrungsschatz und vertraut darauf, dass Ihr eventuelle Feinde sicher in die Flucht zu schlagen wisst. Ich soll Euch unterdessen begleiten, um die Techniken des Kriegshandwerks zu erlernen.«
Der junge Mann war ein Römer aus den ersten Reihen der Gesellschaft, drittgeborener Sohn eines Magistrats, und er brannte geradezu darauf, seinem Kaiser zu Diensten sein zu dürfen. Er war unter denjenigen gewesen, die um Mitternacht in den Kellergewölben den Raben Mithras’ in die Haut eingebrannt bekommen hatten. Der Junge war noch immer ganz weiß im Gesicht, mit vom Rauch rötlich geäderten Augen und jener schwelenden Leidenschaft im Blick, wie man sie zumeist nur bei jenen sah, die glaubten, ihrem Gott von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden zu haben und die dennoch nicht über ihr Erlebnis sprechen durften, außer in der lärmenden Einsamkeit ihres eigenen Herzens.
Civilis bedachte den Burschen mit einem ähnlich nachsichtigen Lächeln, wie er auch den Pferdeknecht Arminius anzublicken pflegte, den Sohn seiner Enkelin, der nach jenem Mann benannt worden war, der einst drei ganze Legionen auf einmal vernichtet hatte. »Ich danke dir«, erwiderte Civilis. »Ich habe meine Männer bereits ausgewählt. Sie werden dem Befehl des Legaten umgehend Folge leisten. Möge er lange leben und stets seine Götter an seiner Seite wissen.«
Damit hob der alte Mann die Hand, und wenngleich sein Gruß an den Legaten zwar durchaus zweideutig war, so ließen weder der junge römische Melder noch Cerialis sich ihre Verwunderung darüber anmerken. Einer der Bataver, die in der Reihe hinter Civilis ritten, hatte den Schaft seines Speeres mit einem tiefroten kleinen Wimpel geschmückt, auf dem in Schwarz die Silhouette einer Eiche prangte. Auf Civilis’ Zeichen hin riss der Reiter seinen Speer mit einer Hand hoch in die Luft und hob mit der anderen ein mit Silber beschlagenes Rinderhorn an die Lippen.
Er holte tief Luft, blies in das Horn, und das lärmende Signal, das nun erschallte, klang ganz ähnlich dem aufgeregten Geschrei, mit dem die Enten aus dem kleinen Weiher aufgestiegen waren. Nur dass das Hornsignal natürlich länger und lauter war. Ganz ruhig saß Valerius auf seinem Pferd und wartete darauf, dass der Hengst mit den weißen Fesseln unter ihm nun geradezu explodieren würde, war dann aber angenehm überrascht, als das Tier lediglich die Ohren aufrichtete und gespannt auf seine, Valerius’, Befehle zu warten schien. Im gleichen Augenblick lösten sich exakt zweihundertundfünfzig Bataver aus den Reihen der Marschkolonne, preschten seitlich an ihren Kameraden vorbei und auf Civilis zu. Diese Reiter bildeten genau die Hälfte jenes Flügels, auf den der alte Mann sein ganzes Vertrauen gesetzt hatte. Die Infanterie blieb zurück. Zuerst noch im Trab, dann aber im Kanter, dirigierten die Bataver ihre Pferde über die beiden schmalen Streifen ungepflasterten Bodens, die sich rechts und links der Straße entlangzogen, dort, wo der torfige Untergrund federnd unter den Hufen der Tiere nachgab.
Valerius ließ seinem Hengst die Zügel schießen und erlaubte ihm, die Führung der Reitertruppe zu übernehmen und sich von dem Rest der Tiere abzusetzen. Schon bald aber holte Longinus Valerius lachend wieder ein und rief seinem Freund auf Thrakisch zu: »Sieht ja ganz so aus, als ob der römische Melder sich in dich verliebt hätte. Hat er mich bei dir also schon ausgestochen?«
Sobald der Junghengst mit den weißen Fesseln ein wenig an Tempo zulegen durfte, legte sich seine Nervosität merklich, und er erwies sich als ausgesprochen leicht zu führendes und ausgeglichenes Reittier. Valerius saß in entspannter Haltung im Sattel, während er im Stillen bereits darauf wartete, wann die gefügige Phase des Pferdes wohl wieder ein Ende nehmen würde. An Longinus gewandt erwiderte er unterdessen: »Nur, wenn du gerne ausgetauscht werden möchtest. Und selbst dann würde ich nicht den jungen Kurier wählen. Ich hab ihm gestern im Angesicht des Gottes das Brandzeichen in die Haut geprägt, und seitdem meint er wohl, es wäre auch allein mir zu verdanken, dass sein Gott plötzlich zu ihm sprach. Der Junge hat offenbar vergessen, dass die Götter stets selbst entscheiden, wem sie sich zeigen und zu wem sie sprechen, und dass sie sich nicht einfach rufen lassen. Noch nicht einmal von jenen unter uns, die sich ganz den Göttern verschrieben haben. Und völlig unabhängig davon, wie sorgfältig wir uns auch die Formeln der Riten eingeprägt haben mögen.«
Leise pfiff Longinus durch die Zähne. »Nun gut. Aber, sag mal, meinst du, das war eine gute Idee, die Legionen ausgerechnet jetzt mit dieser frommen Inbrunst zu erfüllen? Könnte doch sein, dass wir schon am Ende des Tages gegen sie werden kämpfen müssen.«
»Ich habe nur ausgeführt, was der Gott von mir verlangt hat. Und ich habe mir, ehrlich gesagt, auch nicht die Zeit genommen, um noch langwierig zu hinterfragen, ob das wohl die richtige Entscheidung gewesen sein mag.«
Valerius schnalzte kurz mit der Zunge und trieb sein Pferd an. Sofort reagierten beide der von Civilis zugerittenen und an seine jungen Gefährten verschenkten Tiere auf dieses Kommando, und leicht hallte das Hämmern ihrer Hufe über den grasbewachsenen Boden, ganz so, als ob Mittsommer wäre und sie sorglos über eine Koppel jagten.
 
Der Nachmittag war bereits zur Hälfte verstrichen, als zweihundertundfünfzig batavische Kavalleristen im Galopp das kleine Stück Land am Rande des Steinernen Pfades der Ahnen stürmten. Dies schien der einzige Ort im bewaldeten Abschnitt ihrer Route zu sein, der sich noch mit einiger Sicherheit verteidigen ließe und wo man es wagen konnte, sein Nachtlager aufzuschlagen.
Der Platz lag in einer weitläufigen, flachen Bodensenke, genau dort also, wo der Pfad leicht abfiel, um der natürlichen Neigung des Geländes zu folgen. Zugleich beschrieb der Weg an dieser Stelle eine sanfte Kurve, mit der er von dem Marschland fortführte. Die Männer der Neunten Legion hatten an diesem Ort schon einmal ihr Lager aufgeschlagen, damals, als sie das erste Mal in Richtung Norden marschiert waren. Und damals hatten sie auch den Wald rund um den Lagerplatz herum zurückgeschlagen. Seitdem waren noch diverse weitere Legionssoldaten hier entlanggereist und hatten stets dafür gesorgt, dass der Wald sich nicht mehr allzu dicht um den Platz schließen konnte und die Randstreifen frei von Unterholz blieben. Die geschlagenen Baumstämme hatten sie in ordentlichen Haufen aufgeschichtet, damit sie den später hier kampierenden Legionaren als Feuerholz und als Material für neue Sprossen in den Rädern der Lastkarren dienen konnten. Die Dräniergräben und Latrinen dagegen waren schon lange wieder zugeschüttet worden und überwachsen von Gras und Moos. Schließlich sollte auch im Osten klar zu erkennen sein, welch allumfassenden Frieden der römische Kaiser diesem Land beschert hatte. Da passte ein noch immer frequentiertes Lager für patrouillierende Legionare nur schlecht ins Bild. Zumal, wenn dieses Lager auch noch unmittelbar an der Hauptverkehrsader des Landes lag und genau diese Straße den Norden der Provinz mit Camulodunum, der Hauptstadt im Süden, verband.
Die Bodensenke dämpfte das Hufgetrappel der nachfolgenden Pferde, sodass es für einen Augenblick lang schien, als ritten zumindest die ersten Männer in ein Tal der Ruhe und des Friedens. Ganz in der Nähe und verborgen hinter den Bäumen des Waldes hörte man melodisches Wassergeplätscher. Irgendwann in den vergangenen zwei Dekaden hatte ein Pionier mit zu viel Zeit und Tatendrang sich darangemacht, aus dem Marschboden einen Graben auszuheben und eine Reihe feuergehärteter Tonrohre unter dem Pfad zu verlegen, sodass nun Wasser aus den Rohren lief und sich in einige unterschiedlich große, glasierte Tröge ergoss, die in einer Reihe entlang der vom Lagerplatz abgewandten Seite der Bodensenke standen. Ein schwacher, doch steter Strom Moorwasser sickerte in die Tröge und rann schließlich aus kleinen, in die Ecken der Wannen eingearbeiteten Tüllen wieder hinaus und in großflächige, mit Kieseln ausgelegte Abflussgruben hinein. Die Pferde konnten also an den Tränken ihren Durst stillen, die Männer ein, wenngleich kaltes, Bad nehmen, und der Boden würde dennoch fest bleiben und nicht bereits schon am nächsten Morgen einem lehmigen Sumpf gleichen.
Ein anderer Legionar, der offenbar deutlich weniger Vorstellungskraft besaß als der erste Pionier an diesem Ort, hatte mit einigen groben Strichen jeweils die Silhouette eines Pferdes beziehungsweise eines Mannes in die Seiten der Tröge geritzt, damit die Soldaten zu unterscheiden vermochten, welche der Wannen nun dazu bestimmt waren, die Pferde zu tränken, und welche dem Baderitual dienen sollten.
Noch im vollen Galopp sprangen die Bataver von ihren Pferden und trieben ihre vor Schweiß beinahe schon dampfenden Tiere an die Tränken. Valerius, der etwas später und in gemächlicherem Tempo ankam, stieg ab und führte sein Pferd einmal um die gesamte Lagerstelle herum.
Hier, am Rande des Zeltplatzes, war der Nebel deutlich weniger dicht als noch auf jenem Abschnitt des Pfades, der die Männer mitten durch den Wald geführt hatte. Fast schien es, als hätten die milchigen Schwaden Angst, sich aus dem Schutz der Bäume zu lösen, oder als ob gar eine im Freien lauernde Macht sie dazu zwang, innerhalb der Grenzen des Waldes zu verharren. Im Inneren der Bodensenke hatte sich großzügig und einer Schneewehe ähnelnd ein riesiger Teppich von Schneeglöckchen ausgebreitet und bedeckte nun mit seinem grünlich weißen Kleid die aufgeschütteten kleinen Erdhügel, die noch erkennen ließen, wo einst die den Platz umgebenden Gräben verlaufen waren. Dichte Schichten von altem Laub waren vom Wind gegen die Wälle geweht worden, und in der Mitte der Senke umringte ein Halbkreis bereits verrottender Pilze das grau verblichene Skelett einer Hirschkuh. Eines ihrer Hinterbeine fehlte, und die Kieferknochen waren zertrümmert. Dicht unter den Zähnen zeigten einige Klauenspuren an, wo ein Bär das Beutetier mit seinen Pranken geschlagen haben musste.
Longinus tippte mit der Fußspitze leicht gegen den Rand des gebrochenen Unterkiefers. »Die Bärinnenkrieger dürfte das hier sicherlich freuen.«
»Die Bärinnenkrieger haben das Skelett sogar eigenhändig hier platziert«, verbesserte Valerius seinen Freund. »Sieh dir mal die innere Wölbung des Unterkiefers an. Darauf findest du Cunomars Zeichen, die stilisierte Bärentatze. Die Riten der Bärinnenkrieger schwächen die Kampfkraft der Legionare. Oder zumindest ist das die Hoffnung der Krieger.« Damit trieb er einen kurzen Eisenstab in den Boden. »Bleib hier stehen und sag mir Bescheid, wenn ich die Linie verlasse.«
Schon rund zehn Jahre lang praktizierten sie beide dieses Verfahren, um die äußere Begrenzung eines Feldlagers zu markieren. Valerius bewegte sich Schritt für Schritt rückwärts und wickelte derweil eine Kordel aus geölter Wolle von dem Markierungsstab ab. Longinus kniff ein Auge zu und beobachtete Valerius. »Noch einen halben Schritt nach links«, erklärte er dann und befahl kurze Zeit später: »Und noch ein bisschen weiter nach links. Es liegt an diesem verdammten geisteskranken Pferd. Das läuft einfach nicht geradeaus, und darum hast du jetzt einen leichten Rechtsdrall.«
So marschierten sie einmal rund um die Bodensenke herum und hieben immer neue Markierungsstangen in den Boden. Als sie fast fertig waren und Civilis zu ihnen trat, um ihr Werk zu begutachten, erklärte Valerius: »Lass deine Männer anfangen zu graben. Übliche Lagerordnung, übliche Größe, übliche Aufbaufolge. Ich werde unterdessen die Zeltreihen abstecken.«
Ein lästerlich fluchender, halber Flügel Bataver griff zu seinen Breithacken und zerrte die Schaufeln aus den Satteltaschen. Dann begannen sie, jeweils zu zweit, die grün überwachsene Erde aufzubrechen. Es waren große und schwere Männer, die den Krieg gewohnt waren, und dennoch achtete der Erste der Zweiergespanne jeweils sorgsam darauf, den Boden mit seinem feinen Geflecht aus Schneeglöckchen nicht allzu sehr zu beschädigen, indem er den Grassoden vorsichtig beiseitehob, um ihn dann am nächsten Morgen, wenn das Lager wieder abgebrochen würde, zurück an seinen angestammten Platz zu legen.
Anderenorts wurden die Grasstücke und Moospolster ganz gezielt mit der erdigen Seite nach oben gedreht, um anzuzeigen, wo die Gräben verlaufen sollten. Spatenladung für Spatenladung voll mürber, nur schon allzu oft umgegrabener Erde wurde hastig jeweils rechts und links der Gräben zu Wällen aufgeschüttet. Auf Valerius’ Befehl hin folgten noch einige schmalere Aushübe, die kaum tiefer als eine Handbreit in den torfigen Boden hineinreichten, um innerhalb der bereits markierten Lagergrenzen anzuzeigen, wo die nach und nach hereinströmenden Legionssoldaten ihre Zelte aufschlagen sollten. Und es gab eine ganze Reihe unterschiedlicher Zelte zu befestigen: sowohl die üblichen Achtmannzelte für die Mannschaften als auch die größeren und ungleich imposanteren Pavillons der Offiziere. Noch ehe die Männer ihr Werk auch nur halb beendet hatten, hallte bereits das Stampfen schier unzähliger, im Gleichschritt marschierender Füße den Pfad entlang und zu ihnen in die Bodensenke hinunter, und tapfer flatternd durchbrachen die roten und goldenen Standarten den Nebel.
Die Offiziere glitten von ihren Pferden, während hinter ihnen bereits die ersten vier Männer der Infanterie das flache Tal erreichten. Sofort schleuderten die Bataver ihnen wüste Verwünschungen entgegen. Das war der übliche Gruß, mit dem die Kavallerie ihre Infanterie zu empfangen pflegte, wenn diese sich wieder einmal zu spät im Lager oder in der Schlacht einfand. Grinsend hob daraufhin der Hornist in der ersten Reihe der Fußtruppe sein Signalhorn an den Mund und stieß hinein. Laut schallend pflanzte sich der Klang die gesamte Marschkolonne entlang fort, wurde von anderen, weiter hinten marschierenden Hornisten wiederholt, und so wanderte das Signal quasi immer weiter die Reihen hinab, bis auch der letzte Zenturio der letzten Kohorte es gehört hatte und auch wirklich jeder der erschöpften Männer wusste, dass der wohlverdienten Rast nun nichts mehr im Wege stand.
Valerius, der in seiner Rolle als Pionier bereits den anstrengendsten Teil der Lagerplanung übernommen hatte und seinen Kameraden damit mehrere Stunden lästiger Arbeiten ersparte, hob sein Häutemesser und begrüßte die Ankommenden mit ausgesucht höhnischen Bemerkungen. Er rief seine scherzhaften Beleidigungen auf Lateinisch, Batavisch, Thrakisch und sogar in einem der Dialekte der Eingeborenen, der jedoch sämtlichen Männern der Neunten Legion unbekannt war. Fröhlich erwiderten sie seine Unflätigkeiten und ließen sich auch ihrerseits nicht lumpen, was den Einfallsreichtum einiger wohlmeinender Obszönitäten anbelangte.
Doch auch aus dem nahen Wald ertönte ein Signal. Es ging jedoch fast völlig unter im Lärm der Marschtruppen, dem Geklapper der Tornister, die erleichtert zu Boden geworfen wurden, und dem lauten Plätschern, mit dem die Soldaten sich das aus den Tonröhren strömende Wasser über die Köpfe rieseln ließen. Es war der Schrei einer Eule. Dreimal rief das Tier, und das, obwohl die Nacht noch lange nicht angebrochen war.
Die Kriegerin der Kelten
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