XLIV

Laute Fanfarenstöße zerrissen die Luft, hektisch und zugleich melodisch wie der Ruf eines Vogels.
Drei eilige Töne, erst einmal und dann ein zweites Mal. Noch ehe das Signal ein drittes Mal über das Schlachtfeld schallte, hatte Valerius das Krähenpferd bereits auf der Hinterhand einmal halb um dessen eigene Achse wirbeln lassen und preschte nach vorn. Mit nur minimaler zeitlicher Verzögerung setzte Longinus ihm nach - schließlich hatte er dieses Manöver mit seinem Pferd mindestens genauso oft und genauso hart und genauso lange trainiert wie Valerius.
Cygfa dagegen war etwas langsamer als ihre beiden Kampfgefährten.
»Los!«, brüllte Valerius über den Kampflärm hinweg und erklärte dann, als schließlich auch Cygfa neben ihm angelangt war: »Das ist Corvus’ Signal.«
Und in der Tat, es war tatsächlich Corvus, der sich mit seinem Flügel rechterhand und außerhalb der Sichtweite der Krieger positioniert hatte. Dort hatte er so lange gelauert, bis alle Anhänger Valerius’ auf das Schlachtfeld geströmt waren. Dann setzte er aus dem Hinterhalt auf sie an. Zugegebenermaßen aber hätte Valerius in Corvus’ Situation genau die gleiche Taktik verfolgt, und somit war er auf den Angriff vorbereitet gewesen. Seine Ehrengarde folgte ihm, so schnell sie nur irgend konnte. Mittlerweile standen ihm noch nicht einmal mehr zweihundert Kämpfer zur Seite, und das gegen einen kompletten Kavallerieflügel von fünfhundert.
Angeführt von Huw, der seine Steinschleuder mit wirklich erstaunlicher Präzision einzusetzen wusste, schwärmten Valerius’ Reiter in einer lang gestreckten Reihe quer über das Feld und versuchten verzweifelt, sich einen sicheren Ausweg aus dem Schlachtgemetzel zu erkämpften. Jedoch dauerte dieses Vorhaben länger als geplant, denn der Boden war übersät mit den Eingeweiden der Toten, und es fand sich kaum Raum, um sich effektiv von der römischen Plage freizukämpfen.
»Jetzt beeilt euch endlich!«
Im gestreckten Galopp kam in gerader Linie eine komplette Kavallerieabteilung auf ihn zugestürmt, wobei die äußeren Flügel sich bewusst ein Stück zurückfallen ließen. Als Erstes sollten die Mittelblöcke auf den Feind auftreffen, während der Rest der Legionare noch ein Weilchen wartete, um notfalls die am Rande positionierten Krieger einkreisen zu können. In der Ausbildung während seiner Zeit bei der römischen Kavallerie hatte man Valerius gelehrt, dass es auf einen solchen Angriff genau zwei mögliche Gegenreaktionen gab. Doch für keine dieser beiden Varianten blieb ihm noch die Zeit, geschweige denn, dass er überhaupt ausreichend geschulte Reiter um sich gehabt hätte. Das Einzige, was er nun als Verteidigungstaktik einsetzen konnte, waren besagte knapp zweihundert Krieger. Und diese hatten sich ihm ganz und gar, mit Leib und Leben und sogar dem Leben ihrer Pferde verschworen, Pferde, von denen Valerius glaubte - von denen er nun einfach glauben musste -, dass sie schneller waren und stärker und zäher als die Tiere des Feindes.
»Links!«
Valerius riss sowohl sein Pferd als auch sein Schwert auf die Schildseite hinüber, und seine Krieger folgten ihm, wie auch Gänse ihrem Leitvogel folgten oder wie ein Fisch sich der Richtung seines Schwarms anpasste. Nur dass Valerius’ Männer leider etwas langsamer waren in ihrer Reaktion als die Tiere der Lüfte und des Wassers, denn die Krieger waren zum Teil noch immer in erbitterte Kämpfe mit den Legionaren verstrickt.
Valerius führte sie quer über die Rippelmarke und dann auf der anderen Seite wieder hinab, sodass der leichte Abfall der Böschung ihnen zusätzlichen Schwung und zusätzliche Schnelligkeit verlieh und damit genau jenen Vorteil, wie ihn kurz zuvor auch die Legionare sich zunutze gemacht hatten. Allerdings stürmte Valerius dann nicht geradewegs in ein begierig lauerndes Heer hinein, sondern hastete, am Fuße der Rippelmarke angekommen, zunächst in einer scharfen Rechtskurve diagonal durch das Tal, sodass alle, die ihm folgten, ebenfalls einen großen Bogen ritten und schließlich geschlossen und ordentlich formiert wieder hinter Valerius angelangten. In dieser Aufstellung preschten sie dann von rechts aus geradewegs in den weit geschwungenen Bogen von Corvus’ Kavalleristen hinein. Sie attackierten die Legionare von der Schwertseite aus, wo deren Schilde nutzlos waren. Zudem traten sie gegen Männer an, die sich bis zu diesem Moment allein auf die Front konzentriert hatten und denen die Rippelmarke außerdem noch die Sicht versperrt hatte.
Der Zusammenstoß zwischen Valerius’ Kriegern und den Reitern unter Corvus’ Befehl war ein rasches, gnadenloses Scharmützel, bei dem trotz der Inbrunst der Krieger letztlich bloß sechs Legionare den Tod fanden. Hastig dirigierte Valerius das Krähenpferd nun weit nach außen und anschließend geradewegs zurück auf die Mitte zu, sodass er die Männer seines einstigen Freundes nun von hinten attackierte, genauso also, wie wohl auch eine Hornisse sich auf ein Pferd gestürzt hätte.
Um zu überleben, musste die Kavallerie sich jetzt gezwungenermaßen umwenden und verteidigen und den zentralen Kriegerblock mit Breaca an der Spitze hinter sich zurücklassen. Sobald er sah, dass sein Manöver glückte, ritt Valerius abermals einen großen Bogen und stach erneut von hinten zu, tötete, wich wieder zurück und sparte die Kraftreserven seines Pferdes damit für jene brenzligen Augenblicke auf, wenn sie beide wirklich darauf angewiesen wären.
Doch selbst mit den wenigen Kriegern, die ihm zur Verfügung standen, schaffte Valerius es schließlich, Corvus’ Flügel zu zerteilen und dessen Männer, die doch am besten in geschlossenen Reihen fochten, in gefährliche Einzelkämpfe zu verwickeln. Zwar funktionierte seine Taktik nicht reibungslos, aber immer noch besser, als er gehofft hatte und - wenn man einmal das Desaster an der Fallgrube bedachte - auch besser, als er es eigentlich verdient hätte.
Unmittelbar an seiner Seite und fast schon wie eine schimmernde Lichtgestalt unter der Mittagssonne kämpfte Cygfa.
Sie hieb nach einem Legionar, schwang erbittert ihr Schwert, zog dann ihren Hengst wieder ein Stückchen zurück und rief: »Wir können es schaffen! Valerius, man wird deinen Namen lobpreisen, wird ihn an den Winterfeuern singen. Und zwar noch über Generationen hinweg. Was für einen sagenhaften Vater dieses Kind doch haben wird!«
Valerius und Cygfa töteten wie im Rausch - und blieben selbst vollkommen unversehrt.
Derweil achtete die Bodicea, in der Mitte ihres Heeres thronend, darauf, ihre Krieger möglichst dicht beieinander zu behalten. Und auch diese töteten mehr Legionare, als sie selbst an Opfern einzubüßen hatten - und genau dies war ja jener Punkt, an dem letztendlich der Ausgang einer jeden Schlacht sich entschied.
Valerius beobachtete unterdessen, wie ein zunehmend verzweifelterer Ausdruck sich auf die Gesichter seiner Feinde stahl. Und zum ersten Mal glaubte auch er, dass das Kriegerheer gewinnen könnte.
Dieser Gedanke beflügelte ihn schließlich geradezu, während abermals das Signal der Trompeten ertönte, diesmal allerdings mit einer neuen Klangfolge. Unten im Tal, wo der Gouverneur seine Reservetruppen positioniert hatte, formierten sich zweitausend gut ausgeruhte Infanteriesoldaten zu ihrer gewohnten Aufstellung und marschierten los, bereit, das Heer der Bodicea endgültig zu vernichten.
 
Die letzten beiden Kohorten der Vierzehnten Legion wogten nicht mehr ganz so energisch über die Rippelmarke wie noch jene ihrer Kameraden, die vor ihnen in den Kampf gestürmt waren.
Dennoch nahmen sie die kleine Bodenerhebung in zügigem und gleichmäßigem Tempo, verbissen in der vorgegebenen Formation verharrend, die Schilde eng zusammengeschoben und die scharfen Klingen spitz dazwischen hervorlugend. Sobald die Truppen wieder ebenen Boden unter den Füßen hatten, rissen die linke und die rechte Außenreihe ihre Schilde zur Seite und verkeilten diese zu einem wahren Bollwerk aus Holz und Eisen, das nur von einer wirklich harten und ausdauernden Kavallerieattacke noch zu durchbrechen war.
Eine mögliche Flucht der Krieger vor den Legionaren Roms stand schon seit geraumer Zeit nicht mehr zur Debatte. Längst hatte auch der letzte Rest an Disziplin die Kämpfer der Bodicea verlassen, und ein geordneter Rückzug war damit vollkommen undenkbar. So weit Breacas Blick reichte, sah sie nichts anderes als ein riesiges Schlachtfeld, auf dem allein Chaos und Blutdurst noch zu regieren schienen. Und dieses riesige Feld befand sich genau hinter ihr.
Wenn sie euch in geschlossenen Reihen geradewegs von vorn angreifen und ihr nicht mehr zurückweichen könnt, dann versucht, zur Seite hin auszubrechen. Ihr dürft ihnen auf keinen Fall eine feste Front bieten, die sie attackieren können.
Valerius hatte ihnen diese Regel am Vorabend gleich zweimal eindringlich ans Herz gelegt, und dann am Morgen, unmittelbar vor der Schlacht, noch einmal. In dem festen Wissen, dass ein derart formierter Angriffstrupp also kommen könnte, hatte er seine Krieger so auf dem Schlachtfeld positioniert, dass sie die kaiserliche Kavallerie ein Stück weiter nach außen lockten und Breaca somit Raum boten, um vor den Soldaten zurückweichen zu können. Rasch sandte Breaca ihrem Bruder dafür, egal, ob dieser nun noch unter den Lebenden weilte oder bereits in das Land Brigas hinübergeschritten war, ihren Dank. Klar hatte sie ihren Fluchtweg nun vor Augen.
»Nach außen!«, brüllte sie über den Tumult hinweg.
»Flieht in Richtung Außenseiten! Die sollen sich gefälligst aus ihrer Formation lösen müssen, wenn sie uns erwischen wollen!«
Der tosende Lärm von Leben und Sterben erstickte ihre Stimme. Gunovar jedoch hörte sie, ebenso wie die zwei Dutzend Krieger ihrer persönlichen Ehrengarde. Hastig gaben sie den Befehl weiter. Doch nur träge verbreitete sich die Nachricht durch die kämpfende Masse und wurde stellenweise sogar überhaupt nicht mehr weitergegeben, dort nämlich, wo das unmittelbare Überleben wichtiger war als die Übermittlung eines Befehls. Zumal, wenn dieser Befehl ein Vorgehen betraf, das im Augenblick ohnehin noch in scheinbar unüberschaubarer Ferne lag.
Bloß noch fünf Speerlängen trennten Breaca von der wahren Mauer aus Legionaren. Und nur wenige dieser Kämpfer trugen Langspeere bei sich. Die meisten von ihnen waren mit jenen zweischneidigen römischen Kurzschwertern bewaffnet, mit denen man seinen Gegner ganz vortrefflich einfach abstechen konnte. Wie blitzscharfe Messer ragten diese zwischen den sich überlappenden Schilden hervor. Breaca sah sich um, konnte jedoch noch keinen der Feinde in ihrer unmittelbaren Nähe entdecken. Dann wagte sie es, riss den Hengst auf die Hinterhand empor, hieb das Schwert in die Luft und brüllte aus Leibeskräften: »Auswärts fliehen! Flieht in Richtung Außenseiten!«
Endlich hörten sie sie, jene paar hundert Krieger in ihrem engeren Umkreis, und wer ihre Worte trotz allem nicht verstand, der sah zumindest das Aufblitzen des von der Sonne liebkosten Eisens, wusste, dass diese Silhouette unter dem Schwert nur die Bodicea sein konnte, erkannte den Hengst, der bereits die würdige Nachfolge des sagenhaften Hail angetreten hatte, und kämpfte fortan wieder mit neuem Elan, ganz so, als ob in jedem der Krieger nicht nur eines, sondern mindestens einhundert Herzen schlügen. Und langsam, wie ein unsauber gespaltenes Holzscheit, stemmte das Kriegerheer sich schließlich auseinander, bereit, die heranrauschenden Feinde regelrecht in sich aufzusaugen.
Doch auch der Feind hatte Breacas Befehl gehört oder hatte sie zumindest an ihrem Haar, dem Halsreif und ihrem Umhang erkannt. Und ganz offensichtlich, so viel immerhin war auch den Legionaren klar geworden, hatte die Anführerin der Wilden da gerade eine wichtige Botschaft vermittelt, indem sie sich noch einmal gezeigt hatte und sicherstellte, dass ihre Krieger sahen, dass sie noch am Leben war.
Irgendwo ganz in ihrer Nähe brüllte jemand ihren Namen - in lateinischer Mundart. Es folgte ein bebender Fanfarenstoß, in dessen Klang wiederum ebenfalls ein feiner Nachhall ihres Namens zu stecken schien. Dieser war so etwas wie der Befehl des Jägers an seine Hunde, das Signal, von der alten Fährte abzulassen und sich einer größeren und lohnenderen Beute zuzuwenden. Beide Kohorten der Vierzehnten Legion schwenkten geschlossen in Breacas Richtung herum.
»Flieh!« Dieser Schrei stammte von Hawk, der unterdessen an ihre Seite geeilt war. Sein Hengst und der ihre hatten sich eng aneinandergepresst, Schulter an Schulter und Flanke an Flanke. »Verschwinde von hier! Wenn sie uns hier erwischen, hinter uns das Schlachtgemetzel, dann zerquetschen sie uns wie unter einem Hammer.«
Rasch hastete Gunovar an Breacas andere Seite. Wie ein Schild aus Fleisch und Blut schloss die Ehrengarde sich um sie. Und gemeinsam schoben sie sich langsam durch das Mahlwerk der Schlacht, kämpften verbissen darum, endlich am Rande des Feldes wieder auf freies Gelände zu treffen.
Sie hatten den Rand des Schlachtfeldes fast schon erreicht, als der Langspeer Breaca traf. Eisen durchbohrte ihren linken Arm unmittelbar unter der Schulter und ein gutes Stück oberhalb des Schildrandes. Entsetzt klammerte sie sich mit der freien Hand in der Mähne ihres Pferdes fest, hielt den Atem an, versuchte, sich allein mit der Kraft ihrer Gedanken gegen die Dunkelheit zu wehren, die sich bereits um sie zu schließen begann. Dann kam der schier unendlich lange, eisige Augenblick des Wartens - des Wartens auf den Schmerz.
Aus den Reihen der hinter ihr kämpfenden Legionare schallte lautes Jubelgeschrei zum Himmel hinauf. Breaca war verwirrt, nahm alles nur noch wie durch einen Schleier wahr und erinnerte sich plötzlich wieder an Valerius und daran, wie dieser neben ihr an der Feuerstelle gesessen hatte, ehe er ihr seinen selbstgefertigten Speer überreicht und in seinem typischen, trockenen Humor erklärt hatte: Spätestens dann, wenn die Legionare dir die erste Wunde geschlagen haben, wird die Kampfeswut der Krieger vollends entfesselt sein. Dann gibt es nichts mehr, was sie noch aufhalten kann. Trotzdem, denke ich, wäre es besser, wenn du nicht verletzt würdest.
Breaca spürte, wie Valerius’ Geist sie zart zu streifen schien, fühlte auch Airmids gedankliche Gegenwart, und dann nahm sie nur noch ein Gefühl der Kühle wahr und von sanft rinnendem Wasser. Alles, was jetzt noch zählte, war, sich unbedingt auch weiterhin auf ihrem Pferd halten zu können und sich irgendwie hinauszukämpfen aus diesem mit Blut vermengten Schlamm und den Bergen von Toten, die die Schlacht bereits von beiden Seiten gefordert hatte, fort von den Unmengen von Leichen und weggeschleuderten Rüstungen und Waffen, die jeden Schritt zu einem Wagnis machten.
Von irgendwo erklang der Schrei einer Krähe. Dumpf vibrierte der kehlige Ruf durch Breacas Brustkorb. Geistesabwesend warf sie ihren Schild von sich und trieb den Hengst mit den weißen Fesseln hinaus aufs freie Gelände.
Breacas Tochter hatte dabeigesessen, als die Krieger sich darüber berieten, wo die Bodicea sich am besten auf dem Schlachtfeld positionieren solle, wenn sie ein möglichst leicht zu erkennendes Ziel abgeben wollte. Und natürlich hatte Graine es gehasst, dieser Diskussion zu lauschen - dennoch war ihr kein vernünftiges Argument eingefallen, mit dem sie sich gegen diesen Plan hätte wenden können. Denn wo Krieg herrschte, dort starben auch Menschen, das war nun einmal so. Und wenn Briga die Seele eines Menschen zu sich holen wollte, konnte keine noch so große Vorsicht die Göttin von ihrer Beute abhalten. Beschloss Briga hingegen, das Leben eines Menschen zu verschonen, so war dieser Mensch geradezu unsterblich, egal, welches Risiko er auch eingehen mochte.
Also war es auch allein Brigas Wille gewesen, der eine feste Mauer aus berittenen Kriegern in genau jenem Moment über das Schlachtfeld gezogen hatte, als der römische Gouverneur mit dem weiß befederten Helm Graines Mutter entdeckte und seinen Speerkämpfern als Ziel befahl.
Die Kämpfe hatten in diesem Augenblick bereits eine so mörderische, glühende und eisenharte Inbrunst angenommen, wie Graine sie noch niemals zuvor bei einer Schlacht hatte beobachten können. Der Befehl des Gouverneurs ließ den Kampfeseifer dann noch einmal doppelt so hell aufflammen - und zwar auf beiden Seiten. Klingen blitzten gleißend hell im Sonnenlicht, und die Schreie der Verwundeten waren so zahlreich, dass sie sogar das Kampfgeheul der langsam ermüdenden Krieger übertönten. Es verstrichen quälend lange Augenblicke, in denen es unmöglich war zu sagen, wer noch am Leben war und wer bereits zu den Opfern zählte.
Graine wandte den Blick ab, starrte hinüber zur anderen Seite des Feldes, wo Ardacos gerade eine kleine Gruppe von Bärinnenkriegern instruierte und diese dann ganz ähnlich einem Wurfspeer geradewegs mitten in das Chaos hinein entsandte. Ein knappes Stück hinter dem alten Bärinnenkrieger entdeckte Graine Cunomar, der selbst auf diesem chaotischen Schlachtfeld noch klar zu erkennen war an seinem stolzen, kalkweiß über dem Kopf aufragenden Schopf und dem Königsband, das er an seinem Oberarm trug. Er und seine Gruppe von Bärinnenkriegern waren in einen Kampf mit der rechten Außenflanke des Feindes verwickelt, und sie hatten bereits tapfer einem Angriff aus den Reihen der Kavallerie standgehalten, indem sie, als diese sie fast erreicht hatten, einfach geschickt zur Seite ausgewichen waren und sich dann wiederum blitzschnell umdrehten, um den vorbeigaloppierenden Pferden die Kniesehnen zu durchschneiden. Dieses Vorgehen hatten sie während der Invasionskriege von den Batavern erlernt, sodass sie diese nun mit deren eigenen Waffen schlugen.
Die Frontlinie der Gruppe von Bärinnenkriegern hatte sich derweil bereits verzerrt, und sie kämpften mit den Rücken in Richtung Rippelmarke gewandt. Graine beobachtete, wie ihr Bruder auf die Anhöhe hinaufstürmte, um somit bei seinem Sprint den Hügel hinab zusätzlichen Schwung zu gewinnen. Dieser sollte ihm helfen, noch kraftvoller auf den Rücken eines vorbeigaloppierenden Pferdes zu springen. Und in der Tat, der Sprung glückte perfekt, und Cunomar riss den feindlichen Kämpfer einfach mit sich zu Boden. Seine Energie schien unerschöpflich zu sein, und selbst sein dritter Sprint den Hügel hinab war noch genauso schnell wie die beiden ersten Läufe, nur dass er beim dritten Mal zunächst einen Augenblick auf dem kleinen Wall innehielt und den Blick über das Land schweifen ließ, dorthin, wo die Vierzehnte Legion sich in immer dichter werdenden Kreisen um die Bodicea schloss.
Aber - vielleicht - hatte diese sich ja auch schon wieder aus den Klauen der Feinde befreien können.
»Hawk jedenfalls ist noch am Leben«, bemerkte Airmid, sodass Graine sich schließlich wieder umwandte, um nach ihrem neu hinzugewonnenen Bruder zu schauen, und dann in genau jenem Moment den Hengst ihrer Mutter entdeckte, als dieser endlich aus dem Chaos der Schlacht ausbrach und das freie Feld jenseits des Kampfgetümmels erreichte.
»Und die Wunde an ihrem Arm«, urteilte Theophilus, Arzt von Athen und Kos, »wird sie sicherlich nicht umbringen.« Es war von größter Bedeutung für Graines inneres Gleichgewicht, seinen Worten nun vorbehaltlos Glauben zu schenken.
Jene jedoch, die Seite an Seite mit der Bodicea die Schlacht durchfochten, schienen da ganz anderer Ansicht zu sein. Gunovar war dicht neben sie geritten, ebenso wie Hawk, und beide versuchten offenbar gerade eindringlich, Breaca davon zu überzeugen, dass sie endlich den nachtblauen Umhang ablegen und einen Helm auf den Kopf setzen solle, um sich damit nicht mehr ganz so offensichtlich zu einer Art Zielscheibe zu stilisieren.
Einen Augenblick lang schien es, als ob Breaca dem Drängen ihrer Vertrauten nachgeben wollte - doch ihr Entschluss kam zu spät. Ein sauber formiertes Rechteck aus Legionaren hatte sich aus dem Chaos der Schlacht gelöst und stürmte nun geradewegs auf die Bodicea zu. Unmittelbar hinter ihnen fochten derweil Valerius und dessen Ehrengarde gegen Corvus’ Kavallerie. Selbst wenn Gunovar und Hawk es also tatsächlich noch geschafft hätten, Breaca optisch in eine ganz normale Kriegerin zu verwandeln, so hätte das diese jetzt auch nicht mehr retten können, denn es gab ganz einfach keinerlei Fluchtwege mehr, um den Legionaren noch irgendwie zu entkommen.
Also formierten Breaca und ihre Mitstreiter sich zu einer festen Front. Eine andere Option blieb ihnen nicht mehr.
Graine sah, wie Hawk sich hinabbeugte, um einem bereits gefallenen Krieger dessen Schild zu entreißen und diesen mit einer Art Salut zu Breaca hinüberzuwerfen. Gunovar fand unterdessen einen noch intakten Speer. Hastig trieben sie dann ihre Pferde unmittelbar vor die Bodicea, während der Rest ihrer Ehrengarde sich in bemerkenswerter Ordnung seitlich von ihr formierte, und dies alles gerade noch rechtzeitig, um sich den ersten der auf sie zustürmenden Männer entgegenzustemmen.
Mittlerweile war es Graine unmöglich, den Blick noch abzuwenden.
 
Schließlich war auch Corvus nahe genug, dass er in dem Getümmel zu erkennen war.
Valerius’ ganze Konzentration richtete sich allein auf die Schlacht. Dennoch brannte Corvus’ Gegenwart sich wie eine helle Flamme geradezu in sein Bewusstsein hinein, bis die blitzenden Klingen und die schweißnassen, gegeneinanderprallenden Massen der Pferde zu einer Art grauem Schleier verblassten. Allein sein Instinkt bestimmte nun noch Valerius’ Kämpfen; nur die Intuition und nicht mehr die Ratio hielt ihn noch am Leben. Und allein dieser Instinkt war es auch, der ihn immer weiter nach vorn zog, bis Valerius schließlich jenen Mann auf der rotbraunen Stute erreichte, der fast schon von einem göttlichen Glanz, von gottgegebener Unverwundbarkeit umschlossen schien, während er sich mitten im Kriegsgemetzel wie selbstverständlich einfach über das Schlachtfeld focht.
Unmittelbar neben Valerius starb ein Kavallerist - und in genau diesem Augenblick wurde ihm klar, dass auch er unter einer Art göttlichem Segen lebte, dass die Feinde um ihn herum starben, weil auch er seine Zeit nicht mit Denken verschwendete, sondern einfach nur seinem Instinkt zu folgen brauchte.
Fast hatte er den schwarzen Hengst mit den weißen Fesseln erreicht, als mitten im Schlachtgetümmel ein Seufzen durch die Menge zu gehen schien. Durch bloßen Zufall wich die Masse der Kämpfenden vor ihm einen Spalt breit auseinander, und wiederum bloß durch Zufall schaute Valerius in genau diesem Augenblick durch den sich eröffnenden Tunnel.
»Breaca ist gefallen!«, schrie irgendjemand quer über das Schlachtfeld. Erst später begriff Valerius, dass genau er dieser Jemand gewesen war.
Corvus wandte sich schneller um als irgendjemand sonst. Kurz darauf aber wirbelte auch sein Standartenträger herum und daraufhin wiederum ein Trompeter, der einen einzelnen Ton aus seinem Instrument erschallen ließ, ganz ähnlich jenem Zeichen, wenn bei einer Jagd eine neue Beute ausgemacht worden war. Corvus’ rotbraune Stute sprang mit einem solch enormen Satz vorwärts, wie ihn sonst nur das Rotwild zu vollbringen vermochte. Damit war Corvus der Bodicea nun ein ganzes Stück näher als Valerius.
Und dennoch hatten die Eceni die besseren Pferde, davon war Valerius überzeugt. Er trieb das Krähenpferd also an, bis es in gestrecktem Galopp über das Feld preschte. Es war Valerius in diesem Moment vollkommen gleichgültig, ob seine Krieger es schafften, sich ihm anzuschließen, oder ob sich ihm irgendjemand in den Weg zu stellen versuchte.
 
Der neue Schild war zu schwer, weshalb Breaca ihn ein wenig zu tief hängen ließ. Dadurch wiederum hatte sie den gegen sich gerichteten Schwerthieb nicht mehr richtig abwehren können, und die Klinge traf sie einmal quer über den gesamten Rücken. Allein das Kettenhemd, das sie trug, hatte den sofortigen Tod noch von ihr abgewendet.
Natürlich hatte ihr Hengst, als die Klinge auf sie zusauste, noch versucht, zur Seite auszuweichen, doch der von Toten übersäte Boden hatte die Wendung ein wenig holprig ausfallen lassen, sodass die ruckartige Bewegung des Pferdes Breaca das Gleichgewicht raubte und der Schlag mit der Waffe sie schließlich vollends aus dem Sattel stieß.
Doch Breaca fiel nicht einfach, sondern rollte immerhin noch ab, schaffte es sogar, nicht gegen eine einzige der im Schlamm liegenden Waffen zu stoßen, was an sich bereits nahezu an ein Wunder grenzte.
Sofort versuchte sie, sich wieder vom Boden hochzustemmen. Schon war auch Hawk von seinem Pferd gesprungen, war neben sie geeilt und half ihr, wieder aufzustehen. Sogar Gunovar war abgestiegen und drängte sich von der anderen Seite dicht neben Breaca, sodass sie nun zu Fuß kämpften, mit den Pferden hinter sich. Verzweifelt versuchte Breacas Ehrengarde, die Legionare auf Abstand zu halten.
Und schaffte es doch nicht. Schließlich zogen die noch berittenen Krieger sich an die Flanken der kleinen Dreiergruppe zurück, damit diese wenigstens ungehindert mit ihren Schwertern ausholen konnten und nicht auch noch einen Angriff von der Seite fürchten mussten.
Auf eine gewisse, fast schon seltsame Weise fühlte sich diese Art des Kämpfens für Breaca besser an, als hoch zu Pferd durch die Schlacht zu reiten und allein mit Hilfe ihrer Strategie und ihren Befehlen gegen die Legionen anzukämpfen. Sie schmeckte ihren eigenen Schweiß und das Blut bereits niedergestreckter Männer und genoss beides. Dann hob sie abermals den viel zu schweren Schild, um einen Schwerthieb gegen ihren Kopf abzuwehren, in dem vollen Bewusstsein, dass sie die Male, die sie den Schild noch auf diese Höhe würde emporreißen können, bereits an ihrer einen, noch unversehrten Hand abzählen konnte.
Sie wollte Hawk und Gunovar sagen, dass diese sie verlassen sollten, und wusste doch, dass sie dazu nicht mehr genügend Atem besaß. Und selbst wenn sie noch die Kraft dazu besessen hätte, wären ihre Worte doch verschwendet gewesen. Mehr schlecht als recht wehrte sie einen erneuten Hieb gegen sich ab. Die Klinge des Schwertes sauste unmittelbar an ihrem Gesicht vorbei. Hawk stach nach dem Mann, der diesen Angriff auf die Bodicea versucht hatte, und traf ihn doch nicht. Sie alle ermüdeten.
»Wir sollten...«, keuchte Breaca, »uns Rücken an... Rücken aufstellen.« Diese Taktik hatte sie einst, vor langer Zeit, auf Mona gelernt. Es war die Taktik, die die Krieger anwendeten, wenn sie wussten, dass nun selbst die letzten Chancen auf ein Überleben dahin waren.
Hawk nickte, befeuchtete sich die Lippen und wartete, bis der Schlag mit dem nächsten Schild, der gegen ihn gerammt wurde, ihn quasi von ganz allein in die richtige Richtung schob. Gunovar trat einen Schritt zurück und drängte sich in die Lücke zwischen Breaca und Hawk. Breaca rutschte auf hervorquellenden Eingeweiden aus, fing sich aber wieder. Glücklicherweise stand Hawk noch immer aufrecht und drückte seine Schultern gegen die ihren, fest, sicher und verlässlich. Niemals hätte Breaca gedacht, dass von all ihren Kindern ausgerechnet ihr erst jüngst Hinzugewonnenes bei ihr sein würde, wenn der Augenblick ihres Todes nahte. Immerhin aber ließ dieser Gedanke die Hoffnung zu, dass dafür ihre anderen Kinder die Schlacht überleben könnten.
Nach und nach wichen die immer schwächer werdenden Reihen ihrer Ehrengarde auseinander. Zwei Legionare stürzten zeitgleich auf Breaca zu.
Breaca holte mit ihrem Schwert nach den Angreifern aus und hatte Glück: Ihre Klinge prallte vom Helm des einen Soldaten ab und grub sich in die Wange des anderen, direkt neben ihm kämpfenden Legionars, der daraufhin schreiend zurücktaumelte und sich das Gesicht hielt.
Blut spritzte ihr in die Augen, ließ sie für einen kurzen
Moment regelrecht erblinden. Sie blinzelte hastig. Dann, als sie wieder sehen konnte, erkannte sie, dass beide Legionare vor ihr tot waren und an ihrer Stelle plötzlich Valerius auf seinem Pferd thronte. Schützend hatte er den mächtigen Körper des Krähenpferdes vor seine Schwester gedrängt und hieb derweil wie von Sinnen zu beiden Seiten des Tieres wild um sich. Ihm folgten genau ein Dutzend Krieger - Krieger von Mona -, wobei sie hinter sich eine Schneise des Todes über das Schlachtfeld zogen.
Plötzlich herrschte dort, wo gerade eben noch die Hölle getobt hatte, wieder ein eigentümlicher Frieden.
Breaca spürte, wie Hawk gegen sie sank. Mit aller Kraft bemühte sie sich, aufrecht stehen zu bleiben. Nun einfach zusammenzubrechen, wäre zu beschämend, und zwar für sie beide.
Hastig stieß ihr Bruder seine Befehle aus, blitzartig wie die Funken, die aus einem Feuer entsprangen, wenn das Brennholz noch zu frisch und zu grün war. Huw und drei weitere Steinschleuderschützen bauten sich vor Breaca auf, hinter ihr schlossen sich die Krieger von Mona zusammen. Longinus und Cygfa eilten an die Seiten der kleinen Truppe, um die drei vor Breaca aufgereihten Krieger zu verteidigen. Hastig wirbelte Valerius zu Breaca herum, doch sie konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht beim besten Willen nicht entziffern. »Breaca, kannst du reiten?«
Der schwarze Hengst mit den weißen Fesseln stand zu weit entfernt, als dass sie ihn noch hätte erreichen können. Es fiel ihr schwer, in dieser Situation einen klaren Gedanken zu fassen. »Aber dein Pferd kann uns nicht beide tragen«, entgegnete Breaca.
Ausdruckslos starrte Valerius sie an. »Ich weiß«, antwortete er schließlich. »Ich wollte ja auch nur wissen, ob du überhaupt noch...«
»Bán!«
Sie schrie den falschen Namen. Jener winzige Moment, den Valerius brauchte, um zu begreifen, dass er gemeint war, kostete ihn fast sein Leben. Ein gewisser Legionar dagegen begriff und reagierte da schon wesentlich schneller, und eine rotbraune Stute, die Breaca damals, als diese noch ein Fohlen gewesen war, liebevoll aufgezogen hatte, wirbelte blitzschnell und in einer perfekten Kehrtwende auf der Hinterhand herum. Dann sauste eine Klinge auf Valerius’ Kopf hinab, geführt von einem Mann, der einst ein Freund gewesen war.
Auch diesen Namen brüllte Breaca nun aus voller Kehle, erwartete jedoch auch von ihm keine Antwort mehr. Denn mit Corvus kam der Tod, und dieses Mal würden sie ihn nicht mehr von sich abwehren können.
 
In der Tat: Mit Corvus kam der Tod. Doch Valerius ließ seinen Gegner spüren, dass auch er noch zu töten verstand.
Dicht hielten die Kämpfer sich um diese beiden gedrängt. Niemand wich zurück, um Valerius und Corvus ihren Kampf allein austragen zu lassen. Stattdessen strömten immer mehr und mehr Legionare und Krieger heran, um sich dem stetig haltloseren Schlachten anzuschließen. Aus den Augenwinkeln sah Valerius, wie Huw einen Stein in seine Schleuder legte, und befahl mit gellendem Schrei: »Nicht!« Obgleich er im Nachhinein selbst nicht mehr wusste, warum er dies eigentlich gesagt hatte.
Grell blitzte eine eiserne Klinge unter der viel zu heißen Sonne. Dann schlug Corvus’ Schwert auch schon mit wahrhaft mörderischer Wucht nach Valerius’ Kopf. Doch das Krähenpferd wich Corvus’ Schlag mit einer geschickten Drehung seines Körpers aus, bäumte sich auf der Hinterhand auf und schlug dann - weil genau dies Valerius’ Gedanke gewesen war oder vielleicht auch bloß, weil genau dies der Gedanke des Tieres gewesen war und Valerius diesem nur gefolgt war - mit den Vorderhufen nach ihrer beider Angreifer. Valerius und der Hengst schienen nicht mehr wie Pferd und Reiter, sondern nur noch wie ein einziges Wesen. Jedes Mal, wenn sie in einer Schlacht zusammen kämpften, schien sich diese seltsame Metamorphose mit ihnen zu vollziehen.
Doch Corvus’ Pferd war fast ebenso gut. Die rotbraune Stute mit dem Brandzeichen der Eceni auf ihrem Schulterblatt wich hastig zur Seite aus, vermied dabei die am Boden liegenden Toten und vollführte schließlich ebenfalls eine Drehung, um damit ihren Reiter nach vorn zu heben. Corvus riss unterdessen seinen Schild empor, schützte damit sowohl sich selbst als auch seine Stute und stach dann mit einer geschickten Handbewegung von unten nach Valerius’ Herz.
Sein Kopf war ein ganzes Stück höher als Valerius’, umschlossen von einem Helm, der an den Seiten bereits zahlreiche Beulen und Dellen abbekommen hatte, und unter dem Helm lugten kurze schwarze Haarsträhnen hervor. Der Schweiß lief ihm in Bächen das Gesicht hinab, und in seinen großen dunklen Augen lag jener klare, absolut konzentrierte Ausdruck, wie er schon den ganzen Tag über in seinem Blick gelegen hatte und auch noch genau so lange darin verweilen würde, wie es eben nötig war.
Vielleicht hätten sie nun einfach miteinander sprechen sollen - inmitten der rauen Schluchzer der Schlacht. Andererseits aber gab es nun nichts mehr, was noch hätte gesagt werden müssen.
Sollte ich als Erster sterben, so werde ich auf dich warten.
Keiner von beiden hatte gesagt: Falls du mich tötest, werde ich trotzdem auf dich warten. Und dennoch hatte ein jeder von ihnen auch diesen Gedanken gedacht. Zäh schien der unausgesprochene Schwur zwischen ihnen in der Luft zu schweben.
Schon aber hatte Valerius den Hieb pariert, wandte seinem Gegner bewusst seine ungeschützte Schulter zu, um ihm ein Angriffsziel zu bieten, und ließ das Krähenpferd dann, als die Aufforderung nicht angenommen wurde und Corvus stattdessen mit dem Rand seines Schildes erst nach Valerius’ Gesicht und schließlich nach dessen Arm hieb, rasch wieder rückwärts tänzeln. Hastig parierte er den Angriff erneut, stieß mit seinem Schwert nach Corvus, traf ein ungeschütztes Stückchen braune Haut und sah, wie plötzlich Blut an die Oberfläche drang.
Vor lauter Überraschung über diesen Treffer fiel seine nächste Reaktion aber ein wenig zu langsam aus, erst zu spät riss er wieder seinen Schild empor, sodass er im Gegenzug eine Wunde am Oberschenkel zugefügt bekam und das Krähenpferd einen langen Schnitt quer entlang seiner Halslinie davontrug. Laut schrie es seinen Zorn hinaus, trat mit hohen Schritten über einen verwundeten Silurer hinweg, erhob sich auf die Hinterhand und hieb wie blind mit den Vorderhufen um sich. Kurz darauf aber und nur allzu bald kam es wieder auf dem Boden auf. Dieses Tier besaß so viel Mut und so viel Hass, und dennoch ließen seine Kräfte nach.
Niemals hätte Valerius gedacht, dass einmal der Tag käme, an dem er das Krähenpferd ritt und schockiert feststellen musste, dass es ermüdete. Die Pforten zu seinem Bewusstsein brachen auf, und entsetzt stellte Valerius fest, dass sein Geist vollkommen leer war. Es gab keine Götter mehr, keine Liebe, keine Vergangenheit und auch keine Gegenwart. Kein ungeborenes Kind, keine gerade erst wieder genesene Schwester. Keine Strategie, keine Taktik, kein Wissen mehr um das Überleben in einer Schlacht. Nichts lebte mehr in seinem Bewusstsein, nur noch dieser eine Gedanke, dass er auf keinen Fall dieses Pferd verlieren dürfe, weil er ohne den Hengst namens Krähe einfach nicht mehr leben wollte.
Verzweiflung zerrte an ihm, schwer wie der Tod. Ein roter Zornesnebel wogte immer dichter auf ihn zu, und Valerius begriff, dass auch er erschöpft war, dass er die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit im Grunde schon längst überschritten hatte und dass er nun - denn genau dies hatte er schon bei zahlreichen anderen beobachten können - die Kraft hatte, um noch umso mehr Männer niederzumetzeln, als Dummheit oder Arroganz oder ganz einfach Kriegerglück ihm jemals in seinem Leben gestattet hätten.
Abermals wirbelten Valerius und sein Pferd herum und wichen dabei geschickt einem weiteren Schlag aus, der mangels jeglichen Bewegungsspielraums ohnehin viel zu schwach ausgefallen war.
Sollte ich als Erster sterben...
Wir könnten ja auch zusammen sterben. Das wäre doch passend. Es wäre sogar genau das Richtige. Wie ein feiner Funken erhellten dieser Gedanke und das Wissen um die Art und Weise, wie man diesen Gedanken in die Tat umsetzen könnte, den Nebel in Valerius’ Kopf.
Auf der Suche nach freiem Gelände drängte er das Krähenpferd stetig weiter rückwärts. Corvus folgte ihm, ganz so, als ob eine Art Nabelschnur ihn mit seinem Widersacher verbände; eine Nabelschnur, die doch keiner von beiden zu durchtrennen wagte.
Der Rest der Schlacht schien zu einem Nichts zu verblassen. Nach Huw hatte niemand aus dem Kriegerheer mehr versucht, sich in den Zweikampf zwischen Valerius und Corvus einzumischen - allein die Legionare und die Kavallerie blieben natürlich auch weiterhin den Attacken der Krieger ausgesetzt. Ansonsten aber bemühten Valerius’ Gefolgsleute sich darum, ihrem Anführer möglichst nicht im Wege zu stehen und ihm Platz zu machen, sodass er tun konnte, was er ganz offensichtlich einfach tun musste. Linkerhand von Valerius stand Breaca, die noch immer kein Pferd gefunden hatte. Rasch wollte er Cygfa einen knappen Befehl zurufen, hatte aber weder die Zeit noch den Atem dazu.
Immer wieder täuschte er einen Angriff an, ließ seinen Schild dabei aber stetig tiefer sinken, denn seine Kraft ging zur Neige. Corvus, der Valerius besser kannte als irgendjemand sonst, beobachtete dies alles genau und schlug immer härter und härter auf seinen Feind ein. Verzweifelt hieb Valerius um sich, wurde gegen eine Mauer von Legionaren gedrängt, und abermals traf ihn ein rückhändig ausgeführter Schlag, und zwar diesmal unmittelbar am Hals, dort, wo die Rüstung endete. Er warf den Kopf in den Nacken, stieß einen lästerlichen Fluch aus und trieb das Krähenpferd hastig zur Seite, das heißt, zumindest so rasch, wie das verletzte Tier diesen Befehl noch irgend auszuführen vermochte. Dann wartete er auf den nächsten Schlag, der ihn nach den Regeln der Kampfkunst nun theoretisch aus seitlicher Richtung von oben erwischen sollte. Kaum, dass er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, wurde er auch schon getroffen, sodass er...
»Valerius! Weg da!«, ertönte plötzlich Longinus’ Stimme. Seine Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Zudem rief er den richtigen Namen. Und kam dennoch zu spät.
Das Krähenpferd hatte bereits zur Kehrtwende angesetzt - und rettete Valerius damit das Leben. Hell sang Corvus’ Klinge Valerius’ Namen, riss ihm mit einem einzigen Schlag die metallene Rüstung samt dem ledernen Wams vom Rücken. Valerius hatte keine Chance gehabt, den Schwerthieb abzuwehren, und das Krähenpferd, das den Angriff vielleicht noch entsprechend hätte parieren können, war zu erschöpft, konnte bloß noch fliehen, aber nicht mehr reagieren. Valerius blieb also nichts anderes, als das Pferd mit den Knien immer weiter zur Seite zu drängen, und langsam, doch gehorsam folgte das Tier seinem Befehl. Und schon holte Corvus zu seinem nächsten Schlag aus - doch dieser Hieb zielte nicht mehr auf Valerius, sondern auf das Krähenpferd. Mit einem weit ausholenden, bogenförmigen Schlag von unten durchtrennte er den Hals des Tieres, in einer ganz ähnlichen Geste also, wie auch der Gott beim Opferfest den Bullen an sich nahm. Corvus’ Klinge durchschnitt die Adern, die Luftröhre, drang mit einem einzigen Schlag bis zur Halswirbelsäule vor. Das Tier fiel wie von einem Schlachterbeil getroffen, und allein die Tatsache, dass es bereits im Kehrtmachen begriffen gewesen war, verlieh Valerius noch den nötigen Schwung, um sich mit einem erschöpften Sprung aus dem Sattel zu retten.
»NEIN!«, schrie Valerius anstelle des Pferdes, denn die Stimme des Tieres war erloschen. Es lag auf dem Boden, die Beine zuckte im vergeblichen Galopp, und ungehindert rann sein Blut in den Schlamm, wurde von seinen letzten Atemzügen mit Blasen durchsetzt.
In den Augen des Tieres aber glänzte noch das Leben. Bäuchlings warf Valerius sich vor ihm auf den Boden und weinte.
Man ließ ihm Zeit zur Trauer. Sowohl die Männer als auch die Frauen, die um ihn herum um ihr Leben kämpften oder starben, wichen von ihm, denn die Trauer um ein treues Pferd war wichtiger als dieser Kampf, war wichtiger als jegliche Schlacht. Vielleicht aber wollten sie ihn auch einfach allein lassen mit Corvus, der sein eigenes Pferd mittlerweile gezügelt hatte, sodass es reglos auf der Stelle stand. Mit bleichem Gesicht blickte Corvus auf seinen einstigen Kameraden.
Es gab keine Worte, die dieser Situation nun angemessen gewesen wären. Dennoch versuchte Corvus es und erklärte: »Es tut mir leid. Dein Pferd wird auf dich warten, so, wie auch ich auf dich gewartet hätte. Es ist besser so. Dein Heer verliert. Die Reservetruppen der Vierzehnten Legion haben deine Krieger bereits besiegt. Und wenn jetzt auch noch die Zwanzigste Legion ausgeschickt wird, dann ist die Schlacht endgültig vorüber.«
Schier unendliche Male hatten sie geübt, wie man vom Rücken eines Pferdes aus einem feindlichen Infanteristen mit einem einzigen Schwerthieb das Leben nahm. Langsam erhob Valerius sich vom Boden. Immerhin wollte er nicht im Liegen sterben. Die Götter verlangsamten das Tempo seines Daseins, auf dass sein Leben ihm noch ein klein wenig länger erschien. Die Zeit schien ihre Macht zu verlieren, schien sich zur Unendlichkeit auszudehnen, während Valerius den Ansatz zu jenem letzten Schlag beobachtete, der ihn endgültig in das Leben hinter dem Tode entlassen sollte. Aufmerksam folgte er mit dem Blick dem Schwung des Schwertes, sah, wie es zurückgerissen wurde, einen Bogen vollführte und dann niederfuhr, geradewegs auf seinen Kopf zu …
... nur dass Valerius plötzlich nicht mehr dort war, wo er gerade eben noch gestanden hatte. Einst, während eines langen Winters an den Ufern des Rheins, hatten Corvus und er, Valerius, ihren ganzen Ehrgeiz darangesetzt, eine adäquate Reaktion auf einen derartigen Angriff zu finden. Doch die einzige Gegenwehr, die sie entwickeln konnten, funktionierte auch bloß ein einziges Mal von eintausend.
Allerdings war dies nun nicht mehr ein Kampf, der allein zwischen Valerius und Corvus stattfand, sondern auch die Götter waren zugegen, hatten das Tempo von Valerius’ Welt bereits gedrosselt, auf dass er noch etwas länger lebte - und mit Windeseile hatte Valerius genau diesen Augenblick genutzt und war mit einem geschmeidigen Satz nach Art der Krieger, die sich praktisch aus dem Stand auf ein vorbeigaloppierendes Pferd zu schwingen vermochten, geradewegs auf den Rücken von Corvus’ Stute gesprungen. Geschickt war er somit unter der auf ihn herabsausenden Klinge hindurchgetaucht und kämpfte nun darum, Halt zu finden auf dem Rücken des armen Pferdes, das unter der zusätzlichen Last merkbar zusammengesunken war. Verzweifelt kämpfte Valerius darum, den von Kopf bis Fuß mit einer Rüstung bewehrten Mann vor ihm zu packen, einen Mann, der bereits halb gewusst hatte, dass Valerius mit diesem Sprung auf ihn ansetzen würde, und der seinen Widersacher nun dennoch nicht mehr abzuschütteln vermochte.
Das Pferd vollführte zwei zittrige Schritte nach vorn, Valerius schien fast schon wieder von seinem Rücken hinabzurutschen. Dann aber, als Instinkt und der unbedingte Zwang zu gewinnen langsam über Angst und Erschöpfung siegten, fand er endlich doch noch einen Halt und ritt hinter Corvus auf dessen rotbrauner Stute, ganz so, wie sie auch schon einmal an den Ufern des Rheins hintereinander auf einem Pferd geritten waren. Nur dass Valerius diesmal ein Schwert in der Hand hielt und zudem allen Grund hatte, diese Waffe auch einzusetzen.
Andererseits... vielleicht war selbst dieser Grund noch nicht Grund genug. Ein wohlvertrauter Duft hüllte Valerius ein. Ein Duft, den er schon sein ganzes Erwachsenenleben lang gekannt hatte, der nur ganz schwach war, wenn der Mann, zu dem dieser Duft gehörte, gerade aus den Bädern kam, und wiederum sehr scharf in Valerius’ Nase drang, wenn dieser gewisse Mann von einer Schlacht heimkehrte, oder aber, wenn sie beide die Nacht miteinander verbracht hatten. Valerius konnte den letzten, den endgültigen Hieb nicht ausführen.
Damals - in jenem zum Sterben langweiligen Winter, als der Schnee den Pferden bis zu den Sprunggelenken reichte und der Fluss von so dickem Eis überzogen war, dass man sogar darauf reiten und Kavalleriemanöver einüben konnte - hatten sie beide noch einen weiteren Trick probiert, den man in einer Situation wie dieser anwenden könnte. Mit dem einen Arm langte Valerius nun unter Corvus’ Achselhöhle hindurch nach dessen Kehle. Anschließend riss er dessen Kopf nach hinten und rammte mit aller ihm noch verbliebenen Kraft und Trauer sein Knie gegen Corvus’ Stirn.
»Es tut mir leid«, sagte nun auch Valerius, als der andere Mann leblos zu Boden sackte. »Und ich werde noch immer auf dich warten in dem Land hinter dem Leben, egal, wie viel Zeit bis dahin vergehen mag. Und ich weiß, dass auch du auf mich wartest.«
Die Stute war eines der Pferde aus dem Stamme der Eceni. Sie kannte die Worte, die Valerius nun an sie richtete, also genau und reagierte sofort auf den leichten Druck mit seinem anderen Knie. Blitzschnell wirbelte sie auf seinen Befehl hin herum, sodass er gerade noch sehen konnte, wie ein Mann in einem übel riechenden Wolfsfellumhang sich aus seinem Sattel fallen ließ und neben dem Toten zu Boden sank, der nun mit gebrochenem Genick im Schlamm lag.
Vielleicht atmete Corvus aber auch noch... noch war Zeit und Raum, um zu glauben, dass er noch lebte.
Schon aber wandte die Stute sich abermals um, bäumte sich auf Valerius’ Befehl hin auf der Hinterhand auf, peitschte mit den Vorderhufen durch die Luft, sodass er einmal den Blick über das gesamte Schlachtfeld schweifen lassen konnte und die sich abzeichnenden Muster erkannte - und endlich auch Breaca wieder entdeckte. Noch immer waren sie und Hawk gefangen in einem wahren Hexenkessel aus Legionaren. Und sie verloren, genauso wie auch ihr gesamtes Heer verlor.
Doch Valerius hatte sich geirrt, denn auch nach dem Tod des Krähenpferdes gab es für ihn einen Grund, um weiterzuleben. Er trieb sein neues Pferd vorwärts, riss sein Schwert empor und sandte ein kurzes Stoßgebet zu seinen Göttern hinauf, dass diese ihm helfen würden, noch rechtzeitig seine Schwester zu erreichen.
Die Kriegerin der Kelten
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