XLIV
Laute Fanfarenstöße zerrissen die Luft, hektisch
und zugleich melodisch wie der Ruf eines Vogels.
Drei eilige Töne, erst einmal und dann ein zweites
Mal. Noch ehe das Signal ein drittes Mal über das Schlachtfeld
schallte, hatte Valerius das Krähenpferd bereits auf der Hinterhand
einmal halb um dessen eigene Achse wirbeln lassen und preschte nach
vorn. Mit nur minimaler zeitlicher Verzögerung setzte Longinus ihm
nach - schließlich hatte er dieses Manöver mit seinem Pferd
mindestens genauso oft und genauso hart und genauso lange trainiert
wie Valerius.
Cygfa dagegen war etwas langsamer als ihre beiden
Kampfgefährten.
»Los!«, brüllte Valerius über den Kampflärm hinweg
und erklärte dann, als schließlich auch Cygfa neben ihm angelangt
war: »Das ist Corvus’ Signal.«
Und in der Tat, es war tatsächlich Corvus, der sich
mit seinem Flügel rechterhand und außerhalb der Sichtweite der
Krieger positioniert hatte. Dort hatte er so lange gelauert, bis
alle Anhänger Valerius’ auf das Schlachtfeld geströmt waren. Dann
setzte er aus dem Hinterhalt auf sie an. Zugegebenermaßen aber
hätte Valerius in Corvus’ Situation genau die gleiche Taktik
verfolgt, und somit war er auf den Angriff vorbereitet gewesen.
Seine Ehrengarde folgte ihm, so schnell sie nur irgend konnte.
Mittlerweile standen ihm noch nicht einmal mehr zweihundert Kämpfer
zur Seite, und das gegen einen kompletten Kavallerieflügel von
fünfhundert.
Angeführt von Huw, der seine Steinschleuder mit
wirklich erstaunlicher Präzision einzusetzen wusste, schwärmten
Valerius’ Reiter in einer lang gestreckten Reihe quer über das Feld
und versuchten verzweifelt, sich einen sicheren Ausweg aus dem
Schlachtgemetzel zu erkämpften. Jedoch dauerte dieses Vorhaben
länger als geplant, denn der Boden war übersät mit den Eingeweiden
der Toten, und es fand sich kaum Raum, um sich effektiv von der
römischen Plage freizukämpfen.
»Jetzt beeilt euch endlich!«
Im gestreckten Galopp kam in gerader Linie eine
komplette Kavallerieabteilung auf ihn zugestürmt, wobei die äußeren
Flügel sich bewusst ein Stück zurückfallen ließen. Als Erstes
sollten die Mittelblöcke auf den Feind auftreffen, während der Rest
der Legionare noch ein Weilchen wartete, um notfalls die am Rande
positionierten Krieger einkreisen zu können. In der Ausbildung
während seiner Zeit bei der römischen Kavallerie hatte man Valerius
gelehrt, dass es auf einen solchen Angriff genau zwei mögliche
Gegenreaktionen gab. Doch für keine dieser beiden Varianten blieb
ihm noch die Zeit, geschweige denn, dass er überhaupt ausreichend
geschulte Reiter um sich gehabt hätte. Das Einzige, was er nun als
Verteidigungstaktik einsetzen konnte, waren besagte knapp
zweihundert Krieger. Und diese hatten sich ihm ganz und gar, mit
Leib und Leben und sogar dem Leben ihrer Pferde verschworen,
Pferde, von denen Valerius glaubte - von denen er nun einfach
glauben musste -, dass sie schneller waren und stärker und zäher
als die Tiere des Feindes.
»Links!«
Valerius riss sowohl sein Pferd als auch sein
Schwert auf die Schildseite hinüber, und seine Krieger folgten ihm,
wie auch Gänse ihrem Leitvogel folgten oder wie ein Fisch sich der
Richtung seines Schwarms anpasste. Nur dass Valerius’ Männer leider
etwas langsamer waren in ihrer Reaktion als die Tiere der Lüfte und
des Wassers, denn die Krieger waren zum Teil noch immer in
erbitterte Kämpfe mit den Legionaren verstrickt.
Valerius führte sie quer über die Rippelmarke und
dann auf der anderen Seite wieder hinab, sodass der leichte Abfall
der Böschung ihnen zusätzlichen Schwung und zusätzliche
Schnelligkeit verlieh und damit genau jenen Vorteil, wie ihn kurz
zuvor auch die Legionare sich zunutze gemacht hatten. Allerdings
stürmte Valerius dann nicht geradewegs in ein begierig lauerndes
Heer hinein, sondern hastete, am Fuße der Rippelmarke angekommen,
zunächst in einer scharfen Rechtskurve diagonal durch das Tal,
sodass alle, die ihm folgten, ebenfalls einen großen Bogen ritten
und schließlich geschlossen und ordentlich formiert wieder hinter
Valerius angelangten. In dieser Aufstellung preschten sie dann von
rechts aus geradewegs in den weit geschwungenen Bogen von Corvus’
Kavalleristen hinein. Sie attackierten die Legionare von der
Schwertseite aus, wo deren Schilde nutzlos waren. Zudem traten sie
gegen Männer an, die sich bis zu diesem Moment allein auf die Front
konzentriert hatten und denen die Rippelmarke außerdem noch die
Sicht versperrt hatte.
Der Zusammenstoß zwischen Valerius’ Kriegern und
den Reitern unter Corvus’ Befehl war ein rasches, gnadenloses
Scharmützel, bei dem trotz der Inbrunst der Krieger letztlich bloß
sechs Legionare den Tod fanden. Hastig dirigierte Valerius das
Krähenpferd nun weit nach außen und anschließend geradewegs zurück
auf die Mitte zu, sodass er die Männer seines einstigen Freundes
nun von hinten attackierte, genauso also, wie wohl auch eine
Hornisse sich auf ein Pferd gestürzt hätte.
Um zu überleben, musste die Kavallerie sich jetzt
gezwungenermaßen umwenden und verteidigen und den zentralen
Kriegerblock mit Breaca an der Spitze hinter sich zurücklassen.
Sobald er sah, dass sein Manöver glückte, ritt Valerius abermals
einen großen Bogen und stach erneut von hinten zu, tötete, wich
wieder zurück und sparte die Kraftreserven seines Pferdes damit für
jene brenzligen Augenblicke auf, wenn sie beide wirklich darauf
angewiesen wären.
Doch selbst mit den wenigen Kriegern, die ihm zur
Verfügung standen, schaffte Valerius es schließlich, Corvus’ Flügel
zu zerteilen und dessen Männer, die doch am besten in geschlossenen
Reihen fochten, in gefährliche Einzelkämpfe zu verwickeln. Zwar
funktionierte seine Taktik nicht reibungslos, aber immer noch
besser, als er gehofft hatte und - wenn man einmal das Desaster an
der Fallgrube bedachte - auch besser, als er es eigentlich verdient
hätte.
Unmittelbar an seiner Seite und fast schon wie eine
schimmernde Lichtgestalt unter der Mittagssonne kämpfte
Cygfa.
Sie hieb nach einem Legionar, schwang erbittert
ihr Schwert, zog dann ihren Hengst wieder ein Stückchen zurück und
rief: »Wir können es schaffen! Valerius, man wird deinen Namen
lobpreisen, wird ihn an den Winterfeuern singen. Und zwar noch über
Generationen hinweg. Was für einen sagenhaften Vater dieses Kind
doch haben wird!«
Valerius und Cygfa töteten wie im Rausch - und
blieben selbst vollkommen unversehrt.
Derweil achtete die Bodicea, in der Mitte ihres
Heeres thronend, darauf, ihre Krieger möglichst dicht beieinander
zu behalten. Und auch diese töteten mehr Legionare, als sie selbst
an Opfern einzubüßen hatten - und genau dies war ja jener Punkt, an
dem letztendlich der Ausgang einer jeden Schlacht sich
entschied.
Valerius beobachtete unterdessen, wie ein zunehmend
verzweifelterer Ausdruck sich auf die Gesichter seiner Feinde
stahl. Und zum ersten Mal glaubte auch er, dass das Kriegerheer
gewinnen könnte.
Dieser Gedanke beflügelte ihn schließlich geradezu,
während abermals das Signal der Trompeten ertönte, diesmal
allerdings mit einer neuen Klangfolge. Unten im Tal, wo der
Gouverneur seine Reservetruppen positioniert hatte, formierten sich
zweitausend gut ausgeruhte Infanteriesoldaten zu ihrer gewohnten
Aufstellung und marschierten los, bereit, das Heer der Bodicea
endgültig zu vernichten.
Die letzten beiden Kohorten der Vierzehnten Legion
wogten nicht mehr ganz so energisch über die Rippelmarke wie noch
jene ihrer Kameraden, die vor ihnen in den Kampf gestürmt
waren.
Dennoch nahmen sie die kleine Bodenerhebung in
zügigem und gleichmäßigem Tempo, verbissen in der vorgegebenen
Formation verharrend, die Schilde eng zusammengeschoben und die
scharfen Klingen spitz dazwischen hervorlugend. Sobald die Truppen
wieder ebenen Boden unter den Füßen hatten, rissen die linke und
die rechte Außenreihe ihre Schilde zur Seite und verkeilten diese
zu einem wahren Bollwerk aus Holz und Eisen, das nur von einer
wirklich harten und ausdauernden Kavallerieattacke noch zu
durchbrechen war.
Eine mögliche Flucht der Krieger vor den Legionaren
Roms stand schon seit geraumer Zeit nicht mehr zur Debatte. Längst
hatte auch der letzte Rest an Disziplin die Kämpfer der Bodicea
verlassen, und ein geordneter Rückzug war damit vollkommen
undenkbar. So weit Breacas Blick reichte, sah sie nichts anderes
als ein riesiges Schlachtfeld, auf dem allein Chaos und Blutdurst
noch zu regieren schienen. Und dieses riesige Feld befand sich
genau hinter ihr.
Wenn sie euch in geschlossenen Reihen
geradewegs von vorn angreifen und ihr nicht mehr zurückweichen
könnt, dann versucht, zur Seite hin auszubrechen. Ihr dürft ihnen
auf keinen Fall eine feste Front bieten, die sie attackieren
können.
Valerius hatte ihnen diese Regel am Vorabend gleich
zweimal eindringlich ans Herz gelegt, und dann am Morgen,
unmittelbar vor der Schlacht, noch einmal. In dem festen Wissen,
dass ein derart formierter Angriffstrupp also kommen könnte, hatte
er seine Krieger so auf dem Schlachtfeld positioniert, dass sie die
kaiserliche Kavallerie ein Stück weiter nach außen lockten und
Breaca somit Raum boten, um vor den Soldaten zurückweichen zu
können. Rasch sandte Breaca ihrem Bruder dafür, egal, ob dieser nun
noch unter den Lebenden weilte oder bereits in das Land Brigas
hinübergeschritten war, ihren Dank. Klar hatte sie ihren Fluchtweg
nun vor Augen.
»Nach außen!«, brüllte sie über den Tumult
hinweg.
»Flieht in Richtung Außenseiten! Die sollen sich
gefälligst aus ihrer Formation lösen müssen, wenn sie uns erwischen
wollen!«
Der tosende Lärm von Leben und Sterben erstickte
ihre Stimme. Gunovar jedoch hörte sie, ebenso wie die zwei Dutzend
Krieger ihrer persönlichen Ehrengarde. Hastig gaben sie den Befehl
weiter. Doch nur träge verbreitete sich die Nachricht durch die
kämpfende Masse und wurde stellenweise sogar überhaupt nicht mehr
weitergegeben, dort nämlich, wo das unmittelbare Überleben
wichtiger war als die Übermittlung eines Befehls. Zumal, wenn
dieser Befehl ein Vorgehen betraf, das im Augenblick ohnehin noch
in scheinbar unüberschaubarer Ferne lag.
Bloß noch fünf Speerlängen trennten Breaca von der
wahren Mauer aus Legionaren. Und nur wenige dieser Kämpfer trugen
Langspeere bei sich. Die meisten von ihnen waren mit jenen
zweischneidigen römischen Kurzschwertern bewaffnet, mit denen man
seinen Gegner ganz vortrefflich einfach abstechen konnte. Wie
blitzscharfe Messer ragten diese zwischen den sich überlappenden
Schilden hervor. Breaca sah sich um, konnte jedoch noch keinen der
Feinde in ihrer unmittelbaren Nähe entdecken. Dann wagte sie es,
riss den Hengst auf die Hinterhand empor, hieb das Schwert in die
Luft und brüllte aus Leibeskräften: »Auswärts fliehen! Flieht in
Richtung Außenseiten!«
Endlich hörten sie sie, jene paar hundert Krieger
in ihrem engeren Umkreis, und wer ihre Worte trotz allem nicht
verstand, der sah zumindest das Aufblitzen des von der Sonne
liebkosten Eisens, wusste, dass diese Silhouette unter dem Schwert
nur die Bodicea sein konnte, erkannte den Hengst, der bereits die
würdige Nachfolge des sagenhaften Hail angetreten hatte, und
kämpfte fortan wieder mit neuem Elan, ganz so, als ob in jedem der
Krieger nicht nur eines, sondern mindestens einhundert Herzen
schlügen. Und langsam, wie ein unsauber gespaltenes Holzscheit,
stemmte das Kriegerheer sich schließlich auseinander, bereit, die
heranrauschenden Feinde regelrecht in sich aufzusaugen.
Doch auch der Feind hatte Breacas Befehl gehört
oder hatte sie zumindest an ihrem Haar, dem Halsreif und ihrem
Umhang erkannt. Und ganz offensichtlich, so viel immerhin war auch
den Legionaren klar geworden, hatte die Anführerin der Wilden da
gerade eine wichtige Botschaft vermittelt, indem sie sich noch
einmal gezeigt hatte und sicherstellte, dass ihre Krieger sahen,
dass sie noch am Leben war.
Irgendwo ganz in ihrer Nähe brüllte jemand ihren
Namen - in lateinischer Mundart. Es folgte ein bebender
Fanfarenstoß, in dessen Klang wiederum ebenfalls ein feiner
Nachhall ihres Namens zu stecken schien. Dieser war so etwas wie
der Befehl des Jägers an seine Hunde, das Signal, von der alten
Fährte abzulassen und sich einer größeren und lohnenderen Beute
zuzuwenden. Beide Kohorten der Vierzehnten Legion schwenkten
geschlossen in Breacas Richtung herum.
»Flieh!« Dieser Schrei stammte von Hawk, der
unterdessen an ihre Seite geeilt war. Sein Hengst und der ihre
hatten sich eng aneinandergepresst, Schulter an Schulter und Flanke
an Flanke. »Verschwinde von hier! Wenn sie uns hier erwischen,
hinter uns das Schlachtgemetzel, dann zerquetschen sie uns wie
unter einem Hammer.«
Rasch hastete Gunovar an Breacas andere Seite. Wie
ein Schild aus Fleisch und Blut schloss die Ehrengarde sich um sie.
Und gemeinsam schoben sie sich langsam durch das Mahlwerk der
Schlacht, kämpften verbissen darum, endlich am Rande des Feldes
wieder auf freies Gelände zu treffen.
Sie hatten den Rand des Schlachtfeldes fast schon
erreicht, als der Langspeer Breaca traf. Eisen durchbohrte ihren
linken Arm unmittelbar unter der Schulter und ein gutes Stück
oberhalb des Schildrandes. Entsetzt klammerte sie sich mit der
freien Hand in der Mähne ihres Pferdes fest, hielt den Atem an,
versuchte, sich allein mit der Kraft ihrer Gedanken gegen die
Dunkelheit zu wehren, die sich bereits um sie zu schließen begann.
Dann kam der schier unendlich lange, eisige Augenblick des Wartens
- des Wartens auf den Schmerz.
Aus den Reihen der hinter ihr kämpfenden Legionare
schallte lautes Jubelgeschrei zum Himmel hinauf. Breaca war
verwirrt, nahm alles nur noch wie durch einen Schleier wahr und
erinnerte sich plötzlich wieder an Valerius und daran, wie dieser
neben ihr an der Feuerstelle gesessen hatte, ehe er ihr seinen
selbstgefertigten Speer überreicht und in seinem typischen,
trockenen Humor erklärt hatte: Spätestens dann, wenn die
Legionare dir die erste Wunde geschlagen haben, wird die Kampfeswut
der Krieger vollends entfesselt sein. Dann gibt es nichts mehr, was
sie noch aufhalten kann. Trotzdem, denke ich, wäre es besser, wenn
du nicht verletzt würdest.
Breaca spürte, wie Valerius’ Geist sie zart zu
streifen schien, fühlte auch Airmids gedankliche Gegenwart, und
dann nahm sie nur noch ein Gefühl der Kühle wahr und von sanft
rinnendem Wasser. Alles, was jetzt noch zählte, war, sich unbedingt
auch weiterhin auf ihrem Pferd halten zu können und sich irgendwie
hinauszukämpfen aus diesem mit Blut vermengten Schlamm und den
Bergen von Toten, die die Schlacht bereits von beiden Seiten
gefordert hatte, fort von den Unmengen von Leichen und
weggeschleuderten Rüstungen und Waffen, die jeden Schritt zu einem
Wagnis machten.
Von irgendwo erklang der Schrei einer Krähe. Dumpf
vibrierte der kehlige Ruf durch Breacas Brustkorb. Geistesabwesend
warf sie ihren Schild von sich und trieb den Hengst mit den weißen
Fesseln hinaus aufs freie Gelände.
Breacas Tochter hatte dabeigesessen, als die
Krieger sich darüber berieten, wo die Bodicea sich am besten auf
dem Schlachtfeld positionieren solle, wenn sie ein möglichst leicht
zu erkennendes Ziel abgeben wollte. Und natürlich hatte Graine es
gehasst, dieser Diskussion zu lauschen - dennoch war ihr kein
vernünftiges Argument eingefallen, mit dem sie sich gegen diesen
Plan hätte wenden können. Denn wo Krieg herrschte, dort starben
auch Menschen, das war nun einmal so. Und wenn Briga die Seele
eines Menschen zu sich holen wollte, konnte keine noch so große
Vorsicht die Göttin von ihrer Beute abhalten. Beschloss Briga
hingegen, das Leben eines Menschen zu verschonen, so war dieser
Mensch geradezu unsterblich, egal, welches Risiko er auch eingehen
mochte.
Also war es auch allein Brigas Wille gewesen, der
eine feste Mauer aus berittenen Kriegern in genau jenem Moment über
das Schlachtfeld gezogen hatte, als der römische Gouverneur mit dem
weiß befederten Helm Graines Mutter entdeckte und seinen
Speerkämpfern als Ziel befahl.
Die Kämpfe hatten in diesem Augenblick bereits eine
so mörderische, glühende und eisenharte Inbrunst angenommen, wie
Graine sie noch niemals zuvor bei einer Schlacht hatte beobachten
können. Der Befehl des Gouverneurs ließ den Kampfeseifer dann noch
einmal doppelt so hell aufflammen - und zwar auf beiden Seiten.
Klingen blitzten gleißend hell im Sonnenlicht, und die Schreie der
Verwundeten waren so zahlreich, dass sie sogar das Kampfgeheul der
langsam ermüdenden Krieger übertönten. Es verstrichen quälend lange
Augenblicke, in denen es unmöglich war zu sagen, wer noch am Leben
war und wer bereits zu den Opfern zählte.
Graine wandte den Blick ab, starrte hinüber zur
anderen Seite des Feldes, wo Ardacos gerade eine kleine Gruppe von
Bärinnenkriegern instruierte und diese dann ganz ähnlich einem
Wurfspeer geradewegs mitten in das Chaos hinein entsandte. Ein
knappes Stück hinter dem alten Bärinnenkrieger entdeckte Graine
Cunomar, der selbst auf diesem chaotischen Schlachtfeld noch klar
zu erkennen war an seinem stolzen, kalkweiß über dem Kopf
aufragenden Schopf und dem Königsband, das er an seinem Oberarm
trug. Er und seine Gruppe von Bärinnenkriegern waren in einen Kampf
mit der rechten Außenflanke des Feindes verwickelt, und sie hatten
bereits tapfer einem Angriff aus den Reihen der Kavallerie
standgehalten, indem sie, als diese sie fast erreicht hatten,
einfach geschickt zur Seite ausgewichen waren und sich dann
wiederum blitzschnell umdrehten, um den vorbeigaloppierenden
Pferden die Kniesehnen zu durchschneiden. Dieses Vorgehen hatten
sie während der Invasionskriege von den Batavern erlernt, sodass
sie diese nun mit deren eigenen Waffen schlugen.
Die Frontlinie der Gruppe von Bärinnenkriegern
hatte sich derweil bereits verzerrt, und sie kämpften mit den
Rücken in Richtung Rippelmarke gewandt. Graine beobachtete, wie ihr
Bruder auf die Anhöhe hinaufstürmte, um somit bei seinem Sprint den
Hügel hinab zusätzlichen Schwung zu gewinnen. Dieser sollte ihm
helfen, noch kraftvoller auf den Rücken eines vorbeigaloppierenden
Pferdes zu springen. Und in der Tat, der Sprung glückte perfekt,
und Cunomar riss den feindlichen Kämpfer einfach mit sich zu Boden.
Seine Energie schien unerschöpflich zu sein, und selbst sein
dritter Sprint den Hügel hinab war noch genauso schnell wie die
beiden ersten Läufe, nur dass er beim dritten Mal zunächst einen
Augenblick auf dem kleinen Wall innehielt und den Blick über das
Land schweifen ließ, dorthin, wo die Vierzehnte Legion sich in
immer dichter werdenden Kreisen um die Bodicea schloss.
Aber - vielleicht - hatte diese sich ja auch schon
wieder aus den Klauen der Feinde befreien können.
»Hawk jedenfalls ist noch am Leben«, bemerkte
Airmid, sodass Graine sich schließlich wieder umwandte, um nach
ihrem neu hinzugewonnenen Bruder zu schauen, und dann in genau
jenem Moment den Hengst ihrer Mutter entdeckte, als dieser endlich
aus dem Chaos der Schlacht ausbrach und das freie Feld jenseits des
Kampfgetümmels erreichte.
»Und die Wunde an ihrem Arm«, urteilte Theophilus,
Arzt von Athen und Kos, »wird sie sicherlich nicht umbringen.« Es
war von größter Bedeutung für Graines inneres Gleichgewicht, seinen
Worten nun vorbehaltlos Glauben zu schenken.
Jene jedoch, die Seite an Seite mit der Bodicea die
Schlacht durchfochten, schienen da ganz anderer Ansicht zu sein.
Gunovar war dicht neben sie geritten, ebenso wie Hawk, und beide
versuchten offenbar gerade eindringlich, Breaca davon zu
überzeugen, dass sie endlich den nachtblauen Umhang ablegen und
einen Helm auf den Kopf setzen solle, um sich damit nicht mehr ganz
so offensichtlich zu einer Art Zielscheibe zu stilisieren.
Einen Augenblick lang schien es, als ob Breaca dem
Drängen ihrer Vertrauten nachgeben wollte - doch ihr Entschluss kam
zu spät. Ein sauber formiertes Rechteck aus Legionaren hatte sich
aus dem Chaos der Schlacht gelöst und stürmte nun geradewegs auf
die Bodicea zu. Unmittelbar hinter ihnen fochten derweil Valerius
und dessen Ehrengarde gegen Corvus’ Kavallerie. Selbst wenn Gunovar
und Hawk es also tatsächlich noch geschafft hätten, Breaca optisch
in eine ganz normale Kriegerin zu verwandeln, so hätte das diese
jetzt auch nicht mehr retten können, denn es gab ganz einfach
keinerlei Fluchtwege mehr, um den Legionaren noch irgendwie zu
entkommen.
Also formierten Breaca und ihre Mitstreiter sich zu
einer festen Front. Eine andere Option blieb ihnen nicht
mehr.
Graine sah, wie Hawk sich hinabbeugte, um einem
bereits gefallenen Krieger dessen Schild zu entreißen und diesen
mit einer Art Salut zu Breaca hinüberzuwerfen. Gunovar fand
unterdessen einen noch intakten Speer. Hastig trieben sie dann ihre
Pferde unmittelbar vor die Bodicea, während der Rest ihrer
Ehrengarde sich in bemerkenswerter Ordnung seitlich von ihr
formierte, und dies alles gerade noch rechtzeitig, um sich den
ersten der auf sie zustürmenden Männer entgegenzustemmen.
Mittlerweile war es Graine unmöglich, den Blick
noch abzuwenden.
Schließlich war auch Corvus nahe genug, dass er in
dem Getümmel zu erkennen war.
Valerius’ ganze Konzentration richtete sich allein
auf die Schlacht. Dennoch brannte Corvus’ Gegenwart sich wie eine
helle Flamme geradezu in sein Bewusstsein hinein, bis die
blitzenden Klingen und die schweißnassen, gegeneinanderprallenden
Massen der Pferde zu einer Art grauem Schleier verblassten. Allein
sein Instinkt bestimmte nun noch Valerius’ Kämpfen; nur die
Intuition und nicht mehr die Ratio hielt ihn noch am Leben. Und
allein dieser Instinkt war es auch, der ihn immer weiter nach vorn
zog, bis Valerius schließlich jenen Mann auf der rotbraunen Stute
erreichte, der fast schon von einem göttlichen Glanz, von
gottgegebener Unverwundbarkeit umschlossen schien, während er sich
mitten im Kriegsgemetzel wie selbstverständlich einfach über das
Schlachtfeld focht.
Unmittelbar neben Valerius starb ein Kavallerist -
und in genau diesem Augenblick wurde ihm klar, dass auch er unter
einer Art göttlichem Segen lebte, dass die Feinde um ihn herum
starben, weil auch er seine Zeit nicht mit Denken verschwendete,
sondern einfach nur seinem Instinkt zu folgen brauchte.
Fast hatte er den schwarzen Hengst mit den weißen
Fesseln erreicht, als mitten im Schlachtgetümmel ein Seufzen durch
die Menge zu gehen schien. Durch bloßen Zufall wich die Masse der
Kämpfenden vor ihm einen Spalt breit auseinander, und wiederum bloß
durch Zufall schaute Valerius in genau diesem Augenblick durch den
sich eröffnenden Tunnel.
»Breaca ist gefallen!«, schrie irgendjemand
quer über das Schlachtfeld. Erst später begriff Valerius, dass
genau er dieser Jemand gewesen war.
Corvus wandte sich schneller um als irgendjemand
sonst. Kurz darauf aber wirbelte auch sein Standartenträger herum
und daraufhin wiederum ein Trompeter, der einen einzelnen Ton aus
seinem Instrument erschallen ließ, ganz ähnlich jenem Zeichen, wenn
bei einer Jagd eine neue Beute ausgemacht worden war. Corvus’
rotbraune Stute sprang mit einem solch enormen Satz vorwärts, wie
ihn sonst nur das Rotwild zu vollbringen vermochte. Damit war
Corvus der Bodicea nun ein ganzes Stück näher als Valerius.
Und dennoch hatten die Eceni die besseren Pferde,
davon war Valerius überzeugt. Er trieb das Krähenpferd also an, bis
es in gestrecktem Galopp über das Feld preschte. Es war Valerius in
diesem Moment vollkommen gleichgültig, ob seine Krieger es
schafften, sich ihm anzuschließen, oder ob sich ihm irgendjemand in
den Weg zu stellen versuchte.
Der neue Schild war zu schwer, weshalb Breaca ihn
ein wenig zu tief hängen ließ. Dadurch wiederum hatte sie den gegen
sich gerichteten Schwerthieb nicht mehr richtig abwehren können,
und die Klinge traf sie einmal quer über den gesamten Rücken.
Allein das Kettenhemd, das sie trug, hatte den sofortigen Tod noch
von ihr abgewendet.
Natürlich hatte ihr Hengst, als die Klinge auf sie
zusauste, noch versucht, zur Seite auszuweichen, doch der von Toten
übersäte Boden hatte die Wendung ein wenig holprig ausfallen
lassen, sodass die ruckartige Bewegung des Pferdes Breaca das
Gleichgewicht raubte und der Schlag mit der Waffe sie schließlich
vollends aus dem Sattel stieß.
Doch Breaca fiel nicht einfach, sondern rollte
immerhin noch ab, schaffte es sogar, nicht gegen eine einzige der
im Schlamm liegenden Waffen zu stoßen, was an sich bereits nahezu
an ein Wunder grenzte.
Sofort versuchte sie, sich wieder vom Boden
hochzustemmen. Schon war auch Hawk von seinem Pferd gesprungen, war
neben sie geeilt und half ihr, wieder aufzustehen. Sogar Gunovar
war abgestiegen und drängte sich von der anderen Seite dicht neben
Breaca, sodass sie nun zu Fuß kämpften, mit den Pferden hinter
sich. Verzweifelt versuchte Breacas Ehrengarde, die Legionare auf
Abstand zu halten.
Und schaffte es doch nicht. Schließlich zogen die
noch berittenen Krieger sich an die Flanken der kleinen
Dreiergruppe zurück, damit diese wenigstens ungehindert mit ihren
Schwertern ausholen konnten und nicht auch noch einen Angriff von
der Seite fürchten mussten.
Auf eine gewisse, fast schon seltsame Weise fühlte
sich diese Art des Kämpfens für Breaca besser an, als hoch zu Pferd
durch die Schlacht zu reiten und allein mit Hilfe ihrer Strategie
und ihren Befehlen gegen die Legionen anzukämpfen. Sie schmeckte
ihren eigenen Schweiß und das Blut bereits niedergestreckter Männer
und genoss beides. Dann hob sie abermals den viel zu schweren
Schild, um einen Schwerthieb gegen ihren Kopf abzuwehren, in dem
vollen Bewusstsein, dass sie die Male, die sie den Schild noch auf
diese Höhe würde emporreißen können, bereits an ihrer einen, noch
unversehrten Hand abzählen konnte.
Sie wollte Hawk und Gunovar sagen, dass diese sie
verlassen sollten, und wusste doch, dass sie dazu nicht mehr
genügend Atem besaß. Und selbst wenn sie noch die Kraft dazu
besessen hätte, wären ihre Worte doch verschwendet gewesen. Mehr
schlecht als recht wehrte sie einen erneuten Hieb gegen sich ab.
Die Klinge des Schwertes sauste unmittelbar an ihrem Gesicht
vorbei. Hawk stach nach dem Mann, der diesen Angriff auf die
Bodicea versucht hatte, und traf ihn doch nicht. Sie alle
ermüdeten.
»Wir sollten...«, keuchte Breaca, »uns Rücken an...
Rücken aufstellen.« Diese Taktik hatte sie einst, vor langer Zeit,
auf Mona gelernt. Es war die Taktik, die die Krieger anwendeten,
wenn sie wussten, dass nun selbst die letzten Chancen auf ein
Überleben dahin waren.
Hawk nickte, befeuchtete sich die Lippen und
wartete, bis der Schlag mit dem nächsten Schild, der gegen ihn
gerammt wurde, ihn quasi von ganz allein in die richtige Richtung
schob. Gunovar trat einen Schritt zurück und drängte sich in die
Lücke zwischen Breaca und Hawk. Breaca rutschte auf
hervorquellenden Eingeweiden aus, fing sich aber wieder.
Glücklicherweise stand Hawk noch immer aufrecht und drückte seine
Schultern gegen die ihren, fest, sicher und verlässlich. Niemals
hätte Breaca gedacht, dass von all ihren Kindern ausgerechnet ihr
erst jüngst Hinzugewonnenes bei ihr sein würde, wenn der Augenblick
ihres Todes nahte. Immerhin aber ließ dieser Gedanke die Hoffnung
zu, dass dafür ihre anderen Kinder die Schlacht überleben
könnten.
Nach und nach wichen die immer schwächer werdenden
Reihen ihrer Ehrengarde auseinander. Zwei Legionare stürzten
zeitgleich auf Breaca zu.
Breaca holte mit ihrem Schwert nach den Angreifern
aus und hatte Glück: Ihre Klinge prallte vom Helm des einen
Soldaten ab und grub sich in die Wange des anderen, direkt neben
ihm kämpfenden Legionars, der daraufhin schreiend zurücktaumelte
und sich das Gesicht hielt.
Blut spritzte ihr in die Augen, ließ sie für einen
kurzen
Moment regelrecht erblinden. Sie blinzelte hastig.
Dann, als sie wieder sehen konnte, erkannte sie, dass beide
Legionare vor ihr tot waren und an ihrer Stelle plötzlich Valerius
auf seinem Pferd thronte. Schützend hatte er den mächtigen Körper
des Krähenpferdes vor seine Schwester gedrängt und hieb derweil wie
von Sinnen zu beiden Seiten des Tieres wild um sich. Ihm folgten
genau ein Dutzend Krieger - Krieger von Mona -, wobei sie hinter
sich eine Schneise des Todes über das Schlachtfeld zogen.
Plötzlich herrschte dort, wo gerade eben noch die
Hölle getobt hatte, wieder ein eigentümlicher Frieden.
Breaca spürte, wie Hawk gegen sie sank. Mit aller
Kraft bemühte sie sich, aufrecht stehen zu bleiben. Nun einfach
zusammenzubrechen, wäre zu beschämend, und zwar für sie
beide.
Hastig stieß ihr Bruder seine Befehle aus,
blitzartig wie die Funken, die aus einem Feuer entsprangen, wenn
das Brennholz noch zu frisch und zu grün war. Huw und drei weitere
Steinschleuderschützen bauten sich vor Breaca auf, hinter ihr
schlossen sich die Krieger von Mona zusammen. Longinus und Cygfa
eilten an die Seiten der kleinen Truppe, um die drei vor Breaca
aufgereihten Krieger zu verteidigen. Hastig wirbelte Valerius zu
Breaca herum, doch sie konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht beim
besten Willen nicht entziffern. »Breaca, kannst du reiten?«
Der schwarze Hengst mit den weißen Fesseln stand zu
weit entfernt, als dass sie ihn noch hätte erreichen können. Es
fiel ihr schwer, in dieser Situation einen klaren Gedanken zu
fassen. »Aber dein Pferd kann uns nicht beide tragen«, entgegnete
Breaca.
Ausdruckslos starrte Valerius sie an. »Ich weiß«,
antwortete er schließlich. »Ich wollte ja auch nur wissen, ob du
überhaupt noch...«
»Bán!«
Sie schrie den falschen Namen. Jener winzige
Moment, den Valerius brauchte, um zu begreifen, dass er gemeint
war, kostete ihn fast sein Leben. Ein gewisser Legionar dagegen
begriff und reagierte da schon wesentlich schneller, und eine
rotbraune Stute, die Breaca damals, als diese noch ein Fohlen
gewesen war, liebevoll aufgezogen hatte, wirbelte blitzschnell und
in einer perfekten Kehrtwende auf der Hinterhand herum. Dann sauste
eine Klinge auf Valerius’ Kopf hinab, geführt von einem Mann, der
einst ein Freund gewesen war.
Auch diesen Namen brüllte Breaca nun aus voller
Kehle, erwartete jedoch auch von ihm keine Antwort mehr. Denn mit
Corvus kam der Tod, und dieses Mal würden sie ihn nicht mehr von
sich abwehren können.
In der Tat: Mit Corvus kam der Tod. Doch Valerius
ließ seinen Gegner spüren, dass auch er noch zu töten
verstand.
Dicht hielten die Kämpfer sich um diese beiden
gedrängt. Niemand wich zurück, um Valerius und Corvus ihren Kampf
allein austragen zu lassen. Stattdessen strömten immer mehr und
mehr Legionare und Krieger heran, um sich dem stetig haltloseren
Schlachten anzuschließen. Aus den Augenwinkeln sah Valerius, wie
Huw einen Stein in seine Schleuder legte, und befahl mit gellendem
Schrei: »Nicht!« Obgleich er im Nachhinein selbst nicht mehr
wusste, warum er dies eigentlich gesagt hatte.
Grell blitzte eine eiserne Klinge unter der viel zu
heißen Sonne. Dann schlug Corvus’ Schwert auch schon mit wahrhaft
mörderischer Wucht nach Valerius’ Kopf. Doch das Krähenpferd wich
Corvus’ Schlag mit einer geschickten Drehung seines Körpers aus,
bäumte sich auf der Hinterhand auf und schlug dann - weil genau
dies Valerius’ Gedanke gewesen war oder vielleicht auch bloß, weil
genau dies der Gedanke des Tieres gewesen war und Valerius diesem
nur gefolgt war - mit den Vorderhufen nach ihrer beider Angreifer.
Valerius und der Hengst schienen nicht mehr wie Pferd und Reiter,
sondern nur noch wie ein einziges Wesen. Jedes Mal, wenn sie in
einer Schlacht zusammen kämpften, schien sich diese seltsame
Metamorphose mit ihnen zu vollziehen.
Doch Corvus’ Pferd war fast ebenso gut. Die
rotbraune Stute mit dem Brandzeichen der Eceni auf ihrem
Schulterblatt wich hastig zur Seite aus, vermied dabei die am Boden
liegenden Toten und vollführte schließlich ebenfalls eine Drehung,
um damit ihren Reiter nach vorn zu heben. Corvus riss unterdessen
seinen Schild empor, schützte damit sowohl sich selbst als auch
seine Stute und stach dann mit einer geschickten Handbewegung von
unten nach Valerius’ Herz.
Sein Kopf war ein ganzes Stück höher als Valerius’,
umschlossen von einem Helm, der an den Seiten bereits zahlreiche
Beulen und Dellen abbekommen hatte, und unter dem Helm lugten kurze
schwarze Haarsträhnen hervor. Der Schweiß lief ihm in Bächen das
Gesicht hinab, und in seinen großen dunklen Augen lag jener klare,
absolut konzentrierte Ausdruck, wie er schon den ganzen Tag über in
seinem Blick gelegen hatte und auch noch genau so lange darin
verweilen würde, wie es eben nötig war.
Vielleicht hätten sie nun einfach miteinander
sprechen sollen - inmitten der rauen Schluchzer der Schlacht.
Andererseits aber gab es nun nichts mehr, was noch hätte gesagt
werden müssen.
Sollte ich als Erster sterben, so werde ich
auf dich warten.
Keiner von beiden hatte gesagt: Falls du mich
tötest, werde ich trotzdem auf dich warten. Und dennoch hatte
ein jeder von ihnen auch diesen Gedanken gedacht. Zäh schien der
unausgesprochene Schwur zwischen ihnen in der Luft zu
schweben.
Schon aber hatte Valerius den Hieb pariert, wandte
seinem Gegner bewusst seine ungeschützte Schulter zu, um ihm ein
Angriffsziel zu bieten, und ließ das Krähenpferd dann, als die
Aufforderung nicht angenommen wurde und Corvus stattdessen mit dem
Rand seines Schildes erst nach Valerius’ Gesicht und schließlich
nach dessen Arm hieb, rasch wieder rückwärts tänzeln. Hastig
parierte er den Angriff erneut, stieß mit seinem Schwert nach
Corvus, traf ein ungeschütztes Stückchen braune Haut und sah, wie
plötzlich Blut an die Oberfläche drang.
Vor lauter Überraschung über diesen Treffer fiel
seine nächste Reaktion aber ein wenig zu langsam aus, erst zu spät
riss er wieder seinen Schild empor, sodass er im Gegenzug eine
Wunde am Oberschenkel zugefügt bekam und das Krähenpferd einen
langen Schnitt quer entlang seiner Halslinie davontrug. Laut schrie
es seinen Zorn hinaus, trat mit hohen Schritten über einen
verwundeten Silurer hinweg, erhob sich auf die Hinterhand und hieb
wie blind mit den Vorderhufen um sich. Kurz darauf aber und nur
allzu bald kam es wieder auf dem Boden auf. Dieses Tier besaß so
viel Mut und so viel Hass, und dennoch ließen seine Kräfte
nach.
Niemals hätte Valerius gedacht, dass einmal der Tag
käme, an dem er das Krähenpferd ritt und schockiert feststellen
musste, dass es ermüdete. Die Pforten zu seinem Bewusstsein brachen
auf, und entsetzt stellte Valerius fest, dass sein Geist vollkommen
leer war. Es gab keine Götter mehr, keine Liebe, keine
Vergangenheit und auch keine Gegenwart. Kein ungeborenes Kind,
keine gerade erst wieder genesene Schwester. Keine Strategie, keine
Taktik, kein Wissen mehr um das Überleben in einer Schlacht. Nichts
lebte mehr in seinem Bewusstsein, nur noch dieser eine Gedanke,
dass er auf keinen Fall dieses Pferd verlieren dürfe, weil er ohne
den Hengst namens Krähe einfach nicht mehr leben wollte.
Verzweiflung zerrte an ihm, schwer wie der Tod. Ein
roter Zornesnebel wogte immer dichter auf ihn zu, und Valerius
begriff, dass auch er erschöpft war, dass er die Grenzen seiner
körperlichen Leistungsfähigkeit im Grunde schon längst
überschritten hatte und dass er nun - denn genau dies hatte er
schon bei zahlreichen anderen beobachten können - die Kraft hatte,
um noch umso mehr Männer niederzumetzeln, als Dummheit oder
Arroganz oder ganz einfach Kriegerglück ihm jemals in seinem Leben
gestattet hätten.
Abermals wirbelten Valerius und sein Pferd herum
und wichen dabei geschickt einem weiteren Schlag aus, der mangels
jeglichen Bewegungsspielraums ohnehin viel zu schwach ausgefallen
war.
Sollte ich als Erster sterben...
Wir könnten ja auch zusammen sterben. Das wäre
doch passend. Es wäre sogar genau das Richtige. Wie ein feiner
Funken erhellten dieser Gedanke und das Wissen um die Art und
Weise, wie man diesen Gedanken in die Tat umsetzen könnte, den
Nebel in Valerius’ Kopf.
Auf der Suche nach freiem Gelände drängte er das
Krähenpferd stetig weiter rückwärts. Corvus folgte ihm, ganz so,
als ob eine Art Nabelschnur ihn mit seinem Widersacher verbände;
eine Nabelschnur, die doch keiner von beiden zu durchtrennen
wagte.
Der Rest der Schlacht schien zu einem Nichts zu
verblassen. Nach Huw hatte niemand aus dem Kriegerheer mehr
versucht, sich in den Zweikampf zwischen Valerius und Corvus
einzumischen - allein die Legionare und die Kavallerie blieben
natürlich auch weiterhin den Attacken der Krieger ausgesetzt.
Ansonsten aber bemühten Valerius’ Gefolgsleute sich darum, ihrem
Anführer möglichst nicht im Wege zu stehen und ihm Platz zu machen,
sodass er tun konnte, was er ganz offensichtlich einfach tun
musste. Linkerhand von Valerius stand Breaca, die noch immer kein
Pferd gefunden hatte. Rasch wollte er Cygfa einen knappen Befehl
zurufen, hatte aber weder die Zeit noch den Atem dazu.
Immer wieder täuschte er einen Angriff an, ließ
seinen Schild dabei aber stetig tiefer sinken, denn seine Kraft
ging zur Neige. Corvus, der Valerius besser kannte als irgendjemand
sonst, beobachtete dies alles genau und schlug immer härter und
härter auf seinen Feind ein. Verzweifelt hieb Valerius um sich,
wurde gegen eine Mauer von Legionaren gedrängt, und abermals traf
ihn ein rückhändig ausgeführter Schlag, und zwar diesmal
unmittelbar am Hals, dort, wo die Rüstung endete. Er warf den Kopf
in den Nacken, stieß einen lästerlichen Fluch aus und trieb das
Krähenpferd hastig zur Seite, das heißt, zumindest so rasch, wie
das verletzte Tier diesen Befehl noch irgend auszuführen vermochte.
Dann wartete er auf den nächsten Schlag, der ihn nach den Regeln
der Kampfkunst nun theoretisch aus seitlicher Richtung von oben
erwischen sollte. Kaum, dass er den Gedanken zu Ende gedacht hatte,
wurde er auch schon getroffen, sodass er...
»Valerius! Weg da!«, ertönte plötzlich Longinus’
Stimme. Seine Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Zudem rief er
den richtigen Namen. Und kam dennoch zu spät.
Das Krähenpferd hatte bereits zur Kehrtwende
angesetzt - und rettete Valerius damit das Leben. Hell sang Corvus’
Klinge Valerius’ Namen, riss ihm mit einem einzigen Schlag die
metallene Rüstung samt dem ledernen Wams vom Rücken. Valerius hatte
keine Chance gehabt, den Schwerthieb abzuwehren, und das
Krähenpferd, das den Angriff vielleicht noch entsprechend hätte
parieren können, war zu erschöpft, konnte bloß noch fliehen, aber
nicht mehr reagieren. Valerius blieb also nichts anderes, als das
Pferd mit den Knien immer weiter zur Seite zu drängen, und langsam,
doch gehorsam folgte das Tier seinem Befehl. Und schon holte Corvus
zu seinem nächsten Schlag aus - doch dieser Hieb zielte nicht mehr
auf Valerius, sondern auf das Krähenpferd. Mit einem weit
ausholenden, bogenförmigen Schlag von unten durchtrennte er den
Hals des Tieres, in einer ganz ähnlichen Geste also, wie auch der
Gott beim Opferfest den Bullen an sich nahm. Corvus’ Klinge
durchschnitt die Adern, die Luftröhre, drang mit einem einzigen
Schlag bis zur Halswirbelsäule vor. Das Tier fiel wie von einem
Schlachterbeil getroffen, und allein die Tatsache, dass es bereits
im Kehrtmachen begriffen gewesen war, verlieh Valerius noch den
nötigen Schwung, um sich mit einem erschöpften Sprung aus dem
Sattel zu retten.
»NEIN!«, schrie Valerius anstelle des
Pferdes, denn die Stimme des Tieres war erloschen. Es lag auf dem
Boden, die Beine zuckte im vergeblichen Galopp, und ungehindert
rann sein Blut in den Schlamm, wurde von seinen letzten Atemzügen
mit Blasen durchsetzt.
In den Augen des Tieres aber glänzte noch das
Leben. Bäuchlings warf Valerius sich vor ihm auf den Boden und
weinte.
Man ließ ihm Zeit zur Trauer. Sowohl die Männer als
auch die Frauen, die um ihn herum um ihr Leben kämpften oder
starben, wichen von ihm, denn die Trauer um ein treues Pferd war
wichtiger als dieser Kampf, war wichtiger als jegliche Schlacht.
Vielleicht aber wollten sie ihn auch einfach allein lassen mit
Corvus, der sein eigenes Pferd mittlerweile gezügelt hatte, sodass
es reglos auf der Stelle stand. Mit bleichem Gesicht blickte Corvus
auf seinen einstigen Kameraden.
Es gab keine Worte, die dieser Situation nun
angemessen gewesen wären. Dennoch versuchte Corvus es und erklärte:
»Es tut mir leid. Dein Pferd wird auf dich warten, so, wie auch ich
auf dich gewartet hätte. Es ist besser so. Dein Heer verliert. Die
Reservetruppen der Vierzehnten Legion haben deine Krieger bereits
besiegt. Und wenn jetzt auch noch die Zwanzigste Legion
ausgeschickt wird, dann ist die Schlacht endgültig vorüber.«
Schier unendliche Male hatten sie geübt, wie man
vom Rücken eines Pferdes aus einem feindlichen Infanteristen mit
einem einzigen Schwerthieb das Leben nahm. Langsam erhob Valerius
sich vom Boden. Immerhin wollte er nicht im Liegen sterben. Die
Götter verlangsamten das Tempo seines Daseins, auf dass sein Leben
ihm noch ein klein wenig länger erschien. Die Zeit schien ihre
Macht zu verlieren, schien sich zur Unendlichkeit auszudehnen,
während Valerius den Ansatz zu jenem letzten Schlag beobachtete,
der ihn endgültig in das Leben hinter dem Tode entlassen sollte.
Aufmerksam folgte er mit dem Blick dem Schwung des Schwertes, sah,
wie es zurückgerissen wurde, einen Bogen vollführte und dann
niederfuhr, geradewegs auf seinen Kopf zu …
... nur dass Valerius plötzlich nicht mehr dort
war, wo er gerade eben noch gestanden hatte. Einst, während eines
langen Winters an den Ufern des Rheins, hatten Corvus und er,
Valerius, ihren ganzen Ehrgeiz darangesetzt, eine adäquate Reaktion
auf einen derartigen Angriff zu finden. Doch die einzige Gegenwehr,
die sie entwickeln konnten, funktionierte auch bloß ein einziges
Mal von eintausend.
Allerdings war dies nun nicht mehr ein Kampf, der
allein zwischen Valerius und Corvus stattfand, sondern auch die
Götter waren zugegen, hatten das Tempo von Valerius’ Welt bereits
gedrosselt, auf dass er noch etwas länger lebte - und mit
Windeseile hatte Valerius genau diesen Augenblick genutzt und war
mit einem geschmeidigen Satz nach Art der Krieger, die sich
praktisch aus dem Stand auf ein vorbeigaloppierendes Pferd zu
schwingen vermochten, geradewegs auf den Rücken von Corvus’ Stute
gesprungen. Geschickt war er somit unter der auf ihn herabsausenden
Klinge hindurchgetaucht und kämpfte nun darum, Halt zu finden auf
dem Rücken des armen Pferdes, das unter der zusätzlichen Last
merkbar zusammengesunken war. Verzweifelt kämpfte Valerius darum,
den von Kopf bis Fuß mit einer Rüstung bewehrten Mann vor ihm zu
packen, einen Mann, der bereits halb gewusst hatte, dass Valerius
mit diesem Sprung auf ihn ansetzen würde, und der seinen
Widersacher nun dennoch nicht mehr abzuschütteln vermochte.
Das Pferd vollführte zwei zittrige Schritte nach
vorn, Valerius schien fast schon wieder von seinem Rücken
hinabzurutschen. Dann aber, als Instinkt und der unbedingte Zwang
zu gewinnen langsam über Angst und Erschöpfung siegten, fand er
endlich doch noch einen Halt und ritt hinter Corvus auf dessen
rotbrauner Stute, ganz so, wie sie auch schon einmal an den Ufern
des Rheins hintereinander auf einem Pferd geritten waren. Nur dass
Valerius diesmal ein Schwert in der Hand hielt und zudem allen
Grund hatte, diese Waffe auch einzusetzen.
Andererseits... vielleicht war selbst dieser Grund
noch nicht Grund genug. Ein wohlvertrauter Duft hüllte Valerius
ein. Ein Duft, den er schon sein ganzes Erwachsenenleben lang
gekannt hatte, der nur ganz schwach war, wenn der Mann, zu dem
dieser Duft gehörte, gerade aus den Bädern kam, und wiederum sehr
scharf in Valerius’ Nase drang, wenn dieser gewisse Mann von einer
Schlacht heimkehrte, oder aber, wenn sie beide die Nacht
miteinander verbracht hatten. Valerius konnte den letzten, den
endgültigen Hieb nicht ausführen.
Damals - in jenem zum Sterben langweiligen Winter,
als der Schnee den Pferden bis zu den Sprunggelenken reichte und
der Fluss von so dickem Eis überzogen war, dass man sogar darauf
reiten und Kavalleriemanöver einüben konnte - hatten sie beide noch
einen weiteren Trick probiert, den man in einer Situation wie
dieser anwenden könnte. Mit dem einen Arm langte Valerius nun unter
Corvus’ Achselhöhle hindurch nach dessen Kehle. Anschließend riss
er dessen Kopf nach hinten und rammte mit aller ihm noch
verbliebenen Kraft und Trauer sein Knie gegen Corvus’ Stirn.
»Es tut mir leid«, sagte nun auch Valerius, als der
andere Mann leblos zu Boden sackte. »Und ich werde noch immer auf
dich warten in dem Land hinter dem Leben, egal, wie viel Zeit bis
dahin vergehen mag. Und ich weiß, dass auch du auf mich
wartest.«
Die Stute war eines der Pferde aus dem Stamme der
Eceni. Sie kannte die Worte, die Valerius nun an sie richtete, also
genau und reagierte sofort auf den leichten Druck mit seinem
anderen Knie. Blitzschnell wirbelte sie auf seinen Befehl hin
herum, sodass er gerade noch sehen konnte, wie ein Mann in einem
übel riechenden Wolfsfellumhang sich aus seinem Sattel fallen ließ
und neben dem Toten zu Boden sank, der nun mit gebrochenem Genick
im Schlamm lag.
Vielleicht atmete Corvus aber auch noch... noch war
Zeit und Raum, um zu glauben, dass er noch lebte.
Schon aber wandte die Stute sich abermals um,
bäumte sich auf Valerius’ Befehl hin auf der Hinterhand auf,
peitschte mit den Vorderhufen durch die Luft, sodass er einmal den
Blick über das gesamte Schlachtfeld schweifen lassen konnte und die
sich abzeichnenden Muster erkannte - und endlich auch Breaca wieder
entdeckte. Noch immer waren sie und Hawk gefangen in einem wahren
Hexenkessel aus Legionaren. Und sie verloren, genauso wie auch ihr
gesamtes Heer verlor.
Doch Valerius hatte sich geirrt, denn auch nach dem
Tod des Krähenpferdes gab es für ihn einen Grund, um weiterzuleben.
Er trieb sein neues Pferd vorwärts, riss sein Schwert empor und
sandte ein kurzes Stoßgebet zu seinen Göttern hinauf, dass diese
ihm helfen würden, noch rechtzeitig seine Schwester zu
erreichen.