II

Am zwölften Tage nach Ausbruch des Fiebers verließ die innere Glut Breacas Körper wieder.
Sie erwachte in der Stille einer leeren Hütte und mit dem vagen Geruch von Rauch in ihren Nasenflügeln. Wie tot lagen die Überreste des Feuers in der Herdstelle, und der Schweiß, der sich auf den Pferdefellen unter Breaca gesammelt hatte, war kalt.
Ihr Gesicht war zerknittert und von einem Muster tiefer Falten durchzogen. Sie bewegte sich zaghaft, hielt dann aber sofort wieder inne und konzentrierte sich allein aufs Atmen, denn zu mehr war sie nicht mehr fähig, als, ausgelöst durch die ungewohnte Regung ihrer Glieder, erneut der Schmerz über sie hereinbrach: Gewaltig, mächtig wie ein Berg und mit donnernder Kraft schlugen die peinigenden Wogen über ihr zusammen und zertrümmerten jegliche andere Wahrnehmung.
Im Hinblick auf die Schmerzen war das Fieber geradezu ein Geschenk gewesen. Und das war Breaca selbst in jenen langen Stunden bewusst gewesen, als es am schlimmsten wütete. Sie versuchte nun also, abermals in die barmherzige Bewusstlosigkeit hinabzutauchen, und vermochte es doch nicht. Die reale Welt war viel zu klar und drängte sich zu stark in Breacas Bewusstsein, sodass ihr Körper ihren Geist nicht mehr entweichen lassen konnte in die Welt des Traums.
Es dauerte nicht lange, und schon drangen noch intensivere Eindrücke auf sie ein.
Ihre Füße waren kalt. Das war das Erste. Und die Innenflächen ihrer Hände wiederum waren viel zu heiß. Breaca war bedeckt von einem groben Wollgewebe, und auf die am übelsten zugerichteten Stellen auf ihrem Rücken war Salbe gestrichen worden. Durch die getrockneten Überreste von Ampferblättern und zu feinem Puder zerstoßenem Lehm spürte sie das zarte Kitzeln der Wolldecke. Ihr Haar klebte ihr nicht mehr am Gesicht, so wie Breaca es das letzte Mal gespürt hatte, als sie vage aus der Traumwelt hinaufgespäht hatte in die Wirklichkeit. Stattdessen hatte ihr jemand das Haar mit großer Fürsorglichkeit aus der Stirn zurückgekämmt und es an ihrem Hinterkopf zusammengeflochten, sodass sie nun einen leichten Zug an ihren Schläfen und am Oberkopf spürte. Das musste Airmid getan haben, denn noch immer war in dem Flechtmuster des Zopfes die Liebe zu erahnen, die in ihren Berührungen gelegen hatte.
Breaca konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie man ihr die lindernde Paste aufgetragen hatte oder die grobe Decke über sie breitete, und sie wusste auch nicht, wann genau Airmid ihr das Haar geflochten hatte. Ihr gesamtes Erinnerungsvermögen begann und endete in einem einzigen Punkt: Graine. Graine und der Klang ihrer Schreie und die fast noch grausamere Stille, als Breacas Tochter plötzlich verstummt war.
Die Wunden deiner Tochter sind nicht dein Verschulden, ihre Ursache liegt nicht in deinem Versagen.
Das hatte die Göttin zu ihr gesagt. Doch niemand konnte Breaca zwingen, den Worten der Göttin Glauben zu schenken.
Dann, als sie sich das dritte oder vielleicht auch das vierte Mal die plötzliche Stille in Erinnerung rief, die auf die gellenden Schreie ihrer Tochter gefolgt war, ließ das Entsetzen schließlich ein wenig nach. Nun endlich nahm Breaca wahr, dass auch das metallische Klingen des Ambosses nicht mehr zu hören war und dass sie sich nun schon das zweite Mal ein wenig bewegt hatte und trotzdem noch keiner gekommen war, sich über sie gebeugt und ihr einen Becher Wasser angeboten hatte oder gar gefragt hätte, ob sie Hilfe beim Trinken bräuchte.
Verwirrt bemühte Breaca sich nun erstmals seit mehreren Tagen, ihre Wahrnehmung über die unmittelbaren Grenzen ihres Körpers hinaus auszudehnen. Ein Hauch von Salbeirauch schwebte in der Luft, doch der Geruch war alt, und die scharfe Note, die diesem Duft sonst anhaftete, war verblichen. Die Holzscheite in der Feuerstelle schwelten nur noch schwach, und sie waren bedeckt von einer dicken Schicht weißer Asche. Niemand saß in der Hütte, den Rücken gegen die Wand gelehnt und bereit, kleine Haufen von Apfelholz und Kiefernspänen auf die verkohlten Überreste des Feuers zu geben, um den schalen, abgestandenen Geruch aus dem Raum zu vertreiben.
Niemand wartete, um die dicken, festen Bäusche ungekämmter Wolle auszuwechseln, die man Breaca unter die Achselhöhlen gestopft hatte, damit ihr Körper gestützt wurde und ruhig liegen blieb, wenn abermals die Wogen des Fiebers über sie hereinbrachen. Und es harrte auch niemand darauf, ihr mit ruhigen, behutsamen Händen ein wenig den Kopf anzuheben und ihr einen Schluck Wasser anzubieten, oder ihr dabei behilflich zu sein, ihre Blase in den sauberen Tontopf zu entleeren, der neben ihrem Bett stand. Niemand küsste sie sanft oder strich frische Salbe auf ihren Rücken und erzählte ihr dabei von dem mit immer prachtvolleren Blüten heraufziehenden Frühling oder plauderte über die neuen Fohlen auf den Koppeln und die Welpen - allesamt Nachfahren von Stone -, welche erst kürzlich im großen Rundhaus zur Welt gekommen waren. Niemand berichtete ihr von dem Kriegsheer, das schon voller Eifer seine Kampftechniken übte und nur allzu bereit war für Breacas Rückkehr in die Reihen der Krieger.
Breaca wartete einen Moment, dann drehte sie langsam den Kopf und vergewisserte sich, dass sie in der Tat allein war in der kleinen Hütte und dass zum ersten Mal, seit das Fieber sie befallen hatte, weder die Göttin noch Airmid über sie wachten.
Der Schock, der für Breaca mit dieser Entdeckung einherging, betäubte sie einen Augenblick lang regelrecht, ganz so, als ob sie mitten im Sommer in eiskaltes Wasser gesprungen wäre. Dann, nachdem sie wieder zu sich selbst gefunden hatte, begann sie zu weinen. Zuerst ganz schwach und leise, später in tiefen, keuchenden Schluchzern. Die Erleichterung, ihre Tränen endlich nicht mehr gewaltsam zurückhalten zu müssen, und das Wissen, dass ihr Kummer zumindest in diesem einen Moment niemandem eine Last wäre, waren fast ebenso erschütternd, wie der Schmerz es gewesen war, und damit ließ endlich auch die körperliche Qual ein wenig nach.
Schließlich verspürte Breaca Durst. Vorsichtig setzte sie sich auf und trank aus eigener Kraft aus dem tönernen Becher, den man neben ihrem Bett hatte stehen lassen. Das Wasser war kühl und schmeckte nach nichts anderem als dem Fluss, was auf seine Art wiederum genauso vielsagend war wie die vollkommene Stille, die Breaca noch immer umschlungen hielt.
Es war schon lange her, seit sie zuletzt irgendetwas getrunken hatte, das nicht mit irgendeiner bitteren Essenz aus Airmids Arzneivorrat verrührt worden war, versetzt mit einem Klecks Honig, um den unangenehmen Geschmack zu übertünchen. Jene, denen Breaca am Herzen lag, hatten also bereits bemerkt, dass das Fieber ihrer Anführerin nachgelassen hatte. Und offenbar hatte man sie auch ganz bewusst allein gelassen, um ihr die Chance zu geben, ganz für sich allein herauszufinden, wie weit genau ihre Kräfte bereits wieder reichen mochten. Breaca empfand tiefe Dankbarkeit über diese Fürsorge und weinte abermals, diesmal jedoch entschieden weniger heftig als zuvor.
Dann ließ sie sich wieder auf ihr Lager zurücksinken und starrte in das aus Schilf und Reet gefertigte Dachwerk empor. Schließlich machte sie sich daran, im Geiste eine sorgfältige Aufstellung dessen vorzunehmen, in welchem Zustand sich ihr Körper zurzeit befand und wie ihr Leben gegenwärtig aussah.
Ich bin also noch nicht tot?
Nein, sie war noch nicht tot. Augenscheinlich war es der Wunsch der Götter, dass sie lebte. Folglich musste auch sie, Breaca, ihr Bestes geben, um zu überleben, um wieder kämpfen zu können - sofern man dies noch einmal von ihr verlangen sollte - und um sich wieder um all jene kümmern zu können, die sie einst geliebt hatte und die ihr auch jetzt noch am Herzen lagen. Und alle diese Aufgaben musste sie bewältigen, während sie innerlich noch immer von der Verzweiflung über Graines Leid gequält wurde, und ohne das Versprechen der Götter, dass der Schmerz ihrer Tochter jemals enden würde.
Aber sie wird doch wohl wieder genesen? Es war Airmid gewesen, die das gefragt hatte. Zumindest, wenn auch sie das wirklich will, hatte Valerius’ weise Antwort gelautet.
Aber um genesen zu wollen, brauchte Breaca zuerst einmal einen Grund zum Leben. Und dieser Grund konnte in ihrem Fall nur Graine sein. Graine jedoch war ebenfalls gebrochen worden.
Breaca stellte sich im Geiste der trostlosen Aussicht auf ein Leben ohne jenes lodernde Feuer, das sie in der Vergangenheit stets angetrieben und gewärmt hatte. Der schwache, angstvolle Teil ihrer Seele flüsterte, dass es doch wesentlich besser sei, tot zu sein oder zumindest wieder im Fieberwahn zu versinken, als solch ein Leben zu führen. Doch andererseits war sie die Bodicea, und in genau diesem Augenblick versammelte sich in ihrem Namen ein ganzes Kriegsheer. Fünftausend Kriegerinnen und Krieger warteten täglich aufs Neue auf die Nachricht, dass die Bodicea sich von ihrem Krankenlager erhoben und wieder den Schlangenspeer ergriffen hätte, jenen Speer, den ihr Bruder für sie geschmiedet hatte. Sie alle warteten ungeduldig auf die Ankündigung, dass die Bodicea endlich bereit war, sie in den Krieg gegen Rom und damit der letzten, ultimativen Reihe von Siegen entgegenzuführen.
Die Last schien geradezu erdrückend, und wieder weinte Breaca. Dann trank sie abermals etwas Wasser und versuchte zu erkennen, wie sie dieses neue Leben mit all seinen Grenzen und Beschränkungen bloß bewältigen sollte.
Zumindest aber mangelte es Breaca trotz allem nicht an Mut, mit dem irgendwann auch der Pragmatismus zurückkehrte. Und dieser Pragmatismus sagte ihr, dass sie doch immerhin umgeben war von einer ganzen Schar von Menschen, die allesamt stark und willens genug waren, um gegen die Römer zu kämpfen, und dass zumindest diese Menschen auch noch nicht ihre Leidenschaft für das Leben verloren hatten. Somit war es im Grunde völlig bedeutungslos, ob auf Breacas körperliche Genesung auch noch die seelische Heilung folgen würde, solange sie nur wieder gesund genug wäre, um sich zu erheben und zu kämpfen und um den Kriegern wenigstens zum Schein wieder jene starke Führerin zu sein, die sie früher einmal gewesen war. So viel immerhin durften die Krieger von ihr erwarten, und mehr war mit etwas Glück auch gar nicht nötig, um ihr Volk vielleicht doch noch zu retten.
Vor alledem aber musste sie zunächst einmal eine ganz bestimmte Waffe finden, die irgendwo in einem Versteck lag. Und davor wiederum, das hatte Priorität noch vor allem anderen, musste sie Graine finden, das zermarterte Kind ihrer Seele. Alles in ihr drängte danach, mit Graine zu sprechen, sie wollte sie im Arm halten... und sie musste unbedingt herausfinden, ob es vielleicht doch noch wenigstens einen kleinen Teil von Graines einst so strahlendem Wesen gäbe, der wieder geheilt werden könnte.
Breaca legte die Fingerspitzen an ihr Gesicht. Vorsichtig rieb sie sich die verkrusteten Tränen aus den Augenwinkeln. Der Mond war noch jung und warf seine langen, gebrochenen Strahlenspeere durch die halb geöffnete Tür der Hütte. Sein silbernes Feuer ergoss sich über Breaca und das haselnussfarbene Pferdefell, das zu einem Kissen zusammengefaltet unter ihrer Wange lag. Getrocknete Speicheltröpfchen hatten sich darauf gesammelt und einzelne verkrustete weiße Haare.
Behutsam tat Breaca einen tiefen Atemzug und ließ ihn dann langsam und mit einem schwachen Pfeifen wieder ausströmen. Solange sie nur ganz behutsam atmete, war der Schmerz noch erträglich, ebenso wie die scharfen Kanten jenes Abgrunds, der sich in Breacas Seele aufgetan hatte.
Mit dem nächsten Atemzug, den sie dann ganz bewusst erstmals wieder quälend lange in ihren Lungen verweilen ließ, kämpfte Breaca von den Eceni, einst Bewohnerin von Mona und der Welt bekannt als die Bodicea, die Siegreiche, sich von ihrem Lager hoch, zog ihre Tunika über und machte sich auf die Suche nach ihrem von Rom gebrochenen Kind.
 
»Du kannst wieder gehen.«
Die Hütte, in die man Graine gelegt hatte, war noch so neu, dass das Reetgeflecht, das die Dachsparren bedeckte, noch keinen einzigen Regenschauer erlebt hatte. Es schimmerte mattgrün, ähnlich der Haut eines Frosches. Ein niedrig flackerndes Feuer vor der Tür durchdrang das schwache Licht der Abenddämmerung und warf dunkle Schatten über das mit Lehm bestrichene Weidenwerk, das die Mauern der Hütte bildete.
Drinnen, dicht an der Seitenwand, lag Graine auf einem Lager aus aufeinandergeschichteten Schafsfellen, die eine Hand, schweißnass, locker über der Decke. Dunkles, ochsenblutrotes Haar lag in unordentlichen Strähnen um ihren Kopf herum und erzählte seine ganz eigene Geschichte von dem unruhigen Schlaf, in den Graine gesunken war. Die Quetschwunden und Blutergüsse in ihrem Gesicht und an ihrem Hals wirkten weniger markant als beim letzten Mal, als Breaca ihre Tochter gesehen hatte. An jenem Tag hatte sie Graine noch bei Tageslicht gesehen, und die Verletzungen waren noch wie schmutzig grüne Pfützen erschienen, die sich vor der kalkweißen Haut ihres erschöpften Gesichtchens abgehoben hatten. Nun, im sanften, gräulichen Licht des Abends konnte man von den einstigen Wunden nicht mehr viel erkennen.
Vorsichtig setzte Breaca sich auf den Rand des Schaffelllagers, und mit der gleichen Behutsamkeit ließ nun auch Stone, der verkrüppelte Kampfhund, der draußen vor der Krankenhütte gewartet hatte, sich im Inneren der Hütte nieder - dicht am Bett, wo sowohl Mutter als auch Tochter ihn erreichen konnten.
»Ja, ich kann gehen«, antwortete Breaca. »Das heißt zwar noch nicht, dass ich auch schon wieder kämpfen könnte, aber es ist zumindest ein Anfang.« Hier, in Graines Gesellschaft, war es ihr möglich, ganz offen darüber zu sprechen, welchen Berg sie noch würde erklimmen müssen. »Und wie steht es mit dir? Kannst du auch schon wieder richtig laufen?«
»Ich weiß es nicht.« Graine blickte auf Stone hinab. Sie kämmte mit den Fingern durch sein Nackenhaar, strich es glatt und zerzauste es dann wieder. »Hawk lässt mich ja nicht weiter gehen als bis nach unten an den Fluss. Er hält sich genau an das, was Airmid ihm gesagt hat. Und Airmid sagt, weiter darf ich noch nicht. Sie meint, wenn ich schlafe, dann träume ich vielleicht auch wieder, und dass ich, wenn ich aufstehe und herumlaufe, nicht genug schlafe. Aber ich glaube, sie irrt sich.«
»Meinst du wirklich? Airmid irrt sich nur sehr selten.« Breaca streckte die Hand aus und strich ihrer Tochter behutsam eine Haarsträhne aus den Augen. »Ist Hawk dieser Coritani-Späher, der da draußen mit einer nackten Klinge auf seinen Knien vor deiner Hütte sitzt? Der, der Cunomar das Ohr abgeschnitten hat?«
Die Anwesenheit des jungen Mannes war Breaca natürlich keinesfalls entgangen, doch sie hatte bis zu diesem Moment kaum einen weiteren Gedanken an ihn verschwendet. Allerdings hatte sie bemerkt, dass er noch beide Ohren besaß, was erstaunlich war. Denn sie hatte eigentlich erwartet, dass die Bärinnenkrieger sie ihm als Rache für sein Verbrechen an Cunomar inzwischen abgeschnitten hätten. Irgendwann, während das Fieber in ihrem Körper gewütet hatte, glaubte sie nämlich gehört zu haben, dass ihn genau diese Strafe ereilen sollte.
Der junge Mann hatte genau beobachtet, wie Breaca in die Hütte getreten war, hatte jedoch nichts gesagt, sondern nur knapp genickt, was wohl so viel bedeuten sollte, wie dass er nicht nur ihr Erscheinen, sondern auch all das, was Breaca in ihrer Person verkörperte, sehr wohl zur Kenntnis genommen hatte. An seiner Unterlippe war ein Rest jener blutigen Blase zu erkennen, die Valerius ihm mit einem stumpfen Schlag seines Messers zugefügt hatte. Doch noch immer besaß der junge Mann jene lässige, beinahe arrogante Schönheit, die auch schon zu jener Zeit, als er noch im Dienste des römischen Prokurators gestanden hatte, sein hervorstechendstes Merkmal gewesen war. An seiner Attraktivität hatte sich bislang also nichts geändert, ebenso wenig wie an den blauen Echsen-Tätowierungen, die sich über die deutlich sichtbaren Muskeln seiner beiden Oberarme schlängelten und das Zeichen seiner Clanzugehörigkeit und jener Racheschwüre waren, die er gegenüber dem Geist seines Vaters geleistet hatte.
Breaca war es gewesen, die Hawks Vater getötet hatte. Dafür hatte Hawk Cunomar das Ohr abgeschnitten und war später dabei behilflich gewesen, Graine dem Prokurator auszuliefern. Breaca war sich nicht sicher, ob damit in den Augen des jungen Mannes der Gerechtigkeit Genüge getan war oder ob es noch immer Dinge zwischen ihnen gab, die er begleichen wollte.
»Ja«, sagte Graine. »Er und Dubornos sind davon überzeugt, dass nur sie beide die Schuld tragen an... an dem, was passiert ist.« Zäh und mit winzigen Pausen dazwischen kamen die Worte über Graines Lippen. »Sie wechseln sich damit ab, auf mich aufzupassen.«
Zwei Männer, die über ein Kind wachten, das von einer halben Zenturie von Soldaten vergewaltigt worden war. Doch egal, welche Rolle die beiden Männer in Graines Vergangenheit auch gespielt haben mochten, egal, wie sehr das schlechte Gewissen sie peinigte oder wie ernsthaft ihr Schwur auch gewesen sein mochte, so hätte Airmid sie von ihrem Dienst vor Graines Hütte abhalten müssen. Zumindest aus Breacas Sicht. Sie nahm die Hand ihrer Tochter, drehte sie herum und betrachtete die abgekauten Fingernägel, die skelettdünnen Finger und die marmorweiße Haut, unter deren Oberfläche sich das feine Geflecht der Adern abzeichnete.
Doch die Handinnenfläche ihrer Tochter verriet Breaca rein gar nichts. Sie schloss die schmalen Finger langsam zu einer Faust und ließ den Blick über die Linien in Graines Gesicht schweifen. Graue Augen von der Farbe der Wolken nach dem Regen starrten ihr entgegen, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln.
»Vertraust du Hawk?«, fragte Breaca.
»Ja. Er hat geschworen, mich mit seinem eigenen Leben zu beschützen, so als wäre ich seine Schwester. Und als er mir das geschworen hat, hat er mit seiner Klinge auf den ausgestreckten Händen vor Valerius, Airmid und Gunovar von den Dumnonii gekniet, die ja auch von den Römern gefoltert wurden. Die drei sind ja noch Träumer, und sie alle glauben ihm. Warum sollte ich ihm also nicht glauben?«
Die drei sind ja noch Träumer.
Solch ein ernüchternder Satz, so ruhig gesprochen, so endgültig. Unbeweglich lagen die kleinen Hände auf dem Fell des Hundes. Allein Graines Selbstbeherrschung hinderte ihre Finger daran zu zittern.
Breaca hob eine der Hände an, küsste das von feinen, bläulichen Adern überzogene Handgelenk und spürte dabei unter ihren Lippen das angespannte Pochen des Pulses. Dann verlor sie sich in ihrer Gedankenwelt, suchte nach einem Weg, um das auf ewig Zerbrochene vielleicht doch noch wieder zusammenfügen zu können, als Graine unvermittelt fragte: »Wünschst du dir noch immer, die Götter würden dich aus dem Leben erlösen?« Ihre Stimme war nurmehr ein leises Flüstern, so schwach, dass es kaum mehr wahrnehmbar war.
»Ich habe doch nicht...«
»Doch, du hast. Ich habe gehört, wie du es zu Airmid gesagt hast. Das war, bevor sie wussten, dass du Fieber hast, und mich aus deiner Hütte getragen haben.« Riesengroß schauten die grauen Augen zu Breaca empor. Nun hatte sich die eiserne Willenskraft verbraucht, mit der Graine ihre Hände zum Stillliegen gezwungen hatte. Ungeachtet der schmerzenden Stellen, an denen die Fesseln der Römer ihrer Mutter ins Fleisch geschnitten hatten, umklammerte Graine mit ihren kleinen Fingern Breacas Handgelenke, und mit jedem Wort, das sie sprach, verstärkte sie die Kraft ihres Griffs nur noch. »Es war nicht deine Schuld!«
Das Gleiche hatte auch Nemain gesagt. Doch ganz gleich, ob die Worte nun aus dem Mund eines Lebenden kamen oder von einem Gott stammten - sie waren in keinem Fall leicht zu ertragen.
Sie warteten. Alle beide, Mutter und Tochter, verharrten an einem Ort in ihren Seelen, von dem keiner erwartet hätte, dass sie ihn so rasch erreichen würden und so gänzlich ohne jegliche Vorwarnung.
Breaca wusste nicht, was sie sagen sollte. Stattdessen löste sie ihre Hände aus Graines Umklammerung, breitete die Arme aus und legte sie sanft um ihre Tochter, die sich daraufhin mit einem kurzen, lautlosen Schluchzen an sie schmiegte. Sie klammerten sich aneinander, wie Matrosen, die in einem Sturm ertranken, den niemand hatte heraufziehen sehen.
Breaca presste die Lippen auf den Scheitel ihrer Tochter und pustete sacht über deren Haar, um mit ihrem Atem den Schmerz fortzuhauchen, so wie sie es schon immer getan hatte, wenn ihr Kind krank war oder etwas Kostbares verloren hatte. Zwar half das in diesem Augenblick nur wenig, doch immerhin spendete die Geste ihnen beiden etwas Trost.
Als sie wieder sprechen konnte, sagte Breaca: »Erlaubst du mir dann wenigstens, mir vorzuwerfen, dass ich dich besser hätte beschützen müssen? Dass ich dich eher hätte fortschicken sollen? Oder zumindest, dass ich, als deine Mutter, die Kraft hätte besitzen müssen, unsere Welt von Grund auf zu verändern, und dass mein Herz mir schier zerreißt vor lauter Kummer, dass ich genau das eben nicht geschafft habe?«
»Aber das kannst du doch noch immer. Du kannst die Welt verändern. Und das Kriegsheer erwartet dich, damit du genau das tust - die Welt verändern.« Die Worte wurden gedämpft von dem Stoff von Breacas Tunika und sanken direkt in ihr Herz.
»Ich weiß. Und wenn die Krieger dann endgültig bereit sind, vielleicht bin dann ja auch ich so weit. Aber in der Zwischenzeit muss ich erst einmal etwas anderes schaffen. Valerius hat mein Schwert gefunden, das Schwert mit dem Schlangenspeer auf dem Heft, das mein Vater einst für mich geschmiedet hatte. Sollte ich also jemals wieder in der Lage sein zu kämpfen, dann mit diesem Schwert. Um mich zu schützen, hatte Valerius es an dem Tag, als er gekommen war, um den Prokurator aufzuhalten, im Wald versteckt. Und ich muss jetzt losgehen und es wiederfinden. Falls Airmid tatsächlich unrecht haben sollte und der Schlaf deinen Traum auch nicht mehr heilen kann, willst du dann, statt zu schlafen, vielleicht mit mir kommen und mir bei der Suche helfen?«
Der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Tochter war Antwort genug. Breaca griff nach der Tunika, die neben dem Bett aus Schaffellen lag. Da kam ihr ein Gedanke, und sie hielt einen Moment inne. »Ob Hawk dich wohl aufstehen lässt, wenn ich ihn darum bitte?«
Zum ersten Mal blitzte in Graines Lächeln so etwas wie ein Funken von Wärme auf und das Wissen eines Kindes, das Dinge sieht, die seine Mutter nicht sehen kann. Mit betont ruhiger Stimme entgegnete Graine: »Hawk lebt doch bloß deshalb noch, weil du Ardacos befohlen hast, auf ihn Acht zu geben und dafür zu sorgen, dass niemand ihn töten kann. Ansonsten hätten die Bärinnenkrieger ihn schon längst niedergemetzelt oder ihm zumindest beide Ohren abgeschlagen. Er schuldet dir sein Leben und seine Schönheit. Und er weiß das auch. Er wird also wohl für den Rest seines Lebens nur noch deinem Befehl gehorchen.«
»Dann werde ich ihm sagen, wohin wir gehen, damit er es Airmid und Valerius ausrichten kann. Stone müssen wir aber hierlassen. Er ist noch nicht wieder kräftig genug, um neben einem Pferd herzulaufen. Was meinst du, ob du ihm wohl sagen kannst, dass er hierbleiben soll, damit wir ihn nicht an den Türpfosten binden müssen?«
Die Kriegerin der Kelten
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