XLV

Gunovar verkaufte ihr Leben zu einem hohen Preis und riss nicht nur ihren Mörder mit sich in den Tod, sondern auch dessen Kampfgefährten. Zudem stürzte sie im Sterben geradewegs nach vorn, sodass ihr Körper zumindest für einen flüchtigen Moment die auf Breaca zustürmenden Legionare ein wenig abbremste.
Doch Breaca hatte keine Zeit, nun um ihre Kämpferin zu trauern, sondern sprach nur hastig jene drei Worte, die die Träumerin sicher in die Obhut Brigas geleiten sollten; für mehr reichte Breacas Atem ohnehin nicht mehr aus. Zumal hinter den Leichen von Gunovars Mördern immer noch mehr Legionare auf sie zugestürzt kamen. Der zunächst nur dünne Strom von Römern hatte sich in eine wahre Flut verwandelt, und die Reiter von Mona konnten diese kaum mehr von ihrer Heeresführerin fernhalten.
Sie waren nur noch zu zweit, Breaca und Hawk, und sie waren umfangen von einem Halbmond aus Pferden und Kavalleristen, derweil von vorn immer mehr gut gerüstete Männer gegen sie vorrückten.
Zwischenzeitlich hatte Breaca einen leichteren Schild gefunden, und irgendjemand hatte ihr einen Wasserschlauch gereicht. Endlich konnte sie also wieder atmen, ohne das Gefühl zu haben, ihre Kehle stände in Flammen. Und wenngleich sie auch diesen neuen Schild noch immer nicht vernünftig stemmen konnte, so besaß sie doch wenigstens wieder genügend Kraft, um ihn schützend gegen ihren Körper zu pressen.
Nichtsdestotrotz war ihr baldiger Tod gewiss, ließ sich nicht mehr abwenden. Zumindest aber empfand sie eine gewisse grimmige Freude darüber, diesem nun wenigstens geradeheraus und mit vollem Bewusstsein begegnen zu dürfen, geborgen in der Gegenwart von Menschen, die sie liebte.
Breaca kämpfte so gut wie eh und je. Alles Leben, alle Fürsorge für Freunde und Familie schienen sich in der Klinge ihres Schwertes zu bündeln, in dem Abwehren des nächsten Schlags, in dem feinen Sprühregen von Blut und Schweiß. Das große Ganze, das Ziel hinter dieser Schlacht war für sie unterdessen vollkommen in Vergessenheit geraten, sie dachte einfach nicht mehr daran, wollte auch nicht mehr daran erinnert werden.
Schließlich war ihr sogar noch eine winzige Verschnaufpause vergönnt, als ihr unmittelbarer Gegner tot zu Boden sank und seine Kameraden noch nicht nachgerückt waren - der stetig anwachsende Berg von Leichen versperrte ihnen kurzzeitig den Weg. Noch immer stand Hawk ihr treu zur Seite, wie ein mitfühlender Schatten.
»Bereit?«, fragte Breaca, und Hawk schenkte ihr trotz aller Erschöpfung noch ein mattes Lächeln. Breaca setzte auf einen neuen Gegner an, trat mitten in die plötzlich aufklaffende Lücke in dem Meer von Legionaren, hieb nach ihrem Widersacher, und kaum dass sie den Mann auch nur mit ihrer Waffe berührt hatte, fiel dieser auch schon zu Boden, was trotz aller Inbrunst, die Breaca zweifellos in ihren Schlag gelegt hatte, doch ein wenig seltsam war. Dann tauchte plötzlich Valerius vor ihr auf, strahlend und wild und von geradezu heiligem Zorn erfüllt. Doch er ritt nicht mehr auf dem Krähenpferd, sondern auf einer rotbraunen Stute, jener Stute, die Breaca einst Graine geschenkt hatte und die Graine wiederum an Corvus weitergegeben hatte. Und auch dies verwunderte Breaca sehr, denn sie konnte
sich nicht erinnern, dass Corvus diese Stute zu irgendeinem späteren Zeitpunkt an Valerius weitergegeben hätte... Hastig flüsterte Breaca den Gruß an die jüngst Verstorbenen, denn all dies konnte letztlich nur eines bedeuten: Auch Corvus war gefallen, wenngleich sie ihn nicht mit eigenen Augen hatte sterben sehen.
Valerius hingegen schien auch mit diesem Pferd regelrecht zu verschmelzen, so wie er einst vollkommen eins gewesen war mit dem Hengst namens Krähe. Gemeinsam rissen die beiden unter den Legionaren ihre Beute. Schwer sanken die Toten zu Boden, wurden jedoch gleich darauf ersetzt von weiteren Männern, die die Ehre für sich in Anspruch nehmen wollten, Valerius und dessen Pferd niedergemetzelt zu haben, selbst wenn dies für die Legionare bedeutete, dass sie dabei auch selbst starben.
Trotz des Blutdursts dieser Kämpfer aber hatte Valerius’ Erscheinen für eine winzige Pause gesorgt, einen Augenblick, in dem Breaca noch ein, zwei hastige Gedanken fassen und erkennen konnte, dass es besser wäre, wenn auch ihr wieder ein Pferd zur Verfügung stände. Verzweifelt blickte sie sich um nach ihrem eigenen Tier, dem Hengst mit den weißen Fesseln, und musste feststellen, dass dieser nirgends zu entdecken war. Und selbst von der stetig zunehmenden Zahl herrenloser Pferde befand sich keines in Breacas unmittelbarer Nähe.
»Rauf mit dir.« Mit einem Mal war Valerius wieder da, thronte unmittelbar vor ihr auf dem Rücken seiner Stute. Er stank nach Pferdeschweiß und atmete keuchend. Rasch dirigierte er das Tier quer vor Breaca und langte hinab, um sie am Arm zu packen. »Schwing dich hinter mir in den Sattel. Jetzt. Hawk kann auf Cygfas Pferd mitreiten.«
Er war ihr Bruder. Und er war früher ein Offizier der Kavallerie Roms gewesen, ein Mann, der nicht unbedacht einfach irgendwelche Befehle hinausbrüllte und dessen Anweisungen folglich nur selten ignoriert wurden. Auch Breaca gehorchte ihm, ergriff seinen Arm am Ellenbogen und vollführte einen trotz aller Erschöpfung noch recht passablen Sprung auf den Rücken seines Pferdes.
Hinter ihnen, in den Reihen der Reservetruppen der Legionen, erklang aus gleich sechs Trompeten ein kurzes, mehrfach wiederholtes Signal.
»Nicht jetzt! Seid verdammt!«
Valerius ließ die Stute auf der Hinterhand kehrtmachen, und hastig schlang Breaca ihren gesunden Arm um seine Taille und klammerte sich daran fest. Er trieb das Tier die Rippelmarke hinauf, und für einen kurzen Moment verharrten er und Breaca mitten auf der schmalen Trennlinie, die die leichte Anhöhe einmal quer über das gesamte Schlachtfeld zog. Auf der östlichen Seite erblickten sie das Blutbad, in dem die nur schlecht ausgebildete Mehrheit des Kriegerheeres gegen die geschulte Kampfkunst der Vierzehnten Legion anfocht - und verlor. Entweder konnten die Krieger nicht an den Rand des Schlachtfelds flüchten, oder sie wollten es ganz einfach nicht mehr. In jedem Fall wurden sie gemeinsam mit ihren Kameraden zu immer engeren, kleineren Grüppchen zusammengedrängt, hatten nicht mehr genügend Platz, um mit ihren Waffen auszuholen oder um ihre Pferde als Bollwerke zwischen sich und die Legionare zu drängen, konnten noch nicht einmal mehr den Arm zurückreißen, um ihre Steinschleudern kreisen zu lassen.
Westlich der Rippelmarke herrschten Frieden und Ordnung. Reihen über Reihen von noch vollkommen unbefleckten Waffen warteten dort auf ihren Einsatz, gehalten von Männern, die schweigend und reglos schon den ganzen Tag über dort verharrt hatten, während sie zusehen mussten, wie ihre Brüder starben. Genau diese Männer waren ganz bewusst so lange vom Kampfgeschehen ferngehalten worden, bis der Zeitpunkt kam, da ihr Dazustoßen die entscheidende Wende zugunsten der Römer herbeiführen könnte.
Dieser Augenblick war nun gekommen. Das Schmettern der Trompeten versprach den Sieg, befahl ihn andererseits aber auch regelrecht. Breaca sah zu, wie eine Legionarsreihe nach der anderen sich geschmeidig aus dem Korps löste, die Schilde miteinander verschränkte, die Schwerter zog und ansetzte zu dem kurzen Marsch die Rippelmarke hinauf. Silbrig weiß glänzten ihre Rüstungen in der Nachmittagssonne, wie eine lange, leicht wogende Reihe aus Eisen, Bronze und unbeugsamer Entschlossenheit. Die Trompetensignale hießen die Truppen, sich in der Mitte zu teilen und sich zu zwei unaufhaltsam weitermarschierenden Flügeln zu formieren, um nun, wie vor ihnen auch schon andere, den gehörntem Mond zu symbolisieren, hinter sich die verheerende Macht der Reservetruppen herziehend.
Schon hatte Valerius die Stute weitergetrieben, ließ diese geradewegs über die Wallkrone sprinten. Es war ein kaum zu ermessendes Wagnis, sich nun derart zu exponieren. Erfolg und Überleben lagen wieder einmal allein in der Hand der Götter.
»Wir müssen die Krieger aus dem Weg bekommen«, rief Breaca Valerius über dessen Schulter hinweg ins Ohr. »Sie brauchen Platz, um sich wieder zu kampffähigen Gruppen zusammenschließen zu können.«
Valerius erwiderte irgendetwas, doch seine Worte verloren sich in dem plötzlichen Scheppern von Eisen, das auf Eisen prallte, als Cygfa und Hawk zu ihm aufschlossen und schließlich auch Longinus und Madb und Huw. Gemeinsam mit einigen Kriegern von Mona scharten sie sich für einen kurzen Augenblick um Valerius und Breaca, nur um kurz darauf auch schon weiterzugaloppieren, mit Macht durch die immer schwächer werdenden Reihen von Corvus’ Kavallerie zu preschen und schließlich, genauso, wie
Breaca es von ihnen verlangt hatte, bis ans äußerste Ende der Wagenburg zu galoppieren. Dort warteten bereits Graine, Airmid und Bellos und natürlich der griechische Arzt, der mittlerweile wohl zu dem Ergebnis gelangt sein musste, dass er sich in diesem Kampf offenbar der falschen Seite angeschlossen hatte.
 
Auf dem offenen Gelände nahe der Wagenburg kam ein schwarzer Hengst mit weißen Fesseln zum Stehen. An seiner Schulter trug er das Brandzeichen der Bataver. Das Tier sah sich kurz um, erkannte, dass hier kein Schlachtgetümmel tobte, und senkte schließlich den Kopf, um zu grasen.
Graine wartete darauf, dass noch irgendjemand außer ihr das Tier endlich entdecken möge. Da sich aber niemand für den Hengst zu interessieren schien, war sie es schließlich, die von dem Karren hinunterkletterte und auf das Tier zustrebte, wobei sie leise mit der Zunge schnalzte, so wie sie es auch schon von Valerius gehört hatte. Stone trottete derweil neugierig neben ihr her, doch glücklicherweise waren die Pferde der Bataver praktisch von Geburt an mit Hunden aufgewachsen und fürchteten diese nicht. Schwer ließ der alte Hund sich ins Gras fallen und blieb dann einfach auf der Seite liegen, um die Sonne zu genießen. Der schwarze Hengst beäugte sowohl das Mädchen als auch den Hund, entschied sich dann aber augenscheinlich dagegen zu fliehen.
Graines Handfläche war nass von salzigem Schweiß. Sie ließ das Tier den Schweiß ablecken und bot ihm anschließend auch noch ihre Ellenbeuge, die genauso nass geschwitzt war. Das Pferd fuhr mit der Zunge über ihre Haut, und vorsichtig griff Graine nach dessen Zaumzeug. Dann wurde sie regelrecht wagemutig und probierte, ob das Tier sich von ihr fortführen ließe. Einen Moment lang blieb der Hengst unschlüssig stehen, dann aber folgte er Graine zu jenem Platz hinter den Wagen hinüber, wo die Wasservorräte aufbewahrt wurden. Sie schöpfte ein wenig von dem Wasser in die gebogene Innenseite eines Schildes. Gierig nahm das Pferd die Gabe an, dann graste es weiter. Graine hielt derweil noch immer das Ende der Zügel gepackt und flüsterte unterdessen ein rasches Stoßgebet an die Ahnen und die Ältere Großmutter, auf dass Breaca endlich zu ihr hinüberschauen möge, um zu sehen, dass Graine ihren Hengst gefunden hatte.
Kurz darauf kam Airmid an Graine vorbeimarschiert, auch sie führte ein Pferd am Zügel. Es war der kastanienrote Hengst mit dem Brandzeichen der Eceni und Hawks persönlichem Symbol, dem Feuersalamander, sodass nun klar war, dass die Götter persönlich diese beiden Tiere ausgesandt hatten, um bei Graine und ihren Vertrauten zu sein. Die Ankunft der Pferde war also ein Zeichen, und dass sie gekommen waren, lag nicht etwa nur daran, dass sie das Wasser gerochen oder die Menschen auf den Wagen entdeckt hätten, Menschen, die sie kannten und denen sie vertrauten.
 
Cunomar rannte genau in dem Moment die Rippelmarke hinauf, als die ersten Reihen von Legionaren sich in Bewegung setzten.
Abrupt hielt er inne, hob die Hand und brüllte einen Namen. Nur wenige Augenblicke später tauchte Ardacos neben ihm auf. Cunomars Vater im Geiste war nie sonderlich weit von ihm entfernt.
»Wir könnten sie angreifen, noch ehe sie den Wall erklommen haben«, schlug Cunomar vor.
»Ja, und würden dabei umkommen, ohne dass wir sonderlich viel damit ausgerichtet hätten.« Ardacos ließ den Blick in nördliche Richtung über die Rippelmarke wandern, dorthin, wo die Bodicea von ihrem Pferd gestoßen worden
war, wo zurzeit die Reiter von Mona kämpften und wo nun, verblüffenderweise, abermals Breaca auf einem Pferd entlangritt, und zwar auf dem gleichen Pferd, auf dem auch ihr Bruder saß. Noch während Cunomar und Ardacos ihnen nachblickten, hatte das Pferd mit Valerius und Breaca auf dem Rücken die kleine Anhöhe auch schon bezwungen und galoppierte auf der anderen Seite wieder hinunter.
Damit war auch die Diskussion zwischen Ardacos und Cunomar beendet. Es gab feste Grundregeln unter den Bärinnenkriegern, über die ganz einfach nicht verhandelt wurde, und die wichtigste dieser Regeln war, dass noch vor allem anderen das Leben der Bodicea zu schützen sei sowie das Leben derer, die sie begleiteten. Dies war sogar noch wichtiger als die unmittelbaren Erfordernisse einer Schlacht.
Mit einem knappen Nicken gab Cunomar seine Antwort zu verstehen. Eine Antwort auf eine Frage, die genau genommen gar nicht gestellt worden war. Daraufhin hob Ardacos zwei Finger an die Lippen und stieß einen abrupt anschwellenden Ton aus, der am Ende sanft verhallte. Sein Pfiff war mindestens ebenso scharf wie die Trompetenstöße der Römer. Einen ganzen langen Winter über hatte Ardacos üben müssen, um genau solch einen Ton hinzubekommen, doch wie sich jetzt zeigte, hatte das Üben sich gelohnt. Denn schon lösten rund vierzig Bärinnenkrieger sich aus dem Kampfgetümmel, stürmten die Rippelmarke hinauf und schlossen sich sofort in einem engen Kreis um Ardacos herum. Die noch auf dem Schlachtfeld verbleibenden, einige Dutzend Bärinnenkrieger kämpften weiter, als ob nichts gewesen wäre.
Angeführt wurden diese von der Schlacht abkommandierten Krieger nun jedoch nicht von Ardacos, sondern von Cunomar. Ulla glitt so geschmeidig neben ihm her, als wäre sie nicht mehr als ein zarter Schatten. Ardacos und die älteren der Krieger bildeten derweil die Nachhut und schützten die Jüngeren damit vor möglichen Angriffen.
Leichtfüßig, ohne jegliche Rüstungen und mitten im Blickfeld der immer näher rückenden Legionare eilten sie auf die römische Seite der Rippelmarke hinab und dann quer über jenes Stück freien Geländes, wo die Toten noch nicht ganz so zahlreich lagen wie auf der gegenüberliegenden Seite. Schließlich schlichen sie sich in einem riesigen Bogen von hinten wieder an das Schlachtfeld heran und tauchten unmittelbar hinter der Bodicea und jenen, die sie angriffen, erneut auf. Hastig erklommen die Bärinnenkrieger den Wall.
Auf dem höchsten Punkt der Rippelmarke angekommen, hielt Cunomar jedoch zunächst einen kurzen Moment inne, wischte sich die Hände an seinem Umhang ab, schloss die Hand um sein Messer zur Faust und erhob seine heisere Stimme zu jenem Bärenheulen, das den Männern Roms ankündigen sollte, durch wessen Waffe sie nun sterben würden und dass Briga bereits darauf lauerte, sie zu entführen.
 
Eine glitzernde Woge von Legionaren überschwemmte die Rippelmarke und strömte geradewegs auf das Schlachtgetümmel zu. Der laute Schall von Trompeten trieb sie an, ließ sie, sobald sie den Wall überwunden hatten, in Strömen zu den Seiten hin ausscheren. Schließlich flankierten sie in etwa zwei gleich großen Gruppen ihre bereits eisern kämpfenden Kameraden.
In dieser Formation rückten die Legionare immer weiter vor, bis sie einen Kreis bildeten und sich um ihre Mitstreiter schlossen. Dann stürzten sich auch die Reservetruppen in den Kampf und töteten mit geradezu erschreckender Effizienz, zumal sie bestens ausgeruht waren, sich in vorzüglichem Trainingszustand befanden und sich zudem noch einmal mit ausreichend Wasser gestärkt hatten, ehe sie losmarschiert waren. Vor allem aber hatten sie etwa ihr halbes Leben allein damit zugebracht einzuüben, wie man seine Gegner am schnellsten niedermetzelte.
Noch immer hielt Graine den Hengst mit den weißen Fesseln am Zaumzeug und musste hilflos mit ansehen, wie Unmengen von unerfahrenen, schlecht ausgebildeten jungen Kriegern einfach niedergemäht wurden, als wären sie nicht mehr als ein paar Kornähren zur Erntezeit. Übelkeit drohte Graine zu überwältigen, und Stone stimmte ein verzweifeltes Winseln an, sodass sie ihre andere Hand fest in das Fell des Hundes graben musste, damit dieser nicht einfach losstürmte und sich in den Kampf stürzte.
»Sie kommen«, sprach Airmid. Es war das erste Mal, dass sie wieder etwas sagte, seit Breaca von ihrem Hengst gestürzt war. »Er bringt sie zu den Pferden.«
Abrupt löste Graine den Blick von dem Gemetzel und starrte stattdessen angestrengt zu dem geradezu brodelnden Getümmel von berittenen Kriegern und Kavalleristen hinüber, aus deren heillosem Durcheinander sich zwei Pferde mit jeweils zwei Reitern auf ihren Rücken lösten. Donnernd galoppierten sie über das Feld, umschlossen von einer Horde von Reitern von Mona.
Nachdrücklich erklärte Bellos: »Airmid, Breaca lebt.« Es war ihm deutlich anzumerken, dass Breacas Rückkehr aus der Schlacht keineswegs eine Selbstverständlichkeit gewesen war und womöglich auch noch immer nicht endgültig feststand.
»Aber auch Cunomar und Ardacos kommen über den Wall auf uns zu«, ergriff hastig Theophilus das Wort, und auch diese Aussage entsprach der Wahrheit.
Der Sohn und der Bruder der Bodicea kamen etwa zeitgleich in dem kleinen Lager hinter der Wagenburg an, und fast wären ihre Gefolgsleute sogar zusammengestoßen. Abrupt wichen sie dann wieder voreinander zurück und beäugten sich für einen kurzen Moment misstrauisch, ob ihr Gegenüber nicht gar ein Feind sein könnte.
»Es ist vorbei«, keuchte Valerius. »Wir müssen schleunigst von hier aufbrechen und verschwinden. Wir müssen das Signal zum Rückzug geben.« Trotz aller Dringlichkeit klang sein Urteil noch immer ein wenig nach einer Frage, ganz so, als wäre er sich nicht wirklich sicher, ob er das Recht besäße, in dem Heer der Bodicea eigene Befehle zu erteilen.
»Die Bärinnenkrieger folgen dir, wo immer du dich auch hinwenden magst«, stimmte Cunomar ihm zu. Und auch Breaca erklärte: »Der Schlachtplan war deiner. Also bestimmst du auch über den Rückzug. Tu, was du für richtig hältst.«
Dankbar nickte Valerius den beiden zu, und schon sprudelten die Befehle aus ihm hervor: »Hawk, Breaca, auf die Pferde! Cunomar, Ardacos, holt so viele von den Bärinnenkriegern zurück, wie ihr nur irgend erreichen könnt. Madb, Cygfa, treibt die berittenen Krieger zusammen. Wir brauchen eine Nachhut, um die Flüchtenden zu schützen. Huw - nimm dein Horn und blas zum Rückzug!«
Breacas Tochter ging zu ihrer Mutter und überreichte ihr die Zügel des Hengstes, damit diese endlich wieder auf ihrem eigenen Pferd reiten könne. Dabei musste Graine sich dicht an Huw vorbeischlängeln - und sah entsetzt, welch unermesslichen Schmerz Valerius’ Befehl auf Huws vernarbtes Gesicht gezeichnet hatte. Hätte sie einen anderen Weg gewählt, um das Pferd zu ihrer Mutter zu führen, hätte sie Huws Gesichtsausdruck wohl gar nicht wahrgenommen. Nun aber sah sie ihn und begriff damit schlagartig die gesamte Tragweite der Niederlage.
Es war erst weniger als einen Tag her, dass Huw die Verantwortung für das Horn von Mona übertragen worden war. Rund eintausend Jahre lang war dieses Horn allein dazu verwendet worden, um zum Angriff zu blasen. Nun jedoch und auf Valerius’ beharrliches Drängen hin würde das Horn jenes eine Signal ertönen lassen, das jeder Krieger, jede Kriegerin sofort erkennen würde und dem sie, gebunden durch ihren Eid, umgehend zu gehorchen hätten: Es war das Zeichen, sich sofort aus den Kämpfen zu lösen und zu fliehen, egal, ob allein, zu zweit oder in Gruppen. Sie sollten sich einfach nur noch aus dem Kampfgetümmel zurückziehen und sich so weit wie möglich zerstreuen, um Platz zu schaffen zwischen sich und den Römern, auf dass deren militärische Schlagkraft, die zum Großteil von ihrem engen Kampfverbund herrührte, endlich versiegte.
Huw hob das Horn an die Lippen. Und zögerte. Noch niemals war das Horn zu einem solchen Zweck verwendet worden.
»Jetzt mach schon!«, herrschte Valerius ihn an, wild wie ein zorniger Hund. »Wir haben verloren. Und wenn wir jetzt noch mehr Zeit vergeuden und Paulinus schließlich auch noch Henghes batavische Kavallerie ausschickt, bleibt am Ende kein Einziger von uns mehr am Leben - dann wird niemand noch jemals eine Waffe gegen die Römer erheben.«
Hastig befeuchte Huw seine Lippen und stieß in das Horn.
Das Lied des Horns war das Lied des Hasen, nur unendlich viel lauter, so laut wie der Schrei eines Bullen. Zweimal drei Hornstöße hallten stark und hell wie Silber über das Schlachtfeld hinweg. Legionare und Krieger gleichermaßen hielten für einen Moment in ihrem Blutvergießen inne; die eine Seite, weil dies ein Signal war, das sie nicht kannte, die andere Seite, weil ihnen dieser Klang zwar wohlvertraut war, sie aber niemals in ihrem Leben damit gerechnet hätten, ihn zu hören, und somit überhaupt nicht darauf vorbereitet waren, diesem Befehl nun Folge zu leisten.
Zumal sie auch nicht die leiseste Übung in der Kunst des Rückzugs besaßen. Graine sah, wie Männer und Frauen starben, bloß weil sie nicht wussten, wie man sicheren Fußes ein Schlachtfeld verließ. Die noch überlebenden Bärinnenkrieger von Cunomars Truppe bemühten sich unterdessen, am entgegengesetzten Ende des Feldes für die aus dem Gemetzel fliehenden Krieger eine Art lebendige Schutzmauer zu bilden. Anderenorts schichteten jene der Krieger, die weniger Erfahrung in der Errichtung derartiger Schranken hatten, einen Wall aus Leichen auf, der jedoch in etwa denselben Effekt hatte wie das lebendige Vorbild.
In heillosem Chaos und erfüllt von schier unerträglichem Schmerz gehorchte das Kriegsheer der Bodicea nun dem Signal und zog sich aus dem Kampf zurück. Doch selbst das Rückzugsmanöver kostete noch Unmengen von Leben.
Erregt tänzelte der schwarze Hengst mit den weißen Fesseln auf der Stelle, erholt genug, um sich abermals in die Schlacht zu stürzen. Für einen winzigen Moment sah Graine aus Valerius’ Augen dessen Seele hervorblitzen, eine Seele, die durch und durch ein Eceni war und nur für ihr Volk zu leben schien, so lebendig und vollkommen wie die Liebe eines Pferdes zu seinem Reiter. Dann legte sich ein Schleier über diese Seele, und Valerius war wieder ein halber Römer und gab mit barscher Stimme Befehle aus, als ob all jene, die sich um ihn herumgruppiert hatten, seine Kavalleristen wären und er ihr Offizier.
»Auf die Pferde. Alle. Jetzt.« Sie nahmen gerade in den Sätteln Platz, als Corvus’ Kavallerie auch schon durch die Reihen der Reiter von Mona stürmte. Es waren allesamt große, kräftige Männer, durchtrainiert und zornig und angeführt von einem schwarzhaarigen Wilden mit einem stinkenden Wolfsfell um die Schultern, der seinen Hass wohl mindestens ebenso laut herausbrüllte wie sonst nur die Bärinnenkrieger. Zudem hatte
dieser Kerl es augenscheinlich ganz besonders auf Valerius abgesehen und hieb nach ihm und hätte ihn wohl auch getötet, wenn nicht Longinus bereits an dessen Seite gelauert hätte und den Schwertschlag parierte. Nach diesem ersten Hieb sah Graine bloß noch Gemetzel, und nichts von alledem schien noch einen Sinn zu ergeben.
 
»Schafft Graine hier raus!« Gellend schallte eine Männerstimme über das neuerliche Blutbad hinweg - Valerius’ Stimme.
Cunomar hieb sein Messer in ein vorbeieilendes Pferd, sah, wie es zu Boden stürzte, wandte sich sofort wieder um und rannte auf Valerius’ Befehl hin zu seiner Schwester. Hawk war bereits bei ihr, Cunomars neu hinzugewonnener, durch nicht mehr als einen simplen Eid in die Familie eingegliederter Bruder. Er stand neben einem auffälligen grauen Stutenfohlen mit einem Brandzeichen an der Schulter, welches besagte, dass das Tier bereits drei Rennen gewonnen hatte. Hawk hatte die Hände zu einer Art Räuberleiter verschränkt und wartete darauf, Graine endlich auf das Tier heben zu können.
»Graine. Rauf mit dir.« Er klang wie Valerius, gab einfach nur irgendwelche hastigen Befehle, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, dass Graine nun einmal höllische Angst hatte vor so schnellen Pferden wie diesem Stutenfohlen.
»Graine, du musst dieses Pferd hier nehmen«, redete auch Cunomar auf sie ein. »Dein Pony ist einfach nicht schnell genug. Bitte. Wir helfen dir.«
Graine starrte ihn an. Dann verzog sie das Gesicht zu einem Ausdruck blanken Entsetzens, öffnete den Mund und schrie aus Leibeskräften. Doch sie schrie nicht etwa Cunomar an sondern ihren gemeinsamen Bruder.
»Hawk!«
Allein diesem Schrei war es zu verdanken, dass die Klinge sowohl Hawk als auch Cunomar verfehlte und nutzlos an beiden vorbeisauste. Blitzschnell ließ Hawk sich über den Boden rollen. Unmittelbar darauf sprang er wieder auf, zwar ohne seinen Schild, aber immerhin mit dem Bärinnenschwert in den Händen: Wütend schwang er Eburovics zweischneidiges Schwert durch die Luft, das Heft fest mit beiden Händen gepackt, genauso also, wie diese Waffe traditionell geschwungen wurde.
Der Wilde mit dem ranzigen Wolfspelz ließ seinen schwarzen Hengst auf der Hinterhand herumwirbeln, hielt abermals geradewegs auf die kleine Gruppe um Graine zu und stieß dabei wieder jenes klagende, an die Bärinnenkrieger erinnernde Heulen aus. »Kümmere dich um Graine!«, brüllte Hawk gerade noch, dann trat er dem Kavalleristen auch schon entgegen.
Für Cunomar war es lediglich eine Sache von wenigen Augenblicken, Graine auf deren Pferd zu setzen. Zumal das graue Stutenfohlen nicht nur ein Rennpferd war, sondern auch bereits für die Schlacht abgerichtet und das Tier somit trotz des Chaos und des wilden Gemetzels in seiner unmittelbaren Umgebung so still stehen blieb, als sei es aus Stein gemeißelt.
»Geh zu ihm«, flüsterte Graine in wahrer Todesangst. »Er braucht dich.«
Der Mann mit dem Wolfspelz kämpfte hervorragend, und zu einem anderen Zeitpunkt hätte Cunomar ihn wahrscheinlich bewundert, denn dieser Mann benutzte sein Pferd wie eine Waffe. Nur sehr wenige im Stamme der Eceni verstanden es, ihr Pferd derart einzusetzen. Es war offensichtlich, dass Hawk nun keine Ahnung hatte, wie er sich diesem Pferd widersetzen sollte. Allein die Bärinnenkrieger waren darauf trainiert, auch ein solches Schlachtross töten zu können; Cunomars neu hinzugewonnener Bruder hingegen hatte die Kampfkunst der Bärinnenkrieger bestenfalls ansatzweise begriffen.
Dennoch bewies er in diesem Augenblick ein wahrhaft erstaunliches Geschick. Er hatte sich einfach geradewegs vor dem auf ihn zustürmenden Tier aufgebaut und fuchtelte nun so blitzschnell mit dem großen, breiten Kampfschwert herum, als ob er regelrecht dazu geboren worden wäre, diese Waffe zu führen. Sein Haar trug er zu einem Kriegerzopf geflochten, und an seiner linken Schläfe flatterten einige schweißnasse Kriegerfedern. Er war ein Eceni durch und durch und kämpfte mit einer Anmut, die selbst den Sängern noch die Tränen in die Augen treiben würde, wenn sie im Winter vor den Feuerstellen der Eceni von Hawks Kampfkraft tönten - das heißt, sofern es im nächsten Winter überhaupt noch Menschen aus dem Volk der Eceni gab.
Allein Cunomar sah dabei zu, wie sein Bruder im Geiste den schwarzen Hengst attackierte, ihn zum Umschwenken zwang, nach dessen Kopf ausholte, blitzschnell die Klinge herumwirbeln ließ, sie gleich darauf abermals emporriss und damit über den Rücken des Reiters fuhr, obgleich dieser das Pferd schon wieder hatte wenden lassen und zu einem zweiten Angriff auf Hawk ansetzte. Jede Bewegung von Hawk war nahezu makellos in ihrer Geschmeidigkeit und Wirkung, war so perfekt, dass Cunomar schon glaubte, nur er könne dieses Schauspiel durchschauen und erkennen, dass Hawk in Wahrheit bereits am Ende seiner Kräfte war. Und doch änderte dies leider nichts daran, dass Hawk tatsächlich bereits restlos erschöpft war und jeder seiner kontrollierten Schwerthiebe ihn seinem Ende nur noch näher brachte, einem Ende, das ihn in der Gestalt eines stinkenden, wolfspelzigen Wilden ereilen sollte. Eines Wilden, der überhaupt keine Ahnung davon hatte, was für einen makellos reinen Menschen er mit Hawks Tod aus dem Leben entließ.
All dies war Cunomar bereits vom ersten Augenblick an klar gewesen, und dennoch kam das Ende rascher, als er erwartet hätte. Der schwarze Hengst konnte auf einer einzigen Hinterhand kehrtmachen, ohne dabei an Tempo zu verlieren, sodass sein Reiter das Pferd in einem knappen Bogen einmal geradewegs um Hawk herumwirbeln ließ, während er den Schlagrhythmus des beidhändig gehaltenen, in Doppelschwüngen wirbelnden Schwertes bereits verinnerlicht hatte. Unter dem ersten, weit ausholenden Hieb duckte er sich geschickt hindurch und schlug dann mit seinem eigenen Schwert von hinten mitten in die Bahn von Eburovics Klinge. Schließlich drehte er ruckartig das Handgelenk ein wenig nach innen, auf dass seine Klinge sich in jener winzigen Kerbe an Hawks Waffe verfing, die ein Vorfahr von Cunomar einst in diese hineingehauen hatte, als er das zweischneidige Schwert bei einer Grenzstreitigkeit mit einer einzigen Hand gegen einen weißhaarigen Krieger aus dem Stamme der Coritani geschwungen hatte.
Cunomar hatte nie erfahren, wer diese uralte, schon vor Generationen ausgetragene Auseinandersetzung eigentlich gewonnen hatte. Nun jedoch sollte genau dieser winzige Makel an der Klinge Hawk das Leben kosten - zumindest schien es so. Wie ein Lachs zur Laichzeit, so sprang auch das Schwert nun in hohem Bogen geradewegs aus Hawks Händen. Seine Flugbahn glich einer sich in den Himmel schraubenden Spirale, ehe es genau drei Schritte von Hawk entfernt zu Boden fiel.
Drei Schritte. Und dabei hätte es auch ebenso gut drei Tagesritte weit entfernt sein können.
Ohne geeignete Waffe stand Hawk nun vor dem wolfspelzigen Reiter und blickte ihm ruhig lächelnd in die Augen, genauso, wie ein echter Krieger eben seinem Tode entgegentrat. Dann zog er sein Messer, was eine wahrhaft mutige Geste war und mindestens ebenso sinnlos, denn selbst ein Bärinnenkrieger hätte in einer solchen Situation nur schwerlich noch einen Sieg errungen.
Schließlich schenkte Hawk auch Cunomar noch ein rasches Lächeln und sprach: »Anstelle von mir musst nun du auf Graine aufpassen!« Damit schritt er auf das Pferd zu, marschierte seinem eigenen Ende entgegen.
Drei Schritte. Das Schwert lag in Cunomars Reichweite. Fast schon hatte er es aufgenommen, hatte beinahe schon dem Drängen der Klinge nachgegeben, um es Hawk zurückzugeben, damit dieser wenigstens mit der Klinge der Ahnen in seinen Händen und mit seinem Bruder an seiner Seite sterben könnte.
Doch der Schatten Eburovics ließ Cunomar innehalten. Schwer wie die lebendige Erde und unüberwindbar wie der Himmel und der schwitzende, keuchende Hengst und der schwarzbärtige Mann, der diesen ritt, stand Eburovic unmittelbar vor Cunomar. So dicht, dass Cunomar sogar jede der kleinen Falten und Linien in dessen Zügen erkannte, dass er in die braunen Augen seines Ahns blickte, dessen Liebe für seinen Enkel erspürte ebenso wie die ewige Kälte, die dessen Geist umschloss, und abermals jene Worte hörte, die sich noch vor Cunomars Rückkehr in sein Heimatland bereits fest in dessen Seele eingeprägt hatten: Sollte mein Enkel jemals diese Waffe führen, dann seid gewiss, dass das
den Tod aller Eceni zur Folge haben wird. Schließlich folgte auf diese Worte noch eine neue Botschaft: Ist das Leben eines einzelnen Mannes, selbst wenn dieser dein Bruder ist, wirklich einen derartigen Verlust wert? Die Bärin ist sowohl deine Göttin als auch mein Traumsymbol. In ihrem Namen bitte ich dich nun, es nicht zu tun.
Damit gab es nun tatsächlich nichts mehr, was Cunomar für Hawk noch hätte tun können. Mit seinem Eid hatte Cunomar sich der Bärin verschworen, hatte in der Höhle der Kaledonier seine Seele in ihre Obhut übergeben und war somit eine lebenslange Einheit mit ihr eingegangen. Und es gab nichts und niemanden, der diesen Bund wieder hätte lösen können.
Cunomar war gefangen in der Bewahrheitung seines ganz persönlichen Albtraums. Nur, dass nicht er es war, der attackiert wurde, sondern Hawk, und dass der Angreifer nicht etwa eine Bärin war, sondern ein Wolfsmann. Andererseits aber konnte Cunomar sich noch immer in den Kampf mit einbringen, schließlich hatte er ja noch sein Messer und seinen Mut, und sein Bruder brauchte ihn nun zweifellos mehr denn jemals zuvor, sodass Cunomar sich schließlich hastig umwandte, bereit, seinem Bruder zu helfen - und feststellte, dass er zu spät reagierte und der Albtraum bereits seine Vollendung erfahren hatte.
 
»Hawk!«
Nicht eine einzige Menschenseele hörte Graines Schrei. Der Gefechtslärm war einfach zu überwältigend. Sie sah, wie das Schwert ihres Bruders ihm in hohem Bogen aus den Händen segelte und eine Furche in den Boden hieb, weniger als eine Speerlänge von dem Hinterteil ihres Pferdes entfernt. Schon einmal hatte ein Mann, Dubornos, sich ihr mit seinem Leben verschworen, und dennoch hatte Graine ihn wieder aus seinem Schwur entlassen, weil sie ganz einfach gewusst hatte, dass er sterben wollte. Hawk dagegen hatte sich ihr bereits verschworen, noch ehe auch nur irgendein anderer diesem Vorbild gefolgt wäre, und auch sie hatte sich ihm verschworen, und darüber hinaus hatte Hawk eindeutig nicht die leiseste Absicht, bereits aus dem Leben entschwinden zu wollen - das hatte er den Stammesältesten der Hirschkrieger in der Nacht des gehörnten Mondes klar und deutlich zu verstehen gegeben.
Noch immer stand das graue Stutenfohlen so reglos da, als wäre es aus Stein. Graine glitt zu Boden und stürmte auf das Schwert zu, so wie auch Cunomar darauf zusprang. Und wahrscheinlich hätte er das Schwert vor ihr erreicht, doch dann blieb er plötzlich stehen, während Graine weiterrannte. Der feine Faden, der sie zu der Waffe hinzog, war der gleiche Faden, der sie auch mit der Häsin verbunden hatte, nur dass das zarte Gebilde nun noch heller strahlte, schließlich befanden sie sich mitten in einer Schlacht, einem Zustand, in dem alles, was war, plötzlich noch sehr viel klarer wurde. Energisch hob Graine das Schwert auf, und endlich hörte auch sie das Lied der Klinge.
Das Heft sprengte beinahe ihre kleinen Fäuste, und die Klinge hatte ihre ganz eigene Balance, ein ihr innewohnendes Gleichgewicht, das den Übungsschwertern von Mona gänzlich gefehlt hatte. Doch auch die säugende Bärin auf dem Knauf besaß ihren ganz eigenen, ebenfalls perfekt austarierten Schwerpunkt, bildete praktisch das Gegengewicht zu der Klinge. Merkbar sank die Bärin in Graines Händen nach unten, sodass die lange, bläulich schimmernde Eisenschneide, welche die Klinge war, sich wie mühelos in die Luft erhob. Alles, was Graine nun noch zu tun hatte, war, mit den Händen den Balancepunkt zwischen der Bärin und der Klinge zu bilden.
Die Leichtigkeit, mit der dies alles plötzlich funktionierte, war Breacas Tochter geradezu unheimlich, sodass sie voller Verwunderung auf die Klinge starrte und auf die alten Kerben, die die Ahnen dieser zugefügt hatten. Dann ließ sie den Blick weiterwandern zu jenen neueren Macken, welche Hawk in seinem verzweifelten Bemühen …
»Graine!« Irgendwo jenseits der Schwertspitze schrie jemand gellend ihren Namen. Graine hob den Kopf und erinnerte sich plötzlich wieder daran, dass sie sich schließlich gerade mitten in einer Schlacht befand. Grinsend kam der Mann mit dem Wolfspelz auf sie zugaloppiert, neben sich einen Kameraden.
Graine hörte, wie der pelzgeschmückte Mann tönte: »Flavius! Die hier gehört mir! Ihr Leben für das von Corvus!« Die Erde erbebte geradezu unter dem donnernden Hämmern der Pferdehufe, klagend riefen die Schwerter der Römer nach Graines Leben, und aus einer Richtung, die Graine nicht genau ausmachen konnte, sprach die Ältere Großmutter: Nun ist die Zeit, dich zu entscheiden. Was ist wichtiger - die Reihe deiner Nachfahren oder dein Land? Nur leider ergab diese Botschaft aus dem Reich hinter dem Leben im Augenblick so gar keinen Sinn. Nicht jetzt, da sie gerade mit ansehen musste, wie Cunomar mit einem riesigen Sprung auf den Mann namens Flavius ansetzte, sein Bärinnenmesser bereits gezogen, und wie gleich neben Cunomar auch Hawk sich auf diesen Kerl stürzte und es fast schon so aussah, als könnten sie ihn mit vereinten Kräften tatsächlich niederstrecken. Nur dass damit immer noch der mit dem Wolfspelz übrig bliebe, ein Legionar, der sich bereits als ein wahrhaft talentierter Kämpfer bewiesen hatte und der nun grinsend und mit weit ausholendem Schwertarm auf Graine zugestürmt kam.
Sie schmeckte bereits ihren eigenen Tod, bemühte sich angestrengt, alle Furcht zu verbannen, und schaffte es doch nicht.
Plötzlich aber war ihre Mutter neben ihr, trieb voller Zorn den schwarzen Hengst mit den weißen Fesseln vorwärts, neben sich Stone - endlich hatte dieser wieder jenen Platz eingenommen, der ihm am liebsten war.
Lächelnd blickte die Ältere Großmutter auf Graine hinab und flüsterte: Gut! Und die Welt war wieder in Ordnung.
 
Dicht neben sich spürte Breaca ihren Vater.
Er war bei ihr gewesen seit jenem Augenblick, da sie von Valerius’ Pferd geglitten war. Und er war nicht allein. Auch die Großmutter war da und die Träumerin der Ahnen und der Sonnenhund sowie die gesamte Linie von dessen Vorfahren. Sie alle hatten sich um Breaca versammelt, jene Seelen, die auch ihre, Breacas, Ahnen waren. Für eine kurze Zeit waren sie zurückgekehrt in jene Welt, in der die Kinder ihrer Kinder lebten und starben. Breaca horchte nach dem tiefen, kehligen Laut von Brigas Krähe, stellte dann aber beruhigt fest, dass diese Breacas Namen keineswegs lauter rief als auch die Namen sämtlicher anderer Toten.
Hawk kämpfte mit wahrhaft bewundernswertem Geschick. Selbst als ihm das Schwert schließlich entglitt, wusste Breaca doch, dass sie soeben etwas ganz und gar Außergewöhnliches hatte beobachten dürfen und dass auch andere seinen letzten Kampf mit angesehen hatten, genügend, um die Erinnerung an diese heldenhafte Leistung auch nach seinem Tod aufrechtzuerhalten. Als die Waffe aus seinen Händen sprang, begann Breaca, das Klagelied der Göttin Briga zu flüstern, hielt dann abrupt aber doch wieder inne, als sie sah, wie Cunomar auf Hawks Schwert zutrat. Schließlich hörte sie abermals die Stimme ihres Vaters, so klar und deutlich wie schon beim ersten Mal, als er zu ihr gesprochen hatte: Sollte mein Enkel jemals diese Waffe führen, dann sei gewiss, dass das den Tod aller Eceni zur Folge haben wird. Ich vertraue darauf, dass du Sorge dafür tragen wirst, dass das nicht geschieht.
Und auch Cunomar hörte die Stimme ihres Vaters. Breaca sah, wie er innehielt, die Hände vors Gesicht schlug, sich abwandte von dem Schwert und stattdessen sein Messer zog. Die Erleichterung raubte ihr schier sämtliche Kraft, ließ sie alle Voraussicht verlieren, sodass es bereits zu spät war, als sie das Geschehen schließlich in all seinen Nuancen erkannte und schrie: »Graine! Nein!«
Ich vertraue darauf, dass du Sorge dafür tragen wirst, dass das nicht geschieht.
Zu spät, viel zu spät. Das Gefüge der gesamten Welt hing an der Spitze einer einzigen Klinge und stürzte soeben in die endgültige Vernichtung. Graine, zierlich, schmal und zerbrechlich und so leicht als die zu erkennen, die sie nun einmal war, so wie man auch ihre Mutter auf den ersten Blick als die Bodicea erkannte, war auf das Schlachtfeld getreten und würde dafür mit ihrem Leben bezahlen. Wie aus weiter Entfernung hörte Breaca, wie Venutios abermals seine Frage stellte. Wenn du dich entscheiden müsstest, was wäre dir dann wichtiger: die Reihe deiner Nachfahren oder dein Land?
Breaca hatte nicht die blasseste Ahnung, ob nun jener Moment der Entscheidung gekommen war. Sie wusste nur, dass Graine noch nicht zwangsläufig würde sterben müssen. Denn zwischen den heranpreschenden Kavalleristen und jenem jungen Mädchen, in dessen strahlendem Lächeln alle Hoffnungen dieser Welt schwebten, lag immerhin noch eine Distanz von etwa einem knappen Speerwurf.
Gleich zwei Männer stürmten nun parallel zueinander auf Graine zu, wollten beide den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, die Tochter der Bodicea getötet zu haben. Breacas beide Söhne stürzten sich auf jenen minimal weiter vorn liegenden Mann namens Flavius und töteten ihn, sodass die Götter den anderen, den wolfspelzgeschmückten Wilden, Breaca zum Geschenk machten. Sie trieb den schwarzen Hengst mit den weißen Fesseln zu einem riesigen Sprung an, mit dem sie bereits die halbe Distanz zwischen Graine und dem Angreifer durchmaß und geradewegs neben dem Römer landete. Von der anderen Seite kam Stone auf den Wilden zugestürmt, rannte fast so schnell wie in seiner Jugend. Breacas Herz tat einen glücklichen Hüpfer, ihren geliebten Hund wieder so lebendig zu sehen.
Dennoch drehte der Wolfsmann nicht ab. Er sah die Frau, sah das Pferd, sah den Hund und glaubte offenbar, dass keiner von allen dreien auch nur die geringste Gefahr für ihn darstelle. Seine Schwertspitze hatte Graine fast schon erreicht.
Und er hatte recht: Breaca war zu weit von ihm entfernt, als dass sie ihn allein mit ihrem Pferd noch hätte abdrängen können. Allerdings gab es da noch einen letzten Trick, den einst - es schien Äonen her zu sein - ihr Vater ihr beigebracht hatte. Damals, als man an den Feuern noch immer die Namen der Helden sang und die Taktik lobpries, mit der diese ihren eigenen Tod für das Leben eines anderen Menschen eingetauscht hatten. Aber niemals zuvor hatte Breaca diese Taktik selbst erprobt. Sogar in den Scheinkämpfen, die sie als Kinder gegeneinander ausgetragen hatten, war ihnen das Risiko eines solchen Angriffs stets zu groß gewesen. Nun aber ließ Breaca die einzelnen Schritte dieses Vorhabens im Geiste noch einmal Revue passieren, und das Gefüge, das diese schließlich ergaben, war perfekt.
Ihr blieb weniger als eine Pferdelänge, um sich im Geiste auf das nun Folgende vorzubereiten.
Dann sprang sie dem entgegenkommenden Pferd mitten auf den Hals, wurde von ihrem eigenen Gewicht herumgeschleudert und nach unten gezogen und schnitt unterdessen mit ihrer Klinge einmal quer durch die Kehle des Tieres, ganz so, wie auch die Bären töteten. All dies in der Hoffnung, dass das Pferd daraufhin ins Taumeln geriete, stürzen möge und Breaca jenes erlösende Krachen hören dürfte, wenn der Hals des Pferdes brach, gefolgt von dem schier alles übertönenden Lärm, wenn der mit einem Eisenpanzer bewehrte Körper des Reiters mit einer Geschwindigkeit zu Boden schlug, die ganz einfach tödlich sein musste. Doch Breaca hatte noch nicht einmal den Gedanken der Hoffnung vollends in ihrem Bewusstsein aufkeimen lassen können, als sie auch schon spürte, wie eine Schwertklinge ihr voller Inbrunst etwas unterhalb der verletzten Schulter in den Leib gerammt wurde. Aber genau das war nun einmal das Risiko bei einem solchen Sprung: Sämtliche Helden, die dieses Wagnis auf sich genommen hatten, waren letztlich dabei gestorben. Genau deswegen waren sie ja Helden.
Breaca hörte Graine, hörte Valerius, hörte ihren Vater. Sie alle riefen ihren Namen. Irgendwo ganz in der Nähe stimmte Stone sein klagendes Geheul an, gemeinsam mit Hail.
Die Welt um sie herum wurde schwarz.
Die Kriegerin der Kelten
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