X
Es war Cygfa, die ältere Tochter der Bodicea, die
auf Valerius’ Zeichen hin dreimal den Ruf der Eule nachahmte. Das
vereinbarte Signal wurde von einem Wachkommando von Kriegern, die
sich im Unterholz entlang dem Waldrand verborgen hielten, durch den
Nebel hindurch weiterübermittelt, bis es schließlich an jener
Stelle ganz am anderen Ende der Postenkette anlangte, wo Cygfas
Bruder Cunomar bäuchlings unter den von den Unbilden des Winters
zerrupften Wurzeln einer umgestürzten Eiche lag.
Der Erdboden, auf dem Cunomar verharrte, vibrierte
im Rhythmus unzähliger Füße, die im Gleichschritt marschierten. Die
Soldaten der dritten Kohorte der Neunten Legion, die nur eine
Speerlänge von seinem Gesicht entfernt den Steinernen Pfad der
Ahnen entlangstampften, fuhren unverdrossen fort, die fünfzehnte
Strophe jenes Marschliedes zu singen, das sie angestimmt hatten,
als gerade die ersten Reihen der schier endlos langen Kolonne an
ihm vorbeigekommen waren. Den Ruf der Eule hörten sie nicht, und
hätten sie ihn gehört, hätten sie nicht gewusst, was er zu bedeuten
hatte. Cunomar aber nahm das Zeichen durchaus wahr und wusste
genau, was es bedeutete. Dennoch rührte er sich nicht.
Sein Äußeres hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit
dem eines menschlichen Wesens, und er empfand sich in diesem Moment
auch kaum mehr als solches. Bis auf seinen Messergürtel und den
Königsreif, den er am Oberarm trug und der das letzte Geschenk
seiner Mutter gewesen war in jenem Winter, bevor der Prokurator die
Siedlung zerstört hatte, war Cunomar vollkommen nackt. Von den
Fußsohlen bis hinauf zum Haaransatz war sein Körper von einer
dicken Schicht Bärenfett umhüllt, in die Waid gemischt worden war,
um sie stumpfgrau erscheinen zu lassen. Seine Augen waren von
Ringen aus einer weißen Paste umrahmt, die aus mit Lehmerde
vermischtem Kalk bestand; mit der gleichen Paste waren auch die
Linien auf seinen Wangen aufgemalt, die seinem Gesicht das Aussehen
eines Totenschädels verliehen. Sein Haar war mit Schweineschmalz
und weißem Kalk versteift, sodass es in Form einer blassgrauen
Sichel senkrecht von seiner Kopfhaut abstand.
Seitdem er den römischen Wachturm in Brand gesteckt
hatte, hatte Cunomar am Vortag schließlich sogar die Kriegerfedern
abgelegt, welche die Anzahl der von ihm getöteten Feinde
symbolisierten. Das Ablegen der Federn war ein Akt der Loslösung
von seiner früheren Existenz gewesen, ein Akt, mit dem er alles,
was vorher geschehen war, hinter sich gelassen hatte, und durch den
er sich noch stärker von seinesgleichen abhob, als es seine
königliche Abstammung oder sein fehlendes Ohr jemals vermocht
hätten. Von Kopf bis Fuß mit Waid getarnt und untrennbar mit dem
Nebel verschmolzen, war er nunmehr ein Krieger, den nichts mehr mit
den Lebenden verband, ein Krieger, der nichts mehr auszufechten
hatte als die Schlacht selbst, den nichts mehr ins Wanken zu
bringen vermochte außer der Atem der Götter, den nichts mehr
berührte oder kümmerte außer der Aufgabe, sich auf den nächsten
Atemzug zu konzentrieren und den nächsten und den nächsten …
Die Ältesten der Kaledonier hatten ihn die
Disziplin gelehrt, die es Cunomar ermöglichte, sämtliche Gedanken
zum Verstummen zu bringen und seinen Geist in einem Zustand
vollkommener Leere und Ruhe zu halten, auf dass er eins mit dem
Erdboden wurde. Seit dem Morgengrauen hatte er nun schon in diesem
Zustand der Reglosigkeit verharrt, wobei seine Konzentration nur
hin und wieder ein wenig nachgelassen hatte. Doch dann war der Ruf
der Eule ertönt, und dieser hatte unwillkürlich die Erinnerung an
den Traum der letzten Nacht mit sich gebracht, eine Erinnerung, die
Cunomar einfach nicht abzuschütteln vermochte.
Während er sich angestrengt darum bemühte, wieder
Leere in sein Bewusstsein einkehren zu lassen, roch Cunomar im
Geiste erneut den stinkenden Atem des Bären und fühlte sich prompt
wieder in den Albtraum zurückversetzt, der ihn in den vergangenen
drei Nächten regelmäßig aus dem Schlaf hatte hochschrecken lassen.
Es war jedoch nicht die Göttin in Gestalt der Bärin, der er in
seinem Traum begegnet war, jenes mystische göttliche Geschöpf, dem
er seine Seele verschrieben hatte. Sondern ein übel riechender und
verletzter männlicher Bär. Das Tier war in eine Höhle gejagt
worden, aus der es kein Entkommen mehr gab, und in seinem Schmerz
und seiner blinden Rage hatte sich der hilflos in die Enge
getriebene Bär umgedreht und seine nadelspitzen Klauen ausgefahren,
um nach seinem Angreifer auszuholen. Klauen, die sich länger und
immer länger streckten und die an dem Krieger, der gekommen war, um
den Bären zu töten, vorbeilangten, um stattdessen das verletzte
Kind, die Schwester des Kriegers, zu treffen, die zu ihrem Schutz
in ebendiese Höhle geschickt worden war und in genau diesem
Augenblick gerade erst aus dem Schlaf erwachte, sich von ihrem
Lager erhob und die Arme nach ihrem Bruder ausstreckte, ohne zu
begreifen, in welcher Gefahr sie sich befand. In Cunomars Traum
fuhr der Bär rasend vor Zorn herum, richtete sich auf die
Hinterbeine auf und schlug mit seiner gewaltigen Pranke wieder und
wieder auf...
Graine! Nein! Cunomar sprach die Worte
allerdings nicht laut aus. So viel zumindest konnte seine Disziplin
gerade noch verhindern.
Hartnäckig machte er sich daran, seine Atmung
wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit Fett vermischte
Schweißtropfen rannen von seinen Achselhöhlen und seinem Gesäß
herab. Schließlich war er wieder in der Lage, die Geräusche um sich
herum wahrzunehmen und das eiserne Geklirr der Legionssoldaten und
die neueste Strophe ihres Marschliedes zu hören.
Er konzentrierte sich darauf, so wie man es ihm
beigebracht hatte, allen gedanklichen Ballast abzuwerfen, um wieder
einen klaren Kopf zu bekommen, und zwang sich, nicht länger der
Erinnerung an den Ausdruck auf Graines Gesicht nachzuhängen, als
der Bär seine mächtige Pranke herabsausen ließ, um sie zu
zerschmettern. Er grübelte auch nicht darüber nach, wieso es ihm,
Cunomar, nicht gelungen war, seine Schwester zu retten. Es war
nicht das erste Mal, dass er diesen Traum gehabt hatte, und Cunomar
glaubte auch nicht, dass es das letzte Mal gewesen wäre. Er wusste
nur, dass er sein Leben dafür geben würde, um seine Schwester zu
beschützen, und dass, solange er lebte, kein Bär - sei es nun im
Traum oder in der Realität - sie jemals zu fassen bekommen
würde.
Die vollkommene innere Ruhe vermochte er jedoch
trotz aller Bemühungen nicht wiederzufinden, und daher gab er den
Versuch schließlich endgültig auf und ließ seinen Gedanken freien
Lauf. Derart von ihren Fesseln befreit, kreisten diese als Erstes
um Ardacos, Cunomars Mentor, der ihm gezeigt hatte, was es
bedeutete, ein Geisterkrieger zu sein, und der ihm somit ein
Vorbild geliefert hatte, dem es nachzueifern galt - wenngleich dem
Kind, das Cunomar zu jener Zeit noch gewesen war, dieses Vorbild
schier unerreichbar erschienen war.
Ardacos hatte seine Kriegerfedern schon seit langem
abgelegt. Inzwischen schmückte der kleine, drahtige Kaledonier sich
nur noch mit Andenken an diejenigen Siege, die er eigenhändig und
ohne fremde Hilfe im Kampf gegen einen wahrhaft würdigen Gegner
errungen hatte. Zum Zeichen für einen solchen Sieg trug er einen
ockerroten Streifen um den Oberarm. Zurzeit zierten drei dieser
Streifen seinen Arm, und er konnte nicht nur alle drei Feinde beim
Namen nennen, sondern auch die genaue Art und Weise beschreiben,
wie sie zu Tode gekommen waren, sowie jede einzelne Großtat ihres
Lebens aufzählen, ganz so, als ob sie Helden wären. Nicht einer
dieser Gegner war Römer gewesen, obgleich Ardacos ebenso viele
Legionare bezwungen hatte wie jeder andere lebende Krieger.
Im Gegensatz zu Ardacos wusste Cunomar jedoch nicht
so recht, wen er als einen würdigen Gegner betrachten sollte, nun,
da die Welt sich so sehr verändert hatte. Seine gesamte Jugend
hindurch hatte er davon geträumt, einen gewissen Dekurio der
Thrakischen Kavallerie zu töten, jenen Mann, der dieses besonders
auffällig gescheckte Pferd ritt und der von der Ostküste bis in den
Westen nur als »die Geißel der Stämme« bekannt war.
Aus einer ganzen Reihe von Gründen wäre der Tod
dieses Mannes Cunomars Empfinden nach also durchaus einen
ockerfarbenen Streifen wert gewesen. Doch dann war Valerius mit
seinem Schecken in die Eceni-Siedlung geritten und hatte den
römischen Prokurator in einem Akt von beeindruckender Brutalität
ins Jenseits befördert, womit seine Rückkehr zu den Eceni besiegelt
gewesen war. Erst danach hatte er sich als der Bruder der Bodicea
zu erkennen gegeben, und da war es bereits zu spät gewesen, ihn zu
töten.
Also hatte Cunomar den Traum, den er seit zehn
Jahren hegte, schließlich widerwillig aufgegeben oder ihn zumindest
erst einmal auf Eis gelegt. Zwar hatte er sich im Kreis der
Ratsversammlung nicht laut darüber geäußert, doch für ihn lag es
klar auf der Hand, dass ein Mann, der bereits zweimal in seinem
Leben die Seiten gewechselt hatte, nur zu leicht in Versuchung
kommen könnte, dies auch noch ein drittes Mal zu tun. Allein aus
diesem Grund war Valerius in Cunomars Augen nicht dafür geeignet,
das Kriegsheer zu führen, falls sich herausstellen sollte, dass die
Bodicea nicht mehr dazu fähig war. Cygfa allerdings dachte
zweifellos anders darüber, und sie stand mit ihrer Meinung nicht
allein da.
Nur wenige hatten es bisher gewagt, offen darüber
zu sprechen, doch man konnte sie deutlich in ihren Augen lesen: die
Furcht davor, dass die Bodicea ihr Feuer und ihren Kampfgeist
unwiederbringlich verloren hätte und bald durch einen neuen
Anführer ersetzt werden müsste. Viele weigerten sich zwar schlicht
und einfach zu glauben, dass es jemals so weit kommen könnte, doch
genau wie Cygfa, so hatte auch Cunomar damals mit eigenen Augen mit
angesehen, wie sein Vater durch Rom körperlich und seelisch
zugrunde gerichtet und schließlich seines letzten Lebensmutes
beraubt worden war. Daher kannte Cunomar die Anzeichen nur allzu
gut.
Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde,
bis auch die anderen zu dieser Einsicht kämen und lernten, die
Sachlage so zu sehen, wie er sie sah. Er wusste nur, dass es nicht
genügte, der einzige Sohn der Bodicea zu sein, sondern dass er
vielmehr beweisen musste - sich selbst, seiner Schwester, all jenen
anderen, die vielleicht noch an ihm zweifelten, vor allem aber der
Bärin und den zuschauenden Göttern -, dass er der Richtige war,
oder, genauer gesagt, der Einzige, an den sie sich in Zeiten der
Not wenden konnten. Wenn Valerius sich dann gegen ihn stellte,
könnte er, Cunomar, endlich kämpfen, und er könnte ihn töten, und
dann würde die Welt endlich erfahren, welch großartiger Krieger der
Sohn der Bodicea war.
Es kostete ihn eine ganze Menge Selbstbeherrschung,
bei diesem Gedanken nicht unwillkürlich aufzuspringen. Doch Cunomar
zwang sich, weiterhin reglos liegen zu bleiben, und wurde denn auch
prompt für seine Disziplin belohnt. Ein kleines Stück rechts vor
ihm, in dem feuchten Mulch des Waldbodens, wo winzig kleine
Geschöpfe krabbelten und ein einzelnes Blatt so groß wie ein ganzes
Rundhaus erschien, pirschte sich gerade eine Spitzmaus an einen
dünnen, fadenartigen Regenwurm an. Cunomar atmete langsam und
kontrolliert aus, doch die Maus ließ sich nicht davon stören. Seit
der Morgendämmerung war sie immer wieder in großem Bogen um ihn
herumgehuscht, auf der Hut vor dem Bärengestank, den er verströmte,
und verstört von der unerwarteten Wärme seines Körpers. Dann war
der Wurm aufgetaucht, und offenbar war er einfach zu köstlich, um
ignoriert zu werden.
Die Ältesten der Kaledonier neigten zwar eher dazu,
mit ihrem Lob zu geizen, doch in diesem Moment hätten sie Cunomar
ihre Anerkennung ganz sicherlich nicht versagt. Denn die härteste
Prüfung ihrer Lehren bestand darin, sich so absolut still und
reglos zu verhalten, dass die kleinen - und auch die großen -
Geschöpfe des Waldes oder des Heidelandes sich einem ohne jede
Furcht näherten.
Cunomar atmete noch leiser und vorsichtiger, um die
Maus nicht zu verscheuchen. Seine Haut unter den dicken Schichten
Bärenfett juckte unerträglich. Die Ringe aus weißem, mit Lehmerde
vermischtem Kalk um seine Augen waren getrocknet und hatten die
Haut zu Falten zusammengezogen, sodass er so aussah, als ob er
permanent die Stirn runzelte. Kleine, spitze Zweige bohrten sich
schmerzhaft in das Fleisch an seinen Knöcheln, seinen Hüften,
seinen Rippen, seinem Kinn, kurzum an all jenen Stellen, wo sein
Körper am stärksten gegen den Waldboden drückte. Verrückterweise
war seine Kehle staubtrocken und lechzte förmlich nach Wasser,
während seine Blase wiederum so voll war, dass ihm der Drang, sie
zu leeren, äußerst unangenehm zuzusetzen begann. Die Haut auf
seinem Rücken, wo die Wunden von der Auspeitschung noch immer nicht
gänzlich verheilt waren, schmerzte. Die Stelle, wo sein Ohr
gesessen hatte, brannte wie Feuer.
Etwas weiter vor ihm hatte die Spitzmaus gerade
eben den letzten Bissen ihrer Beute verspeist. Mit sichtlich
gerundetem Bauch und nass um Schnauze und Brust herum von dem
Lebenssaft des Wurms, bahnte sie sich einen Weg zurück unter die
Blätterschicht und rollte sich dort zum Schlafen zusammen. Cunomar
listete der Reihe nach jede einzelne Forderung seines Körpers auf,
verdrängte diese dann erst einmal wieder mit aller Kraft aus seinem
Bewusstsein und widmete einen Großteil seiner Aufmerksamkeit
stattdessen dem hämmernden Herzschlag und dem winzigen, brutalen
Maul der Spitzmaus, während er sich angestrengt bemühte, jeden
Gedanken an Valerius und alles, wofür dieser stand, aus seinem Kopf
zu verbannen.
Eine plötzliche Veränderung in dem rhythmischen
Vibrieren des Erdbodens lenkte seinen Blick schließlich wieder auf
den Pfad der Ahnen zurück. Seine Augen waren auf gleicher Höhe mit
dem höchsten Punkt des befestigten Wegs, also dem Scheitelpunkt
jener Kurve, die auf der einen Seite zur Marsch und auf der anderen
zum Wald hin abfiel. Somit war Cunomar nahe genug, um den
Schweißgeruch der zahllosen, in mit Nieten beschlagenen Sandalen
steckenden Füße riechen zu können, als die letzten Reihen der
Neunten Legion an ihm vorbeimarschierten. Lebendes Fleisch
klatschte mit jedem Schritt vernehmlich gegen Leder und Panzerung.
Hunderte von menschlichen Lungen sogen den klammen, stetig dichter
werdenden Nebel ein und stießen ihn mit einem rasselnden Geräusch
wieder aus. Zehntausende von eisernen Nieten schlugen hämmernd auf
den Steinpfad, und die Bäume warfen den Lärm als Echo in die Marsch
zurück, wo er schließlich von der Stille regelrecht aufgesogen
wurde. Im Gleichschritt marschierende Männer wurden zu
eisengepanzerten, behelmten Geistern, die ganz unvermittelt aus dem
Sumpfnebel auftauchten und unmittelbar darauf wieder darin
verschwanden, sodass sie lediglich für die Zeitspanne eines
Speerwurfs zu beiden Seiten jener Stelle sichtbar waren, wo der
Sohn der Bodicea in seinem Versteck lag und sich nun anschickte,
aktiv zu werden.
Dann war der Spuk endgültig vorbei. Die letzten
Fußsoldaten der abschließenden Kohorte stampften an Cunomars
Versteck vorüber und wurden vom Nebel verschluckt. Danach kam
nichts mehr. Die Stille, die eintrat, schmerzte beinahe noch mehr
in den Ohren, als es der Lärm getan hatte.
Die lange, geduldige, sich über eine ganze Nacht
und einen halben Vormittag hinziehende Warterei trug schließlich
und endlich die so sehnsüchtig erhofften Früchte. Vorsichtig
bewegte Cunomar seine Hand um eine Haaresbreite nach links.
Trockene Blätter erzitterten kurz an jener Stelle, wo die Spitzmaus
schlief, und lagen dann wieder still. Während er im Lehm kniete und
den Albtraum der Nacht endgültig aus seinem Bewusstsein verbannt
hatte, mit hellwachem Geist, klarem Kopf und durchdrungen von dem
Atem der Bärin, der ihm das Herz wärmte, hob Cunomar beide Daumen
an die Lippen und ahmte das Schreien einer Rohrdommel nach.
Wenig später stieß Ulla zu ihm, gefolgt von
Scerros und dessen Cousine von den hoch im Norden lebenden Eceni,
deren Namen Cunomar nie erfahren hatte. Die drei waren kaum zu
erkennen, da ihre Gesichtszüge hinter den mit weißem Kalk auf
grauem Waid aufgemalten Totenschädelmustern verborgen waren. Sie
begrüßten einander mit einem wortlosen Lächeln, ein Aufblitzen von
weißen Zähnen, das bewies, dass sie noch keine Wiedergänger waren.
Beseelt vom Geist der Bärin, Atem und Herzschlag von Erregung
beflügelt und erfüllt von der Hoffnung auf Ehre und dem Drang nach
Rache, traten sie in den Nebel, der den Steinernen Pfad der Ahnen
einhüllte, und wurden augenblicklich regelrecht unsichtbar.
Nachdem sie einen halben Vormittag lang stocksteif
und reglos in ihren Verstecken gelegen hatten, war es für sie ein
echter Willensakt, sich nun überhaupt noch bewegen zu können. Und
dann trotz steifer, schmerzender Gelenke auch noch vollkommen
lautlos durch das letzte Stückchen Wald zu laufen, auf den alten
Steinpfad hinaufzusprinten und hinter den letzten vier den Weg
entlangmarschierenden Legionssoldaten herzujagen, das war für sich
allein genommen schon eine Leistung, die einer am winterlichen
Feuer erzählten Heldengeschichte würdig war.
Der plötzliche, durchdringende Gestank nach Bär und
Schweinefett ließ die Nachhut der Neunten zwar erkennen, dass sie
von feindlichen Kriegern angegriffen wurde, doch die Warnung kam
nicht mehr rechtzeitig genug. Vier Hände packten vier behelmte
Köpfe und rissen sie mit einer ruckartigen Bewegung nach hinten;
vier Klingen schnitten blitzschnell durch Nebel und Haut und
Knorpel. Vier Männer schrien warnend und voller Schmerz und
Todesqual durch aufgeschlitzte Luftröhren, die doch keinerlei Laut
mehr transportierten. Wie abgeschlachtetes Vieh vermochten auch die
Legionare nur noch lautlos zu brüllen, um kurz danach zu verenden.
Ihre Augen verdrehten sich nach oben, sodass nur noch das Weiß der
Augäpfel zu sehen war, und ihre Gliedmaßen erschlafften
abrupt.
Blut rann in Strömen über das graue, kalte Pflaster
des Steinernen Pfades der Ahnen. Vier Seelen lösten sich aus ihrer
irdischen Hülle und wurden rasch von Airmid, Gunovar und Lanis
davongeführt, die sich zusammengetan hatten, um gemeinsam dafür zu
sorgen, dass die Geister der Toten beider Seiten nicht sich selbst
überlassen blieben und verloren und hilflos im Nebel umherirrten.
Valerius war derjenige gewesen, der die Träumer ausdrücklich darum
gebeten hatte, sich auch der Seelen der getöteten Feinde
anzunehmen, und niemand hatte sich dagegen ausgesprochen.
Im selben Augenblick kamen andere Krieger zwischen
den Bäumen hervor und halfen mit, die Leichen zu stützen und die
Schilde und Tornister der Getöteten aufzufangen, damit nichts davon
laut scheppernd auf das Steinpflaster fallen konnte und so die
vorausmarschierenden Legionare vor dem Gemetzel warnte, das nur
wenige Schritte hinter ihnen stattfand. Vorsichtig und ohne jedes
Geräusch wurden die Toten vom Pfad hinuntergetragen, gegen die
Bäume gelehnt und dann dort zurückgelassen, damit später, wenn die
Gefahr vorüber war, die Großmütter und Kinder kommen und ihnen die
Waffen abnehmen konnten.
Schon hatte der Kreislauf des Tötens von neuem
begonnen. Inzwischen hatten vier weitere Krieger ihren Platz
zwischen den Bäumen verlassen und waren - ebenso grau und
gespenstisch anmutend wie ihre Gefährten, ebenso schnell und
lautlos - auf den Pfad gehuscht, um die vier Männer der nunmehr
letzten Reihe bei den Köpfen zu packen und ihnen die Kehle
durchzuschneiden, noch bevor diese auch nur merkten, dass sie im
Sterben lagen.
Die restlichen Männer der Neunten marschierten
unterdessen ahnungslos weiter, versunken in ihren eigenen monotonen
Rhythmus von Fleisch auf Leder und Eisen auf Stein. Eine Strecke
weiter vor ihnen lockten die Signalhörner der ersten Kohorte,
versprachen den erschöpften Männern mit jedem neuen Refrain bereits
fertig aufgestellte Zelte und Kochfeuer, die schon lodernd
brannten, und prall gefüllte Weinschläuche, die nur noch darauf
warteten, geleert zu werden. Denn das war stets die Belohnung, die
denjenigen winkte, die in der Nachhut jeder Kolonne marschierten -
nämlich am Abend in ein Lager zu kommen, das bereits fix und fertig
aufgeschlagen war.
Mit dieser verlockenden Aussicht vor Augen
marschierten die Soldaten der dritten Kohorte blindlings und ohne
auf etwaige Gefahren zu achten in einen dichten Nebel hinein, der
sich drei Reihen weiter vor ihnen kurz auftat und sich unmittelbar
hinter ihnen sofort wieder schloss. Der Wald zu ihrer Rechten lag
noch immer genauso still da wie zu dem Zeitpunkt, als sie
losmarschiert waren, und der Sumpf linkerhand wirkte noch genauso
friedlich, doch weder das eine noch das andere kam ihnen verdächtig
genug vor, um sie aus ihrem stumpfen Trott herauszureißen und
einmal einen argwöhnischen Blick zurückwerfen zu lassen.
Die dritte Reihe starb und dann die vierte. Die
Krieger, die die Leichen der ersten getöteten Legionare
fortgetragen hatten, stürmten nun ebenfalls vorwärts, um
eigenhändig Feinde zu erlegen. Barfuß und glitschig vor Bärenfett
rannten sie über das steinerne Pflaster, vor den Flüchen der
Geister und den scharfen Klingen der Lebenden durch tarnendes Waid
und die Macht der Bärengöttin geschützt.
Zwanzig Marschreihen wurden eine nach der anderen
in vollkommener Stille niedergemetzelt. Achtzig Legionare starben
eines raschen, lautlosen Todes, und dennoch umfasste die den Weg
entlangmarschierende Kolonne noch immer Tausende von Männern.
Sämtliche siebenundvierzig Mitglieder des Kriegerverbands der Bärin
waren mittlerweile im Einsatz und rannten über den Steinernen Pfad
der Ahnen, und mit jedem Schritt, den sie taten, mit jedem
Messerhieb stellten sie ihr Glück auf eine noch härtere Probe,
gingen sie ein noch größeres Risiko ein.
Cunomar, der in seinem Tarnüberzug aus Fett und
grauem Waid nur so triefte vor Blut, lehnte hastig einen weiteren
Leichnam gegen einen Baum und rannte dann zwischen zwei im Sterben
liegenden Soldaten hindurch wieder auf den Pfad hinauf. Zu seiner
Linken lief Ulla, rechts von ihm die Cousine aus dem Stamm der
nördlichen Eceni. Scerros, der den von ihm getöteten Mann ein
bisschen zu spät auf den Erdboden sinken ließ, holte seine drei
Kampfgefährten erst wieder ein, als diese bereits die nächste Reihe
der marschierenden Legionare erreicht hatten.
Atemlos, ein wenig nervös und gehetzt und nicht so
vollkommen von dem Geist der Bärin durchdrungen, wie er es
eigentlich hätte sein sollen, bekam Scerros in seiner Hast seine
Waffe nicht richtig zu fassen und hantierte so ungeschickt damit
herum, dass er seinen Einsatz verpatzte. Statt mit einem einzigen
glatten Schnitt die Luftröhre seines Opfers zu durchtrennen, grub
sich sein Messer durch Fleisch und Muskeln und die Wand eines
pumpenden Blutgefäßes. Der Legionar kreischte so gellend wie eine
Henne, der man den Hals umdreht, und er starb weder sauber noch
schnell.
Für die drei Männer, die neben ihm in einer Reihe
marschierten, kam die Warnung allerdings zu spät, als dass sie
ihnen noch genützt hätte. Die vor ihnen Marschierenden hatten
jedoch noch Zeit genug, um Alarm auszulösen, ihre kurzen Dolche zu
ziehen, ihre Schilde zu schultern und zumindest noch halb zu der
Horde grauer, gespenstisch anmutender Gestalten herumzufahren, die
nun, da Heimlichkeit nicht mehr vonnöten war, unter schrillem
Kampfgeheul aus dem Nebel auf sie zustürmten.
Die vier Soldaten, die das Schwanzende der Kolonne
bildeten, starben eines schmutzigen Todes und konnten, bevor sie
ihren endgültig letzten Atemzug taten, ihren Angreifern noch einige
nicht unerhebliche Verletzungen zufügen. Die nächsten vier Männer
schafften es sogar, einen ihrer Gegner zu töten, womit sie die
Anzahl der Bärinnenkrieger auf sechsundvierzig reduzierten. In der
Zwischenzeit hob Cunomar seine blutbeschmierten Finger an die
Lippen, füllte seine Lungen mit feuchtkalter Moorluft und stieß
einen einzigen, durch Mark und Bein gehenden Pfiff aus, der
mindestens bis zur Spitze der Kohorte drang. Um zu verhindern, dass
sein Signal womöglich falsch gedeutet wurde oder gar ungehört
verhallte, zog er ein mit einer Tülle aus Kupfer versehenes Kuhhorn
aus seinem Gürtel und schmetterte einen Ton, so schrill und
durchdringend wie der Schrei eines Legionsmaultiers, der die
gesamte Marsch erschütterte und die Krähen, die sich gerade am
Waldesrand versammelten, jäh zum Verstummen brachte. Anschließend
hielt Cunomar einen kurzen Moment inne, um seine Messerklinge von
den Fleischfetzen zu säubern, die daran kleben geblieben waren, und
stürzte sich dann - den Namen des soeben im Kampf gefallenen
Bärinnenkriegers wie einen neuen Schlachtruf brüllend - freudig und
voller Energie aufs Neue in die Schlacht.
Die Bodicea und diejenigen, die mit ihr warteten,
hörten zuerst einen Pfiff und dann das Schmettern eines Rinderhorns
durch den Nebel schallen. Auf dieses Signal hin traten vier mit
Äxten bewaffnete Krieger vor, um das Werk zu vollenden, das sie vor
dem Aufmarsch der Legion begonnen hatten. Die Eiche, die quer über
den Pfad der Ahnen stürzte, als der letzte Hornstoß verhallte, war
so breit, wie ein Mann lang ist, und dicht mit Ästen und Zweigen
bewachsen. Drei der vier Legionssoldaten, die genau in diesem
Augenblick unter ihm hindurchmarschierten, wurden von dem mächtigen
Baum erschlagen, und dem vierten zerquetschte es die Beine, sodass
er ein nur allzu leichtes Ziel für einen Steinschleuderschützen
abgab.
Es war Breaca, die das steinerne Geschoss abfeuerte
und dabei auf den nachgiebigen Teil des Schädels zielte, nämlich
auf jene Stelle oberhalb des Ohres des Mannes, wo die Knochen sich
trafen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da war Breaca derart
treffsicher gewesen, dass sie selbst noch ein in fünfzig Schritt
Entfernung hochgehaltenes Haar hätte spalten können. Diese Zeit
aber war leider - jedenfalls zumindest vorerst - vorüber, doch
nachdem sie einen halben Morgen lang geübt hatte, hatte Breaca
zumindest wieder so viel von ihrer alten Geschicklichkeit
zurückerlangt, um einen Mann zu treffen, der weniger als eine
Speerwurfweite entfernt unter einem Baum eingeklemmt war. Inmitten
eines wahren Hagels von Speeren und Steinen war ihr Geschoss das
Einzige, das nahe genug an der Stelle auftraf, die es hatte treffen
sollen, und damit durfte Breaca innerhalb von zwei Tagen bereits
den zweiten getöteten Feind für sich verbuchen, und sie hörte, wie
die jungen Kriegerinnen und Krieger um sie herum ihren Treffer mit
einer Begeisterung bejubelten, als ob dieser an sich schon ein Sieg
über den Feind wäre.
An Breacas Seite stand Dubornos. Auch er war früher
einmal gesund an Leib und Seele gewesen, bis er durch die Massaker
Roms so schwer verwundet worden war, dass er kein Schwert mehr
schwingen konnte, sondern sich wohl oder übel mit der
Steinschleuder und dem Messer begnügen musste.
Breaca fühlte Dubornos’ Hand auf ihrer Schulter.
»Mit der Zeit wirst du schon wieder zu deiner alten Treffsicherheit
zurückfinden«, sagte er leise. »Für den Augenblick aber brauchen
wir weder sonderlich glorreiche noch ehrenvolle Taten zu
vollbringen. Im Moment müssen wir lediglich jene noch völlig
unerprobten jungen Krieger, die vor weniger als einem Monat zum
allerersten Mal ein Schwert ergriffen haben, das Kämpfen
lehren.«
Genau das Gleiche hatte auch Valerius bei den
nächtlichen Sitzungen der Ratsversammlung gesagt, und Breaca hatte
es vor dem Kriegsheer wiederholt: Diese Schlacht dient in erster
Linie der Ausbildung und Übung. Erwartet keinen Heroismus, tut
einfach nur euer Bestes, um am Leben zu bleiben.
Es war Longinus gewesen, der gesagt hatte: »Selbst
wenn es euch gelingt, die Nachhut der Legion vom Rest der Truppe
abzuschneiden, wird es eine schwierige Angelegenheit für uns alle
werden. Die Zenturionen der Neunten sind allesamt bereits in den
germanischen Provinzen im Kampfeinsatz gewesen. Die verstehen was
vom Kämpfen, so viel steht fest. Sobald sie erkennen, dass sie ganz
auf sich allein gestellt sind, werden sie das Kommando über ihre
Leute übernehmen und versuchen, die Ordnung zumindest so lange
aufrechtzuerhalten, bis Hilfe eintrifft. Rechnet nicht damit, dass
sie ihr Leben kampflos aufgeben werden.«
Longinus hatte großen Eindruck auf Breaca gemacht,
und jedes Mal, wenn sie ihm begegnete, stieg er noch mehr in ihrer
Achtung. Der Seelenfreund ihres Bruders war ein ruhiger und
nachdenklicher Mann, und wenn er seine Meinung äußerte, was
allerdings nicht oft geschah, dann war sie wohlbegründet.
Eingedenk seiner Warnung hatte Breaca daraufhin
aufmerksam den prunkvollen Zug der Offiziere beobachtet, die an der
Spitze der Marschkolonne ritten, und dabei ihr besonderes Augenmerk
auf die härteren, durchtriebeneren Gesichter der Zenturionen
gerichtet, als diese an ihr vorüberzogen. Dies waren die Männer,
die die Möglichkeit eines Überfalls aus dem Hinterhalt erkannt
hatten, lange bevor es tatsächlich dazu kam, und die womöglich auch
die halb gefällten Bäume bemerkt hatten, die in gewissen Abständen
entlang den Rändern des Steinernen Pfads der Ahnen standen und
gefährlich im Wind schwankten, bereit, unter zwei weiteren
kraftvollen Axthieben wie ein Strohhalm umzuknicken und quer über
den Weg zu stürzen.
Diese Männer waren der Grund dafür, weshalb Breaca
darauf bestanden hatte, dass der Erdboden von den verräterischen
Spänen und Holzschnitzeln gesäubert wurde, welche die Äxte
hinterlassen hatten, und dass die angeschlagenen Baumstämme mit
Moos und Flechten umwickelt wurden. Ebenfalls speziell um dieser
Männer willen waren die besten Steinschleuderschützen an
strategisch günstigen Punkten entlang des Waldrands postiert
worden. Sie hatten den Auftrag, nach den entsprechenden Zeichen für
Dienstgrad und Machtbefugnis Ausschau zu halten und die Zenturionen
dann unverzüglich unter Beschuss zu nehmen.
Der Angriff erfolgte jedoch nicht rasch genug, und
Longinus sollte mit seiner Einschätzung der Lage voll und ganz
recht behalten. Plötzlich jedes Kontakts mit den höheren Offizieren
beraubt, übernahmen die zwölf Zenturionen, die auf der falschen
Seite der umgestürzten Eiche eingeschlossen waren, unverzüglich das
Kommando über ihre Männer. Mit erschreckender Schnelligkeit gelang
es ihnen, das Chaos in den Griff zu bekommen und wieder so etwas
wie Ordnung herzustellen. Ein Dutzend der Legionssoldaten, die
Breaca am nächsten waren, fuhren herum und hoben dabei ihre Schilde
über die Köpfe, um so ein schützendes Dach gegen herabsausende
Speere zu bilden. Dies war eine durchaus einleuchtende und nahe
liegende Maßnahme für Soldaten, die bisher noch nicht im Westen
gedient hatten und daher auch nicht wussten, dass die eingeborenen
Krieger mit ihren Schleudersteinen auf die unbedeckten Knie
derjenigen Legionare zielten, die ihre Schilde hochrissen, um Kopf
und Gesicht zu schützen, und diese somit ebenso wirkungsvoll und
nachhaltig zum Krüppel machten, als ob sie sie dadurch außer
Gefecht gesetzt hätten, dass sie deren Achillessehnen
durchschnitten.
Doch weiter oben in der Reihe gab es offenbar
jemanden, der den Trick kannte. Breaca hörte, wie hektische Befehle
durch die unorganisierte Kolonne hindurchgebrüllt wurden. Die
schutzlos dem Steinhagel ausgelieferten Männer ganz am Ende der
Reihe gingen bereits einer nach dem anderen zu Boden, doch etwas
weiter oben auf dem Pfad gab es eine Gruppe, die besseren Gebrauch
von ihren Schilden machte.
Breaca überließ die neue Formation kurzerhand
Ardacos und denen, die mit ihm kämpften, und rannte zwischen den
Bäumen hindurch auf die Quelle des Gebrülls zu. Spitze Eichenäste
stachen nach ihr. Sprießende Haselnusszweige peitschten ihr ins
Gesicht. Schließlich kam sie auf gleiche Höhe mit einer Gruppe von
acht Legionaren, die sich zu einem Ring zusammengeschlossen hatten
und ganz eng nebeneinander auf dem Boden knieten, wobei sechs
Schilde nach außen gehalten wurden, während die übrigen zwei ein
schützendes Dach über ihren Köpfen bildeten. Breaca konnte
nirgendwo eine Stelle entdecken, wo ein Schleuderstein zwischen den
Schilden hätte hindurchdringen können, geschweige denn ein Speer.
Aus der Mitte des Schildwalls drang das an einen aufgebrachten
Bullen erinnernde Gebrüll eines Zenturios, der Befehle an die
weiter unten in der Reihe befindlichen Männer weitergab. Schon
formierten sich weitere acht nach dem gleichen Muster wie ihre
Kameraden. Vergeudete Speere prallten, ohne irgendwelchen Schaden
anzurichten, von den erhobenen Schilden ab und schlitterten nutzlos
in den See.
Dicht hinter Breacas rechter Schulter stand
Dubornos. Im Gegensatz zur Bodicea war er nicht ausgepeitscht
worden, aber dafür hatten die römischen Inquisitoren ihn bereits
lange vorher zum Krüppel gemacht. In den vergangenen acht Jahren
hatte es nur noch eine einzige Waffe gegeben, die Dubornos sicher
mit der rechten Hand halten konnte, nämlich die Schleuder. Er hatte
angestrengter und länger geübt als jeder andere, den Breaca kannte,
und mittlerweile war er im Umgang mit der Steinschleuder geradezu
atemberaubend gut.
Ohne sich zu ihm umzuwenden, sagte Breaca: »Wenn
ich es schaffe, ihre Schilde auseinanderzuzwängen, kannst du dann
den Zenturio in der Mitte zumindest verwunden?«
»Wenn ich ihn sehen kann, kann ich ihn auch
töten.«
Jeder andere hätte dies mit einem Grinsen gesagt.
Dubornos jedoch war nie heiter und unbeschwert gewesen; dafür
schleppte er zu viel Schuldbewusstsein und Kummer mit sich herum.
Er befestigte einen Stein in seiner Schleuder und ließ in einer
flüssigen Bewegung sein Handgelenk kreisen. »Wenn du irgendwas tun
kannst, um den Schild mit den schwarzen Schwänen drauf
runterzudrücken, könnte ich mein Ziel leichter treffen.«
Die besagten schwarzen Schwäne blickten einander
über zwei gekreuzte Blitze hinweg an, die scharlachrot auf Schwarz
aufgemalt waren, darunter prangte das persönliche Rangabzeichen des
Zenturios in Form eines nach links zeigenden Winkels. Breaca konnte
die vom Wind gerötete Haut des Mannes sehen, dessen Zeichen die
Schwäne waren. Für einen kurzen Moment spähten seine Augen über den
Rand seines Schildes hinweg, dann waren sie auch schon wieder
hinter dem ledernen Schutzschirm verborgen. »Das müsste doch wohl
zu schaffen sein«, sagte Breaca, und damit stürmte sie auch schon
vorwärts, wobei sie ihren Speer so vor sich hielt, als ob sie
Wildschweine jagen wollte.
Die Speerspitze traf den linken der beiden Schwäne,
der auf dem Schild zuinnerst war, bohrte sich durch das Bullenleder
und blieb in der dahinter befindlichen Schicht aus laminiertem Holz
stecken. Breaca stieß mit ihrem ganzen Gewicht nach und riss den
Speer dann mit einem kraftvollen Ruck wieder zurück, um den Schild
auf diese Weise gleich mit fortzureißen.
Der Speer krümmte sich in ihren Händen, splitterte
und brach entzwei. Am Rande ihres Blickfelds sauste verschwommen
ein Schleuderstein vorbei. Die Wand von scharlachroten Blitzen auf
schwarzem Untergrund wankte und teilte sich. Und dann wurde Breaca
urplötzlich von ihrem eigenen, ganz persönlichen Blitz in den
Rücken getroffen, und zwar genau zwischen den Schulterblättern, wo
ihre Haut besonders üble Platzwunden erlitten hatte. Ein gellender
Schrei zerriss die Luft, und in dem schier endlosen Augenblick, ehe
sie stürzte, erkannte Breaca den schmerzgepeinigten Aufschrei als
den ihren. Irgendwann, bevor sie auf dem harten Steinpflaster des
Pfads aufschlagen konnte, wurde sie von Händen aufgefangen, die sie
hielten und stützten und in aller Eile davontrugen. Einige der
Helfer erinnerten sich sogar daran, auf keinen Fall Breacas Rücken
zu berühren.
Der Schmerz in ihrer Schulter war unglaublich
intensiv, wie von einer neuen, frisch aufgeplatzten Wunde. Jemand
wimmerte vor sich hin wie ein Kind. Es schien aber nicht so, als ob
der Laut aus ihrem, Breacas, Mund käme. Als sie sich dessen ganz
sicher war, öffnete sie schließlich die Augen. Dubornos’ Gesicht
schwebte über ihr. Er wimmerte jedoch keineswegs, sondern fluchte
und schluchzte vielmehr gleichzeitig. Tränen bildeten glänzende
Spuren auf seinen Wangen. Er sah um zehn Jahre älter aus als noch
in jenem Augenblick, als Breaca an ihm vorbeigestürmt war, um den
Schildwall zu durchbrechen.
»Niemals«, wetterte er, »niemals, niemals, niemals
hätte ich gedacht, dass du das tun würdest! Warum konntest du
deinen gottverdammten Speer nicht so schleudern wie jeder andere,
der sein Leben höher schätzt als irgendwelche saudämlichen
Demonstrationen von Heldenmut! Ausgerechnet du musst doch hier nun
wirklich nichts beweisen.«
Es waren einfach zu viele Menschen um sie herum,
die jedes Wort mithörten, sodass Breaca es für besser hielt, sich
eine Antwort auf Dubornos’ Schimpftirade zu verkneifen. Und
außerdem war da diese Stelle an ihrer Schulter, die derart höllisch
brannte, als ob sie einen Schwerthieb abbekommen hätte, was aber
anscheinend nicht der Fall war. Noch immer war das gedämpfte
Wimmern zu hören, und noch immer konnte Breaca die Quelle nicht
ausmachen.
Vorsichtig setzte sie sich auf und schaute sich um.
Nicht weit von ihr entfernt kniete ein junger Bursche mit
kupferrotem Haarschopf und wilden, weit aufgerissenen Augen, über
dessen Mund ein flammend roter Bluterguss verlief. Das Haar über
seinem linken Ohr hing in geknickten Strähnen herab, als ob man ihm
die Kriegerzöpfe gewaltsam herausgerissen hätte, und ein bläulich
verfärbter Striemen an seinem rechten Handgelenk ließ die Stelle
erkennen, wo man ihn erst kürzlich seiner Schleuder beraubt hatte.
Er starrte Dubornos an, als ob der Sänger noch gefährlicher wäre
als sämtliche Armeen Roms zusammengenommen. Es war der Junge, der
da unaufhörlich vor sich hin wimmerte.
»War das dein Schleuderstein, der mich vorhin
getroffen hat?«, wollte Breaca von ihm wissen.
Sein Gesichtsausdruck war Antwort genug. Er war
derart erschrocken und verängstigt, dass er kein Wort über die
Lippen brachte. »Wie heißt du?«, fragte Breaca.
Dubornos antwortete für ihn. »Sein Name ist
Burannos. Er war einer von denjenigen, die bei den von Cunomar
abgehaltenen Speerkämpferprüfungen durchgefallen waren. Daraufhin
wollte er stattdessen Schleuderschütze werden. Aber offenbar hat er
nicht intensiv genug geübt.«
»Wir könnten ihm die Fehlschläge und Misserfolge
unserer Jugend aufzählen«, entgegnete Breaca, »aber das würde mehr
Zeit erfordern, als wir haben.«
Sie versuchte, sich vom Boden zu erheben, was ihr
beim zweiten Versuch auch tatsächlich gelang. Sie befand sich ein
ganzes Stück tiefer im Wald als zuvor, durch eine dichte Wand von
Bäumen von dem Marschpfad abgeschirmt. Dennoch war der Gefechtslärm
auch hier noch deutlich genug zu hören, doch Einzelheiten der
Schlacht konnte man an dieser entlegenen Stelle nicht mehr
ausmachen. »Haben wir den Achterring denn nun zersprengt?«,
erkundigte Breaca sich.
Schweigend blickte Dubornos auf seine Hände. Seine
Schleuder hing noch immer an seinem Handgelenk, und in die Schlaufe
eingebettet lag ein Kieselstein, als ob es die leichteste Sache der
Welt wäre, mit dem eingelegten Geschoss umherzulaufen, und nicht
etwas, das die jungen Krieger erst einmal etliche Monate lang
erfolglos übten.
»Nein«, antwortete Dubornos schließlich. »Der
Zenturio und noch ein anderer sind tot, aber als du getroffen
wurdest, mussten wir dich erst einmal fortbringen, und da hat sich
der Ring wieder neu gebildet. Ich habe ein Dutzend
Schleuderschützen auf die Soldaten angesetzt, damit sie beschäftigt
sind und auf Trab gehalten werden. Aber wenn wir es zu lange dabei
bewenden lassen, werden sie sich wieder daran erinnern, dass
Angriff immer noch die beste Verteidigung ist, und stattdessen auf
uns losgehen.«
»Dann müssen wir die Formationen eben wieder
aufbrechen, ehe sie anfangen nachzudenken.« Jemand bot Breaca eine
Schleuder an, und sie nahm die Waffe an sich. »Burannos kann
zwischen uns stehen. Lass jeden, der einen Speer hat und weiß, wie
man ihn schleudert, auf einen der Schilde zielen. Wenn die
Speerwerfer eine genügend große Lücke schaffen können, können wir
unsere Steine geradewegs hindurch bis in die Mitte des Rings
schießen.«
Draußen auf dem Pfad, umwogt von erbitterten
Kämpfen auf beiden Seiten, befand sich der Schild mit den schwarzen
Schwänen nunmehr im Zentrum eines Rings von fünf anderen, wobei ein
Schild als schützendes Dach fungierte. Junge Krieger mit
Steinschleudern, die sich in der vordersten Baumreihe versteckt
hielten, nahmen sich die Zeit zum Zielschießen. Scharen von
Kieselsteinen schlugen krachend gegen Bullenleder und Eisen. Das
Prasseln der Geschosse ging jedoch in dem allgemeinen Gefechtslärm
völlig unter.
Ein Dutzend junger Leute mit Speeren trat aus dem
Schutz der Bäume hervor, um sich an den Rändern des Pfads zu
postieren. Die innerhalb des Rings eingeschlossenen Legionare
erkannten die Gefahr. Sogleich zogen sie ihre Schilde noch enger um
sich herum zusammen, bis sich die Ränder so weit überlappten, dass
es nicht einmal mehr die kleinste Lücke gab und das halbrunde
Gebilde unwillkürlich an eine sich zusammenrollende Assel
erinnerte. Dann gab der Mann in der Mitte drei Worte als Befehl aus
- und in einer eleganten, fließenden Bewegung, wie von Götterhand
geführt, entfaltete sich der gesamte Ring und verwandelte sich
stattdessen in eine Linie.
Einen Herzschlag lang, vielleicht auch zwei,
rührten die Legionare sich nicht von der Stelle, denn jeder Mann
blickte erst einmal zur Seite, um zu sehen, ob er noch genau auf
einer Linie mit seinen Nachbarn war. Der Unteroffizier stand in der
Mitte und hatte sich den Helm seines tödlich getroffenen Zenturios
aufgesetzt. Schwarz wogte der Helmbusch aus Pferdehaar im Wind. Er
schaute an der Reihe entlang und holte dann tief Luft, um einen
neuen Befehl zu brüllen.
Breaca kam ihm jedoch zuvor. »Jetzt!«
Dubornos’ Kiesel war zu klein, als dass Breaca ihn
hätte sehen können, nicht mehr als ein Wispern in dem von der
Marsch aufsteigenden Nebel, als das Geschoss an ihr vorübersauste.
Ein Legionssoldat, der unvorsichtigerweise seinen ungepanzerten
Ellenbogen gezeigt hatte, schrie jäh auf und stürzte dann kopfüber
nach vorn, die Knochen seines Unterarms zertrümmert.
Die Männer, die ihn flankierten, nahmen bereits
Reißaus. Sie sprangen über den Körper ihres zu Boden gegangenen
Kameraden hinweg, und als sie landeten und sich abermals
formierten, rückten sie noch dichter zusammen, um die Lücke
auszufüllen, die der Gefallene hinterlassen hatte. Prompt sauste
ein Speer in spitzem Winkel tief unter den Schild des einen
Soldaten, und dieser musste einen Satz machen, um auszuweichen.
Beim zweiten Mal wartete Breaca auf den Augenblick, in dem sie
flüchtig einen Blick auf die nackte Haut an der Kehle des Mannes
erhaschen konnte.
Burannos kämpfte einige Schritte vor ihr. Sie
fühlte die Schwungkraft seines Speerwurfs und sah den Legionar, auf
den der Junge gezielt hatte, taumeln. Ihr eigener Stein zielte
tiefer und zertrümmerte dem Mann die Kniescheibe. Schon grub sich
mit aller Kraft ein Speer in den Schild seines Kampfgefährten,
geschleudert von einem Mädchen mit rostrotem Haar, das - wenn es
schon nicht Burannos’ Zwillingsschwester war - so doch zumindest
eine nahe Verwandte von ihm sein musste. Als sie mit einem hastigen
Satz zurücksprang, schälte die Schwertklinge des Legionars ein
Stück Haut von ihrem Unterarm. Ein anderer Krieger, gleichgültig
gegen den Tod, griff ein, um seinen Speer in das Gesicht eines
Legionssoldaten zu rammen, der im selben Moment starb, in dem er
erkannte, dass er ganz allein einem Dutzend Kriegern
gegenüberstand.
Schließlich griff auch Breaca nach ihrem Schwert,
und sie fluchte lästerlich, als die ersten beiden Hiebe mit der
schweren Waffe an Muskeln in ihrem Körper zerrten, die noch immer
schmerzhaft verspannt waren von ihrem nächtlichen Wettkampf gegen
Valerius. Dann erwärmten sich ihre Muskeln allmählich, sodass etwas
mehr Schwung in ihre Bewegungen kam. Und eine Zeit lang war einfach
kein Raum mehr für Zweifel oder die Schwerfälligkeit schmerzender
Gliedmaßen, sondern es kam einzig und allein darauf an, Einsatz zu
zeigen und zu kämpfen und am Leben zu bleiben und - mit etwas Glück
- den jungen Kriegern ein Beispiel zu geben, das nicht ganz so
schlecht war.
Von all den konzeptlosen Gefechten, die Breaca
bereits in ihrem Leben gekämpft hatte, war dies das chaotischste
und stümperhafteste. Am Ende ließ Breaca erschöpft ihr Schwert
sinken. An ihrer Klinge haftete Blut, allerdings stammte es von
einem Legionar, den sie lediglich noch mit einem raschen Schnitt
durch die Kehle getötet hatte, nachdem er bereits von einem anderen
Krieger niedergestreckt worden war.
»Das war zwar alles andere als ein glorreicher
Kampf, aber wenigstens haben wir niemanden verloren. Es hätte
durchaus schlimmer kommen können.«
Es war Dubornos, der von seinem Platz an ihrer
Schulter aus sprach.
Gemeinsam beobachteten er und Breaca, wie der junge
Bursche, Burannos, vorwärtsstürmte und zu dem Mädchen mit dem
rostroten Haar lief, um sie mitten auf dem Pfad der Ahnen zu
umarmen, als ob sie gerade eine letzte entscheidende Schlacht
ausgetragen hätten und nicht ein kleines, letztendlich
unbedeutendes Geplänkel, bei dem sie lediglich die Schwanzspitze
einer Schlange abgeschnitten hatten, deren Kopf jedoch immer noch
nichtsahnend wartete und sie alle kurzerhand und ohne zu überlegen
vernichten konnte.
»Wir müssen noch unendlich viel besser werden, ehe
wir es mit einer kompletten Legion aufnehmen können«, gab Breaca
zurück.
Mit einer müden Handbewegung wischte sie sich den
Schweiß vom Gesicht. Zu beiden Seiten des Steinernen Pfads der
Ahnen tobten noch immer ein Dutzend ähnlich unorganisierter Kämpfe,
während Kriegerinnen und Krieger aller Altersstufen Legionare
angriffen, die sich zu Kreisen formiert hatten oder in einer
geschlossenen Linie gegen den Feind vorrückten. Dann und wann
ragten Helme mit schwarzen und weißen Federbüschen über den
Gefechtslinien auf. Breaca sah auch einen in Rot, der noch höher
reichte als die anderen. Gleich darauf konnte sie beobachten, wie
genau dieser auch schon wieder herabfiel. Speere flogen in hohem
Bogen über das wogende Kampfgetümmel hinweg und verschwanden im
Moor.
Erschöpft ließ Breaca sich auf das Gras
niedersinken, dachte an Valerius und daran, was er wohl über den
eklatanten Mangel an Disziplin sagen würde, den die Krieger ihres
Kriegesheeres hier an den Tag legten. Sie dachte an Ardacos und
daran, dass die Bärinnenkrieger, die er zehn Jahre lang in dem
Krieg im Westen des Landes angeführt hatte, zu keiner Zeit jene aus
Rangordnung und Furcht erwachsene Disziplin gebraucht hatten,
sondern stets einfach nur dem Feuer und dem Herzen der Bärin
gefolgt waren, wobei Ardacos mehr ihr Führer im Geiste gewesen war
als in natura.
Sie dachte an die Kriegerinnen und Krieger von Mona
und an die Jahre, die es dauerte, um sie so sorgfältig zu schulen
und auszubilden, dass jeder Einzelne von ihnen in absolutem
Vertrauen auf seine eigenen Fähigkeiten und die seiner Mitstreiter
ins Feld zog. Dann beobachtete sie wieder die wankende Linie
unerprobter, ungeübter Krieger, die vor ihr auf dem Pfad kämpften,
und überlegte, was es brauchen würde, um auch sie so weit zu
bringen und zu ebensolch unübertroffenen Kämpfern zu machen. Sie
fühlte das Gewicht ihres Schwertes in ihrer Handfläche und die
seltsame Benommenheit und Starre, die seit dem Beginn der heutigen
Kämpfe in ihrem Herzen herrschte, und sie sehnte sich geradezu
danach, um den Verlust jenes intensiven, aufstachelnden Schmerzes
weinen zu können, der sie einst in die Schlacht getrieben hatte und
tief im Inneren von Unsterblichkeit und am Feuer erzählten
Geschichten sang.