XXXIV
»Hawk?«
Doch Hawk war nirgends zu sehen. Stattdessen war
plötzlich ein Dutzend Krieger vor der kleinen Reisegruppe
aufgetaucht. Die Krieger waren allesamt etwa in mittleren Jahren
und hatten sich rechts und links der Straße aufgebaut, dort, wo
gerade eben noch bloß der Morgennebel, Felsgestein und einige
Nesselpflanzen gewesen waren und natürlich die Spuren der zuvor
hier entlangmarschierten Legion.
Unter den Kriegern befanden sich keine Frauen, das
Dutzend bestand allein aus Männern. Sie waren von sehr muskulöser
Statur, bis auf ihre Messergürtel vollkommen nackt und mit roter
Tonfarbe bemalt, die in geraden Linien von den Fußknöcheln bis
hinauf zu den Brauen verlief und von den Achselhöhlen bis an die
Handgelenke. Ihre Kriegerfedern stammten von Rothennen und waren an
den Kielen mit schwarzem Band umwickelt. Das Haar der Männer war
ganz steif von dem roten Ocker, den sie über ihre Köpfe verteilt
hatten, und in zwei Partien aus der Stirn nach hinten gestrichen
worden, sodass es so aussah, als trügen die Männer Hörner. Ihre
Gürtel waren aus rotem Hirschleder, und die Messer, die darin
steckten, trugen als Griffe Geweihenden.
Seit ihrer Vergewaltigung hatte Graine keinen
nackten Mann mehr gesehen. Nun, umschlossen von einem Schleier aus
Panik und Übelkeit, erkannte sie, welche stille, doch unaufhörliche
Mühe es ihre Gefährten gekostet haben musste, immer darauf zu
achten, dass kein Mann sich jemals wieder nackt vor ihr gezeigt
hatte. Und sogar jetzt, während augenscheinlich feindliche Krieger
sich um sie schlossen, war Dubornos noch so fürsorglich und mutig,
rasch sein Pferd zwischen Graine und die Männer zu drängen, um ihr
den peinigenden Anblick zu ersparen.
Doch es war zu spät. Aber immerhin hatte Dubornos
es versucht, und dafür liebte Graine ihn. Sie senkte den Blick,
starrte auf die Mähne ihres Pferdes und atmete hastig und mit
geöffnetem Mund. Dann spürte sie Bellos’ Hand zwischen ihren
Schulterblättern, erahnte die Eindringlichkeit, mit der er sie zur
Ruhe zwingen wollte und sie davon abzuhalten versuchte, sich nun in
einen emotionalen Ausbruch hineinzusteigern.
Plötzlich befand sich auch Gunovar wieder an ihrer
Seite, die Umhangkapuze ganz bewusst weit über die Schultern
zurückgeschoben, sodass man ihre Narben und ihren Stirnreif aus
Birkenrinde, das Zeichen der Träumer von Mona, erkennen konnte. Mit
donnernder Stimme, ganz so, als befände sie sich gerade auf einer
Versammlung im Großen Rundhaus und spräche zu dem Rat der Ältesten,
erklärte sie: »Wir begleiten die Tochter der Bodicea. Sie war nach
Mona gereist, um sich dort von der Vergewaltigung durch Rom zu
erholen. Nun wird sie wieder gebraucht, um ihre Aufgabe im Krieg
gegen die Legionen zu erfüllen. Wollt ihr ihr etwas zuleide
tun?«
Die Männer schwankten vor und zurück, wie Birken in
einer sanften Brise, und schwiegen. Nach einer Weile entgegnete
einer der Männer: »Niemals dem Kind der Bodicea wehtun.« Schwer
drang durch seine Stimme die Mundart der Ahnen, ganz so, als ob
dieser Mann nicht den Albtraum unter Rom hatte durchleiden müssen
oder die Kriege zwischen den Stämmen, die davor stattgefunden
hatten.
»Dann dürfen wir also passieren?«, fragte
Gunovar.
Weit hinter den Männern, versteckt zwischen den
Bäumen, tauchte plötzlich Hawk auf. Graine entdeckte ihn sofort,
und auch Dubornos sah den Jungen. Rasch wandten sie die Köpfe
jedoch wieder ab, blickten in die entgegengesetzte Richtung.
Abermals und fast wie in Trance wogten die rot
bemalten Männer vor und zurück und streckten sich dann zu ihrer
ganzen Größe. Und es war der gleiche Mann, der antwortete: »Tochter
der Bodicea darf weiter. Allein. Oder sie soll warten mit dir und
deinen Männern.«
Niemals wäre auch nur einem aus der kleinen
Reisegesellschaft von Mona der Gedanke gekommen, dass Fremde Efnís,
Dubornos oder gar Bellos für Gunovars Männer halten könnten. Laut
schien dieser befremdliche Gedanke zwischen ihnen allen zu hallen.
Und auch der Wortführer der Hirschkrieger erkannte dies. Er trat
auf Gunovar zu, hob die Hand und legte dann den Handballen gegen
ihre Stirn. Anschließend fuhr er ihr mit Zeige- und Mittelfinger
vom Haaransatz bis zu den Brauen, sodass über dem Stirnreif der
Träumerin nun in roter Lehmfarbe ein horizontaler, etwas
verschmierter Streifen prangte sowie zwei vertikale Linien.
»Gesegnete des Gottes«, sprach der Krieger.
»Dienerin des Gottes. Gezeichnet von Rom und gezeichnet von Mona -
und darum nun gezeichnet von Größerem als das. Sie dich nicht
ehren, vielleicht. Aber wir dich ehren dafür.«
Seine Augen waren wie die eines Hirsches oder Rehs,
groß und braun, aber ohne die charakteristische Angst dieser Tiere.
Nachdenklich betrachtete er Graine und zeichnete dann eine schmale,
vertikale Linie auch zwischen ihre Brauen. Graine spürte den
leichten Druck, mit dem er sie berührte, und dann ein feines
Kitzeln, das noch eine ganze Weile anhielt, nachdem er ihr das
kleine Lehmzeichen aufgemalt hatte. »Dienerin der Hasentochter«,
fuhr der Krieger fort. »Jung, aber innen alt. Nicht zu jung, um zu
tanzen. Besser, ihr kommt mit uns und dann wartet mit den
anderen.«
Damit wich er wieder ein Stück zurück, und sein
Blick schweifte einmal über den mit dornigem Unterholz bewachsenen
Landstreifen und das dahinter liegende Heidemoor. Laut, damit seine
Stimme auch bis dorthin vordränge, erklärte er: »Coritani wird
folgen.«
Längst war Hawk wieder verschwunden, nicht mehr als
ein Schatten irgendwo zwischen den Bäumen. Dennoch bestand kein
Zweifel, dass auch er dorthin gehen würde, wo Graine hinging, oder
dass Graine an jenen Ort folgen würde, wo ihre Gefährten hingeführt
würden.
»Aber worauf sollen wir denn warten?«, wollte
Gunovar etwas verwirrt wissen.
»Huldigen dem Gott.«
Hart ritten sie den ganzen Tag über gen Westen.
Als die Abenddämmerung sich langsam über das Land legte, hielten
sie in einem bewaldeten Tal einen Moment inne und gedachten des
Gottes der Hirschkrieger. Bei näherem Hinsehen erwies sich das Tal
als ebenes, bewachsenes Felsplateau inmitten von hoch aufragenden
Kalksteinbergen, und die Terrasse, auf der die Reisegesellschaft
sich zurzeit befand, war lediglich die obere von zwei breiten
Kalksteinstufen, die dem Tal seinen Charakter verliehen. Senkrecht
fiel das obere Plateau zur zweiten Ebene hin ab. Westlich unterhalb
der Abbruchkante, mitten im Fels, befand sich der Grabhügel der
Ahnen der Hirschkrieger. Keiner der mit Ockerfarbe bemalten Männer
wagte es, auch nur einen einzigen Blick hinab zu diesem Grabhügel
zu werfen, als sie ihre Pferde auf dem oberen Felsplateau anhalten
ließen.
Die Sonne glänzte sattgelb wie ein Eidotter, der
sich über den Horizont ergoss. Flach und golden breitete sie ihre
Strahlen über das obere Felsplateau und streifte mit ihrem Licht
glitzernd über die aus der darunterliegenden, zweiten Talebene
aufragenden Baumwipfel. Der normalerweise weiße Fels hatte die
Farbe von Schwefel angenommen, und seine Abbruchkante war so glatt,
als ob die Axt der Götter den Fels gespalten und dann die eine
Hälfte einfach zu Boden hätte stürzen lassen. Graine spähte über
die Felskante hinweg, hatte plötzlich das Gefühl, weniger ein
Mensch als vielmehr eine Traumgestalt ihrer eigenen Fantasie zu
sein, und diese Traumgestalt stürzte nun in ihrer Vorstellung
geradewegs über den Felsrand hinunter und mitten hinein ins
Vergessen. Graine erstarrte, klammerte sich am Sattel fest und
verharrte dann in dieser Haltung, plötzlich vollkommen
bewegungsunfähig.
»Da können wir nicht runter«, erklärte Bellos, der
doch in Wahrheit gar nichts sehen konnte. Aus großen,
weißumrandeten Augen warf der am dichtesten neben Bellos stehende
Hirschkrieger ihm einen raschen Seitenblick zu. Der Anführer, der
sich von den anderen nur durch einen zusätzlichen roten Streifen
unterschied, der einmal vom Kinn aus bis über die Stirn verlief,
sprang von seinem Pferd und schlängelte sich dann zwischen den
Kriegern und der mickrigen, jungen Kiefer hindurch, die die
Abbruchkante markierte.
Dieser Mann, der Anführer der Gruppe, war der
Einzige, der die innere Kraft besaß, Bellos geradewegs ins Gesicht
zu schauen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe er den Blick
wieder abwandte und dann mit wohlwollendem Nicken erklärte: »Doch,
ihr könnt.«
»Wie? Willst du uns etwa tragen? Ich kann nichts
sehen, und die Tochter der Bodicea ist vor Angst wie
gelähmt.«
Der Anführer der Hirschkrieger zuckte lediglich mit
den Schultern. Sein Gesichtsausdruck ließ eine Art gelangweilter
Verachtung erkennen. »Ihr da runter oder sterben.«
Gunovar hob den Kopf. Überrascht zuckte der Krieger
zusammen. »Du hattest geschworen, dass du und deine Männer der
Tochter der Bodicea nichts zuleide tun würdet.«
»Werden wir auch nicht. Aber hier oben können wir
sie nicht beschützen. Sie ist sicher nur im zweiten Tal. Mit uns.
Kein Mann, der auf Kopf von Fels steht, überlebt, wenn Gott kommt.«
Er dachte einen Augenblick lang nach und ergänzte dann mit einem
Nicken in Richtung von Gunovar: »Und auch keine Frau.« An die Bäume
gewandt, verkündete er schließlich noch: »Wenn der Coritani
sauberen Tod sterben will, er soll auch mit uns runter. Im Reich
des Gehörnten er kann sich nicht verstecken.«
... sauberen Tod sterben will...
Hawk wird nicht sterben.
Laut und auf Griechisch, weil sie diese Sprache auf
Mona ein bisschen miteinander geübt hatten und weil die
Hirschkrieger diese von allen Sprachen vermutlich am schlechtesten
verständen, rief Graine: »Hawk, verschwinde! Finde die Bodicea.
Berichte ihr, was passiert ist!«
Der Wortführer der Hirschkrieger grinste seltsam,
schien mit einem Mal gar kein Mensch mehr zu sein. Dann nickte er
abermals, und fast hätte man glauben können, dass er Graine damit
Beifall zollte, Beifall für die gewissenhafte Darbietung jener
Rolle, die er ihr in seinem ganz persönlichen Ritualspiel zugedacht
hatte. Dann wartete er, beobachtete die langsam immer dunkler
werdende Sonne. Seine Augen schienen das rote Herz des göttlichen
Feuers am Himmel geradezu in sich aufzusaugen, und tief drinnen im
Bewusstsein des Kriegers wuchs etwas sehr Altes und ganz und gar
nicht Vertrauenerweckendes heran. Schließlich verblasste auch das
befremdliche Grinsen auf seinen Zügen, und als die Sonne fast
gänzlich hinter dem Horizont versunken war, hob er den Kopf und
stieß einen tiefen, dröhnenden Schrei aus, ganz ähnlich einem
Rothirsch in der Brunft.
Plötzlich bewegten sich die Zweige der Bäume, und
wo gerade eben noch Leere geherrscht hatte, standen nun drei
Dutzend weitere Hirschkrieger, und mitten in ihrem Halbkreis stand
Hawk, drei Dutzend gezogene Messer geradewegs auf seinen Rücken
gerichtet. Die Krieger hatten ihn bereits verletzt, an seiner einen
Wange sickerte aus einem schmalen, senkrechten Schnitt Blut, sodass
auch Hawk nun einen roten Streifen im Gesicht trug. Es war schwer
zu sagen, ob dies eine Art Parodie darstellen sollte oder ob mit
diesem Schnitt ein Ritual eingeläutet wurde.
Ungläubig starrte Graine auf Hawks entstelltes
Gesicht. Ein Teil ihrer selbst trat aus ihrem Körper heraus,
trennte sich von ihrem restlichen Bewusstsein und rettete sich
damit in die schützende Distanz, ganz so, wie sie auch während der
Vergewaltigung ihren Körper fast gänzlich verlassen hatte. Dann,
klar wie die Stimme eines Zaunkönigs, hörte sie Bellos sagen:
»Nein, geh nicht! Hawk wird dich brauchen, du wirst für ihn denken
müssen, musst dich schon bald um ihn kümmern. Schütze dich mit
deiner eigenen Kraft und bitte auch Nemain um Hilfe.« Graine war
sich nicht sicher, ob Bellos tatsächlich die Stimme erhoben hatte
oder ob er bloß in ihrer Vorstellung gesprochen hatte. In jedem
Fall aber hatte seine Ermahnung Erfolg, und Graine kehrte langsam
in sich selbst zurück. Eine zähe Übelkeit ergriff von ihr Besitz,
doch das war immer noch besser, als gar nichts zu spüren.
Der Anführer der Hirschkrieger entbot erst Hawk
seinen Gruß und dann Graine, fügte die beiden damit symbolisch zu
einer Einheit zusammen. Mit Lauten, die weniger der menschlichen
Sprache, sondern mehr dem Grunzen von Rotwild ähnelten, wandte er
sich an seine Männer und trat dann vorsichtig an den Rand der
Kalksteinklippe. »Wir gehen runter«, erklärte er mit belegter
Stimme. »Wer Hilfe braucht, wird Hilfe bekommen.«
Diesmal wagte es niemand mehr, ihm zu
widersprechen.
Der Abstieg war ein Albtraum, an den man besser
nicht mehr zurückdachte, eine fast schon selbstmörderische
Klettertour, in der weißes, zerbröckelndes Gestein der einzige Halt
war, der Graine vor dem Sturz in den Tod bewahrte. Und dann war da
noch dieser Mann, der zwar ganz gewiss nicht zu jenen zählte, denen
Graine ihr Vertrauen geschenkt hätte, der aber dennoch konsequent
seinen Körper schützend gegen den ihren presste, der sie hielt,
wenn ihr Fuß abrutschte, und der sie wieder an die Felswand
heranzog, wenn ein vermeintlicher Halt unter ihren Händen
zerbröckelte und Graine rückwärts in den Abgrund zu stürzen
drohte.
Ihr war schrecklich schwindelig, und ihre
Eingeweide rebellierten, doch auch Bellos’ mahnende Worte blieben
ihr stets gegenwärtig. Beharrlich hielt sie im Geiste an dem
letzten Bild von Hawk fest, vergegenwärtigte sich immer wieder
dessen Gesicht mit dem blutroten Messerschnitt, der senkrecht über
seine Wange verlief. Und dieses Bild verlieh ihr Kraft, schenkte
ihr Mut und trieb sie immer weiter voran. Sie setzte ihre Füße
genau dorthin, wo man es ihr sagte, grub die Finger in den Fels und
entfloh damit schließlich dem Wahnsinn der Angst, der sie ansonsten
ganz sicherlich um den Verstand gebracht hätte. Und dann - eine
ganze Ewigkeit schien zwischenzeitlich vergangen zu sein - hatte
der qualvolle Abstieg endlich ein Ende. Graine hatte wieder festen
Boden unter den Füßen. Sie stand mitten zwischen zwei üppig
belaubten Birken, deren Äste weit hinabhingen, klammerte sich an
den Hirschkrieger und erlaubte ihm sogar, ebenfalls die Arme um sie
zu schließen und ihr Halt zu geben, bis das Zittern wieder aus
ihrem Körper gewichen war.
Verglichen mit dieser Kletterpartie war der kurz
darauf folgende Aufstieg hinauf zur Höhle der Ahnen das reinste
Kinderspiel. Diesmal war der Anführer der Krieger jedoch nicht
Graine behilflich, sondern Bellos. Keiner der anderen Männer mochte
Bellos noch länger begleiten, denn dieser sah einfach zu viel. Dem
Anführer und Bellos dicht auf den Fersen kraxelte Graine abermals
an der weißen Felsklippe entlang und dann jenen schmalen Pfad
hinauf, der sich bei näherem Hinsehen als eine Reihe von kleinen
Stufen und Haltemöglichkeiten erwies, die Menschen einst in den
Fels gemeißelt hatten. Schließlich ging es noch über einen schmalen
Felsvorsprung, der so breit war, dass man auf ihm gehen konnte.
Dieser Pfad lief einmal um eine Felskante herum, und ganz
unvermittelt erreichten die Kletterer plötzlich die Höhle. Fast
schon schien es ihnen, als ob nicht sie diesen magischen Ort
erreicht hätten, sondern als ob die Höhle mit einem Mal vor die
Menschen getreten wäre.
Riesig wie der Rachen eines jagenden Bären klaffte
ihre Öffnung vor ihnen auf, weit genug, um sie alle mit
Leichtigkeit zu verschlingen. Farnwedel baumelten über dem
bogenförmigen Eingang hinab, säumten den felsigen Rachen mit grünen
Zähnen. Abrupt blieb Bellos stehen, folglich hielt auch Graine
inne. »Dies ist ein Ort, den bereits die Ahnen aufgesucht haben«,
sagte er leise. »Die Höhle ist noch älter als das Große
Versammlungshaus auf Mona.«
Liebevoll strich der Anführer der Hirschkrieger mit
der Hand über das Gestein, ganz so, als ob diese Höhle hier sein
Werk sei, das ihn nun mit gerechtem Stolz erfüllte. »Sogar noch
älter als Grabhügel von Ahnen. Da sind Knochen von Rotwild in der
Höhle mit Jahresmarken, die fünfzig Generationen zählen. Und die
Knochen waren schon alt, bevor das Markieren der Jahre
begann.«
Es schien ganz und gar unmöglich, sich eine so
lange Zeit vorzustellen. »Das ist ja noch älter als Rom«, bemerkte
Graine voller Staunen.
Der Anführer schaute sie an, blickte in sie hinein
und schien überrascht über das, was er sah. Er dachte einen
Augenblick lang nach, dann trat er ein Stück zurück und schob die
Farnwedel beiseite. An den Wänden prangten Zeichnungen,
Darstellungen von Männern, über deren Körper rote Streifen
verliefen und aus deren Schädel Geweihe hervorragten.
»Hier versammelten sich schon die Träumer des
Hirsches, als Rom noch nicht mehr war als ein Dorf mit drei Hennen
und einer krepierenden Kuh«, erklärte er in einem Tonfall, der mit
einem Mal deutlich weniger fremd klang als noch vor kurzem, ganz
so, als ob der Krieger nun nicht mehr länger das Bedürfnis
verspürte, sich durch die Wahl seiner Sprache künstlich von den
Fremden zu distanzieren. Genau genommen sprach er jetzt sogar mit
der gleichen, leisen Eindringlichkeit, mit der auch Luain mac Calma
oder Valerius oder, wenngleich weniger häufig, Breaca sprachen.
»Wir wollen, dass die Träumer des Hirsches auch dann noch hier
leben und ungehindert ihren Visionen nachhängen können, wenn Rom
endlich wieder zu jenem Dorf verkümmert ist, aus dem es einst
entstand. Ihr, die ihr für das gleiche Ziel kämpft wie wir, seid
uns willkommen. Die Höhle wird euch schützen, wenn der dunkelste
Teil der Nacht anbricht, die Zeit, bevor der Mond aufgeht.«
Als Graine und ihre Gefährten durch den Eingang der
Höhle traten, fühlten sie sich schon ganz anders, weniger wie
Gefangene, die nur unter Zwang handelten, sondern mehr wie Gäste,
die einem Ritus beiwohnen durften, der schon bald beginnen sollte.
Ein feines Kitzeln durchzuckte das Lehmzeichen auf Graines Stirn,
es schien wieder frisch, wie gerade erst aufgemalt. Sogar die Farbe
war wieder heiß, als ob sie gerade erst aus den glühenden
Mischpfannen geschöpft worden wäre. Hinter dem klaffenden Schlund
der Höhle verschmälerte sich der Rachen wieder. Eine schmale Spalte
führte vom Vorraum ins Innere des Kalksteinberges. Der Durchgang,
durch den Graine Efnís nun folgte, war deutlich schmaler als die
riesigen Höhlenöffnungen in den Bergen im Westen des Landes.
Zugleich aber war es hier auch heller, weißer, und der Innenraum
war trotz allem noch groß genug für eine Feuerstelle und jene
Dutzende von Kriegern, die sich hier offenbar rituell um das Feuer
versammelten.
Die Höhle ragte weit in den Fels hinein, und die
Eingangsspalte wurde flankiert von zwei skelettierten
Hirschschädeln. Quer über die gewölbeartigen Kalksteinwände
verliefen weitere Zeichnungen von Hirschen und Pferden und Hasen
und Männern, die sich in Hirsche verwandelt hatten und um ein mit
wenigen Strichen skizziertes Feuer tanzten.
Mitten in der Höhle und zugleich so weit von ihrem
Eingang entfernt, dass sein Licht nicht bis nach außen vordrang,
brannte ein Feuer. Rauch erfüllte die Luft, gewürzt mit dem feinen
Duft nach Kiefernnadeln, grüner Eiche und dem angesengten Haar
irgendeines Tieres. Schon hatte sich eine Gruppe von Hirschkriegern
um die Feuerstelle versammelt, zu viele, als dass Graine sie nun
alle hätte zählen können.
Und ganz ähnlich einer Herde Rotwild wurden auch
Graine und ihre Begleiter hastig in eine Ecke - die hinterste Ecke
- der Höhle gescheucht. Dort überließ man sie zunächst sich selbst.
Graine setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen
die Wand und versuchte, langsam wieder etwas ruhiger zu atmen. Ein
Junge kam auf sie zu und bot ihnen Haferkuchen an, die über den
Flammen nur leider bereits so schwarz verbrannt waren, dass man sie
kaum noch als Gebäck erkennen konnte.
»Sie geben uns zu essen«, bemerkte Dubornos leise.
»Wir sollten uns also geehrt fühlen.« Er klang wie Valerius, in
seiner Stimme schwang die gleiche, trockene Ironie mit. Doch im
Grunde war diese Ironie nur eine Art Verteidigungsstrategie gegen
seine Angst. Noch niemals zuvor hatte Graine dies mit einer solchen
Klarheit begriffen.
»Das hier ist ein Gottesmahl. Damit wollen sie uns
als Anhänger des Gehörnten auszeichnen. Außerdem werden sie wohl
einen Hirsch erlegt haben. Und von uns wird dann erwartet werden,
dass wir von dem Fleisch essen, ehe der Mond wieder verblasst. Ich
gehe nicht davon aus, dass das Fleisch gegart sein wird.«
»Dann haben sie das Feuer also nicht zum Kochen,
sondern für andere Dinge entzündet?«, fragte Bellos, erhielt jedoch
keine Antwort.
Hawk betrat die Höhle als Letzter von ihnen. Er
stand mit dem Rücken zum Kalkgestein und starrte in die Nacht
jenseits der Höhlenöffnung hinaus. Erst vor kurzem war ein tosender
Sturm durch die Atmosphäre gebraust und hatte kühle, feuchte
Nachtluft hinterlassen. Irgendwann im Verlaufe des Abstiegs von dem
oberen Felsplateau hatte man ihnen allen die Waffen weggenommen,
allein Hawk war entkleidet worden. Über seinen Körper verlief nun
eine klaffende Wunde, sie reichte von seiner Hüfte über seine
Schulter bis hinauf zu seiner Augenbraue und blutete so stark, als
ob sie ihm gerade eben erst zugefügt worden war.
Graine rutschte über den Boden, um dichter bei ihm
sitzen zu können. »Hast du vielleicht eine Ahnung, was sie gleich
vorhaben?«
»Was sie mit dir vorhaben? Gar nichts haben sie mit
dir vor. Keiner von ihnen würde es wagen, dir etwas anzutun. Selbst
hier wird dem Namen der Bodicea nicht weniger Bedeutung beigemessen
als den Namen der Götter.«
Vorsichtig hatte er sich mit den Schultern gegen
die Wand gelehnt. Nun verliefen dort einige blutige Streifen von
Wunden, die man, ganz ähnlich der Wunde an seinem Oberkörper, auch
seinem Rücken zugefügt hatte. Hawk glänzte, seine Haut schien
überzogen von einem feinen Schweißfilm, und über seine Arme
breitete sich eine Gänsehaut.
»Ich habe nicht gefragt, was sie mit mir vorhaben«,
widersprach Graine. »Ich will wissen, was sie mit dir anstellen
werden.«
»Ich weiß es nicht.« Zum ersten Mal seit dem Beginn
ihres Gesprächs schaute er nach unten, wandte den Blick ab von der
Höhlenöffnung und der dahinter lauernden Nacht. »Wenn wir noch
klein sind, erzählen unsere Mütter uns alle möglichen Geschichten,
damit wir vor Angst aufkreischen und große Augen machen und bis zur
Morgendämmerung im Großen Rundhaus bleiben. Damals hatte ich diese
Geschichten natürlich geglaubt, so wie eben alle Kinder ihren
Müttern glauben. Auf der anderen Seite aber habe ich diese Sagen,
die sie mir über die Hirschkrieger erzählten, auch über die Eceni
gehört. Und zumindest, was die Geschichten über die Eceni
anbelangt, so habe ich noch keine davon bewahrheitet
gesehen.«
Er wagte es nicht, Graine in die Augen zu blicken.
Der Bluterguss an seiner Lippe, den Valerius ihm mit seinem Messer
beigebracht hatte, war zu einem hellen Grün verblasst. Und hätte
Graine nicht gewusst, wo genau sie nach dieser Wunde zu suchen
hätte, wäre sie ihr mit Sicherheit nicht aufgefallen. Und ohnehin
besaß der kaum noch sichtbare Erguss nun nicht mehr jene Bedeutung,
die Graine ihm einst beigemessen hatte.
Hawk war der beste Falkenspäher seiner gesamten
Generation gewesen, und dafür hatte Valerius ihn nicht besser
behandelt als einen überheblichen Welpen, der erst noch abgerichtet
werden musste. Die Anhänger des gehörnten Gottes betrachteten Hawk
nicht minder herablassend. Graine dachte, dass Valerius womöglich
recht gehabt hatte mit der Art, wie er Hawk behandelte.
Andererseits aber glaubte sie, dass die Reise nach Mona und alles,
was sich dann dort auf der Insel ereignet hatte, Hawk verändert
hatte, sodass die Hirschkrieger Hawk nun vollkommen falsch
einschätzten. Aber selbst wenn man ihnen hätte begreiflich machen
können, wie falsch sie mit ihrer Meinung lagen, hätten sie den
jungen Coritani wohl auch nicht besser behandelt.
Gunovar schluckte das letzte Bröckchen ihres
Haferkuchens hinunter und wischte sich die Finger an ihrer Tunika
ab. »Sie werden ihn zu dem Gehörnten stilisieren, mit Farbe und
einem Geweih, und dann muss er mit mir tanzen und sich am Ende des
Tanzes mit mir vereinigen. Wenn er nicht tanzt oder sich weigert,
sich mit mir zu vereinigen, werden sie ihm die Haut abreißen und
diese dann einem der ihren überlegen, der das Ritual an Hawks
Stelle zu Ende führen muss. Falls Hawk aber doch tut, was man von
ihm verlangt, und wenn er gut tanzt, werden sie ihn auf eine andere
Art töten. Und dieser Tod wird dann im Gegensatz zum Häuten auch
ein deutlich rascherer Tod sein, sodass sein Sterben gerade so
lange dauert, wie die Sonne und der gehörnte Mond nach
Sonnenaufgang noch gemeinsam am Himmel stehen.« Vorsichtig spreizte
sie die Finger, auf dass jedermann erkennen konnte, wo die
Inquisitoren ihr die einzelnen Glieder gebrochen hatten. »Es hilft,
das Ganze schon vorher zu wissen«, fuhr sie fort. »Und wenn ich du
wäre, würde ich tanzen, wenn sie mich dazu auffordern, und ich
würde auch alles andere tun, was sie von mir verlangen. Und was du
auch tust - ich werde es dir sicherlich nicht nachtragen.«
Geschmeidig, ganz ähnlich einer Eule, wandte Hawk
den Kopf. »Wie?«, fragte er. »Wie werden sie mich töten, wenn ich
tue, was sie von mir erwarten?«
»Genauso, wie sie es schon angefangen haben. Du
wirst unter ihren Messern sterben. Oder in den Flammen. Ich denke,
man wird dich sogar wählen lassen, wie du sterben möchtest.«
»Genau das haben uns auch unsere Mütter damals
erzählt«, erwiderte Hawk leise. Er klang überrascht, fast schon
erleichtert. »Und du hast recht. Es ist tatsächlich einfacher, wenn
man weiß, wie man sterben wird.« Hawk zögerte einen Moment, dann
sank auch er zu Boden, setzte sich neben seine Gefährten und nahm
einen der verbrannten Haferkuchen entgegen. Erschöpft ließ er sich
von Efnís und Dubornos in eine Unterhaltung über die Höhle und die
Art der Malerei verwickeln. Irgendwann wandte das Gespräch sich
anderen Themen zu, in jedem Fall aber starrte Hawk nicht mehr
hinaus in die Dunkelheit.
Nach einer Weile, als noch immer nichts Besonderes
passiert war, außer dass noch mehr Hirschkrieger in die Höhle
geklettert kamen und das Feuer noch höher aufschichteten, bat Hawk
Dubornos und Efnís, sein Haar in der Tradition der Eceni zu
flechten, mit dem Kriegerknoten an der Seite und einer einzelnen
schwarzen Kriegerfeder neben seiner Schläfe. Efnís überreichte ihm
außerdem eine Kette mit kleinen Bernsteinperlen, geschnitzt in der
Form von Traumtieren: sechsbeinige Bären, die Wildkatzen mit
überlangen Zähnen verfolgten, und Otter, die Schlangen zwischen
ihren Kiefern hielten. Bellos hatte einen bronzenen Schmuckreif,
der sich sehr gut machte an Hawks Arm, und Gunovar zupfte ein wenig
rote Wolle aus der Stickerei, mit der ihre Tunika eingefasst war,
und knotete diesen Wollstrang um den Kiel der Kriegerfeder und
kennzeichnete Hawk damit als einen, der sein eigenes Leben aufs
Spiel gesetzt hatte, um andere aus einer Schlacht zu retten. Als
seine Gefährten fertig waren, sah Hawk mit einem Mal wie verwandelt
aus.
Nachdenklich bemerkte Dubornos: »Obwohl sie dich
natürlich als Coritani haben wollen, und nicht als Eceni...«
»Na, dann sollen sie mich eben wieder abschmücken«,
entgegnete Hawk mit einen Grinsen. »In jedem Fall werden sie dann
wissen, dass sie es waren, die mich zu dem stilisiert haben, den
sie gerne sehen wollen.«
Der Ritus des gehörnten Gottes begann mit drei
jungen Frauen, die über und über mit schwarzen Spiralen bemalt
waren und die auf kleinen Flöten spielten, welche aus
Rotwildgeweihen geschnitzt waren. Die Flöten gaben tiefe, sanft
hallende Töne von sich, ganz ähnlich denen der Nachtvögel.
Die Musik wurde lauter, dann wieder leiser und
umwob Hawk mit einem Gespinst aus Klängen, ganz ähnlich den
Maschen, mit denen ein Fischernetz sich immer dichter um einen
Lachs schließt, bis die Flöten Hawk schließlich von den anderen
fortgelockt hatten und er unmittelbar vor der Feuerstelle stand.
Die Krieger bedeuteten ihm, dass er nördlich der Flammen stehen
bleiben sollte, dem Platz des Jägers, des Kriegers, des gehörnten
Gottes. Der Zeremonienmeister war der gleiche Mann, der Graine und
ihre Mitreisenden gefangen genommen hatte. Stolz richtete er sich
auf, war aber trotz seiner kräftigen Statur deutlich kleiner als
Hawk. Außerdem fehlte ihm das glänzende Haar, das Hawks Kopf
zierte, und seine bronzene Haut war einfach nur bronzebraun, sonst
nichts, während Hawks gebräunter Körper eine perfekte Symbiose
einging mit dem gleichfarbigen Armreif und dem Bernsteinschmuck,
den er um seinen Hals trug und dessen Perlen nun beinahe wie
flüssiges Gold schimmerten. Nicht zuletzt trug der Hirschkrieger
auch keinerlei Kriegerfedern, weder solche mit einem roten Band um
den Kiel, noch solche ohne dieses besondere Kennzeichen, und alles
in allem wirkte der Zeremonienmeister weitaus unbedeutender als
sein Opfer und wusste dies auch.
»Die Coritani verehren den Gehörnten mehr als jeden
anderen Gott, mit Ausnahme von Briga, natürlich. Und dennoch senden
wir unseren Göttern kein Leben, das nicht freiwillig gegeben
wurde«, erhob Hawk die Stimme.
»Auch wir tun das nicht«, widersprach der Anführer.
»Und wenn du verstehst, was wir von den Göttern erbitten und was
die Götter im Gegenzug dafür von uns verlangen, wirst du deinem Tod
bereitwillig und mit offenen Armen entgegenschreiten. Die Musik und
der Tanz sind nur dazu da, um dir das Übertreten in das Land hinter
dem Leben zu erleichtern.«
Drei junge Männer, geschmückt mit weißen Streifen,
führten Gunovar zu Hawk hinüber. Sie hinkte, gezeichnet von den
Grausamkeiten der römischen Inquisitoren, und hatte sich auch
keinerlei Schmuck angelegt. Dennoch wirkte sie sehr würdevoll.
Vorsichtig nahmen die Männer ihr den Stirnreif der Träumer ab und
reichten ihr stattdessen eine Halskette, die aus den Rückenwirbeln
eines Hirsches gefertigt war.
Die Hirschkrieger stellten sich in zwei parallelen
Reihen auf. Dann nahmen die beiden Vordersten jeweils einen der
Hirschschädel auf und begannen, rhythmisch mit einigen Knochen
darauf zu schlagen, ganz ähnlich, wie auch die Tänzer der
Bärinnenkrieger auf ihre Schädeltrommeln schlugen, nur dass das
Trommeln der Hirschkrieger ein wenig harmonischer klang.
Der Zeremonienmeister ergriff sein Messer und fügte
dem Opfer des Ritus eine weitere Schnittwunde zu. Unbeweglich stand
Hawk da und ließ den Krieger gewähren. Anschließend trat der
Anführer wieder einen Schritt zurück, stieß abermals einen lauten
Schrei aus und schien sich damit wieder halb in einen Rothirsch zu
verwandeln.
»Hinaus. Alle.« Energisch fuchtelte er mit den
Armen. »Wir alle, vom Jüngsten bis hin zum Ältesten, werden nun
draußen unseren Tanz beginnen, um unter dem Licht der Sterne und
dem Schein des gehörnten Mondes den Gott willkommen zu heißen«,
erklärte er in mittlerweile auffällig geschliffener Sprache.