XIII
Die besondere Leuchtkraft der Sterne, ihre scharf
umrissene Form und die Muster, die sie im leeren Raum bildeten, all
das verriet Bellos, dass er träumte.
Er sah sich die winzigen Lichtpunkte eine Zeit lang
an, bis sie sich zu Bildern zusammenfügten, die einen Sinn ergaben:
Der Jäger entbot dem Hasen, so wie er es immer tat, seinen Gruß.
Der Hase wiederum wurde auf ewig gehetzt von dem Hund. Die Schlange
betrachtete die Göttin und die drei Schwäne, die diese begleiteten.
Und so versunken, wie er in die Betrachtung dieser wundersamen
Erscheinungen war, erinnerte Bellos sich nicht gleich wieder daran,
dass unter den Sternbildern in der Welt seiner Blindheit weder
Schlange noch Göttin oder Schwäne jemals anzutreffen waren, und es
dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass, wenn die Göttin
jetzt, in der Traumzeit, zu ihm kam, ganz gleich, in welcher
Gestalt, ihr Erscheinen eine besondere Bedeutung haben
musste.
Angestrengt bemühte er sich, seine Aufmerksamkeit
zu sammeln und sich nicht in den kleinen, unbedeutenden Dingen zu
verlieren, die ihn womöglich wieder in den Nebel unklarer Träume
zerren könnten, sondern sich stattdessen jene rituellen Fragen ins
Gedächtnis zurückzurufen, die ein Träumer, wenn er seinem Gott
begegnete, diesem stellen durfte.
Ein Zaunkönig flatterte an ihm vorbei, und Bellos
war schon drauf und dran, es dem Vogel nachzutun und sich ebenfalls
in die Lüfte emporzuschwingen, um den Nervenkitzel des Fliegens und
das Gefühl der Freiheit zu erleben. Doch barsch befahl ihm seine
eigene Stimme: »Halt ein! Denk nach!« Und so hielt Bellos inne,
dachte nach und rief sich wieder in Erinnerung, dass er ja träumte
und zum Firmament hinaufschauen sollte. Mittlerweile war die Göttin
oben am Himmel etwas näher zu ihm herabgesunken und ihre Gestalt
aus noch mehr Sternen zusammengefügt als zuvor, und ihre Begleiter,
die Schwäne, hatten sich im Kreis bewegt und ihre Zahl
verdreifacht, sodass es nunmehr neun waren. Bellos’ Füße
kribbelten, und sein Atem versengte ihm geradezu die Kehle.
In rauem, gepresst klingendem Ton fragte er: »Was
willst du von mir?«
Und eine Stimme, die er schon vor seiner eigenen
Geburt gekannt hatte, antwortete: »Bellos, wen liebst du?«
Langsam sickerten die Worte in sein Bewusstsein,
steckten sein Blut, seine Knochen, sein Fleisch in Brand - die
Stimme der Übermutter, die ihn jederzeit in das Land hinter dem
Leben hätte heimrufen können, wenn es ihr so gefallen hätte, die
ihn jedoch stattdessen seine ihm zugedachte Zeitspanne auf Erden
verbringen ließ, mit einer nur äußerst vagen Erinnerung an ihre
Gesellschaft, um ihm das Herz zu wärmen.
»Du bist es, die ich vor allem liebe«, antwortete
Bellos.
Sie lachte mit ihm und für ihn und durch ihn und
dann, plötzlich wieder ernst, sagte sie: »Und wenn du auf der Erde
bist und ich nur noch eine in Stein und Holz geschnitzte Erinnerung
bin, wen liebst du dann?«
Er hätte antworten können: »Thorn«, tat es aber
nicht, denn im Traum sagt man nicht die Halbwahrheiten, die man bei
Tag gelegentlich von sich gibt. Und so antwortete er stattdessen:
»Ich liebe Valerius, allerdings nur so, wie ein Sohn seinen Vater
liebt. Und er weiß das auch.«
»Vielleicht.« Die Göttin, der schon seit langer
Zeit sein ganzes Herz gehörte, überlegte eine Weile. Bellos
befürchtete, den Kontakt zu ihr womöglich wieder zu verlieren, und
so strengte er sich an, seine Aufmerksamkeit auf die letzte Woge
ihrer Stimme zu konzentrieren, als diese wieder und wieder über ihn
hinwegrollte. Schließlich sagte die Göttin:
»Wenn es da jemanden gäbe, der Hilfe bräuchte, und
wenn die Hilfe, die man demjenigen gewährte, zugleich auch Valerius
zugute käme - würdest du dann helfen, selbst wenn ich dir sage,
dass dich das mehr kosten könnte, als du dir vorstellen
kannst?«
Diese Frage sollte kein Gott jemals stellen müssen.
Bellos sprach also ohne jede Furcht mit der anderen Seite des
Todes, denn er könnte gleich morgen sein Leben opfern und würde
doch keinerlei Bedauern darüber empfinden. »Natürlich würde ich
helfen«, erklärte er.
»Ich danke dir. Damit erweist du mir einen großen
Dienst. Also, pass gut auf und tu, was du tun musst.«
In diesem Moment kehrte der Zaunkönig, der zuvor
schon einmal seine Aufmerksamkeit erregt hatte, wieder zurück, und
diesmal war es Bellos unmöglich, es dem Vogel nicht nachzutun.
Diesmal musste er sich einfach emporschwingen, um das berauschende
Gefühl des Fliegens und der Freiheit auszukosten, um Rückgrat und
Glieder zu strecken, die köstliche Frische des Tages zu genießen
und zu erleben, wie all seine Sinne sich schärften, und um
schließlich, von ganz hoch oben, auf ein kleines Mädchen mit
ochsenblutrotem Haar hinabzuschauen, das aufrecht und mit
überkreuzten Beinen vor einem Feuer und einer Waffe saß, während
hinter ihr in der Dunkelheit ein muskulös gebauter junger Krieger
lag.
Beim Anblick des Kindes hielt Bellos abrupt inne
und hörte auf, ein Zaunkönig zu sein. Lange Zeit wusste er nicht,
welche Gestalt er daraufhin annahm, er wusste bloß, dass es ihm
möglich war, bei dem Geschehen dort unten in der Tiefe zuzuschauen
und zuzuhören und Dinge zu erfahren. Am Ende hatte er eine
ungefähre Vorstellung davon bekommen, was von ihm verlangt wurde,
wenn auch noch nicht davon, was ihn die Sache kosten könnte. Ob er
der ihm gestellten Aufgabe überhaupt gewachsen war oder wie er sie
erfüllen sollte, das war ihm allerdings noch ganz und gar nicht
klar.
Er zwang sich, aufzuwachen und reichlich Wasser zu
trinken, auf dass ihn notfalls eine volle Blase wieder aufwecken
würde, falls er in seinem Traum zu weit reiste. Und als er wieder
gemütlich unter den warmen Schaffellen lag, überließ Bellos sich
dem Schlaf und konzentrierte sich auf die Erinnerung an Valerius
und alles, was er über diesen wusste.
Das Schwert ihres Großvaters lag auf der anderen
Seite der Feuergrube und wartete.
Graine spürte das Drängen, spürte es so deutlich
wie ein drohend heraufziehendes Gewitter oder die Gefahr eines
unmittelbar bevorstehenden Krieges und konnte doch nichts dagegen
tun. Die Stille, die sie umfing, war keineswegs feindlich, doch
hinter ihren Augen pochte ein anhaltender Schmerz, der so ganz
anders war als die Schmerzen, die sie nachts am Einschlafen
hinderten, und in ihren Ohren war ein Murmeln, das nicht das
Stimmengewirr des Kriegsheeres ihrer Mutter draußen auf der
Lichtung war. Und ihr Herz war von dem Wissen erfüllt, dass ihr
Großvater da war und das dringende Bedürfnis verspürte, zu ihr zu
sprechen, und dass sie eigentlich in der Lage sein sollte, ihn zu
hören, und es doch nicht konnte.
Seufzend presste Graine die Hände vor die Augen und
verfluchte das leere Dunkel. Früher einmal hatte sie die Dunkelheit
gemocht, denn oft waren in den Phasen des Beinahe-Träumens gegen
Anfang oder Ende des Schlafs die Großmütter zu ihr gekommen und
hatten ihr die Wege der Götter und der längst verstorbenen Ahnen
gezeigt. Zu jener Zeit hatten die Pfade zwischen Leben und Tod sich
einem achtjährigen Mädchen auf eine Art und Weise erschlossen, wie
es die Außenwelt nicht tat, und wenn auch nichts jemals gewiss
gewesen war, so hatte die Anwesenheit der Großmutter ihr doch stets
ein tröstliches Gefühl der Sicherheit und Verlässlichkeit
vermittelt, das selbst die schlimmsten Ausschreitungen des Krieges
gewissermaßen noch in Schach zu halten schien.
Dann waren die Schergen Roms gekommen, um ihre
Forderungen einzutreiben und sämtliche Gräuel des Krieges mit sich
zu bringen, und da war es mit jeglicher Sicherheit aus und vorbei
gewesen. Trotz allem war Graine mit dem Leben davongekommen, was
ein Wunder war, und sie war dankbar dafür. War es von jenem Moment
an gewesen, in dem sie auf den gefalteten Schaffellen im Bett neben
ihrer Mutter aufgewacht war und die Römer fort gewesen waren und
das Kriegsheer im Begriff, sich zu versammeln, und die Welt wieder
heil.
Außer, dass die Welt eben keineswegs wieder heil
war und es auch niemals sein konnte. Denn in jenem bewussten
Moment, in dem Graine damals wieder zu sich gekommen war, war ihr
zugleich auch die Erkenntnis gedämmert, dass die Großmütter sie
verlassen hatten und dass damit auch die Fähigkeit des Träumens
unwiederbringlich für sie verloren war. Kein Geist, so schien es,
wollte sich dazu herablassen, einem achtjährigen Mädchen zu
erscheinen, das von einer halben Zenturie von Soldaten geschändet
worden war, und solange die Geister der Verstorbenen fernblieben,
blieb auch die Welt zerstört, und es gab nichts, was die Lebenden
tun konnten, um sie wieder zusammenzufügen.
Wenn Graine darüber nachdachte, dann lauerte der
Wahnsinn in bedrohlicher Nähe, oder sie war drauf und dran, von
einer Verzweiflung übermannt zu werden, so abgrundtief, dass es auf
das Gleiche hinauslief. Zwölf Tage lang hatte sie kurz davor
gestanden, irrsinnig zu werden, bis es ihr schließlich irgendwann
immer schwerer fiel, sich noch daran zu erinnern, wie sie
eigentlich vorher gewesen war.
Jetzt zwang Graine sich, den Rauch von dem Feuer
und die feuchte Luft einzuatmen, und grub ihre Fingernägel in genau
jene Rillen in ihrer Handfläche, in die sie sie auch die vielen
Male zuvor schon gegraben hatte.
Nun gab es nichts mehr, was sie noch hätte ablenken
können. Zum ersten Mal seit dem Tod des Prokurators herrschte
Stille in der Siedlung. Der Lärm des Krieges hatte Graine nämlich
auch eine gewisse innere Ruhe beschert. Sie hatte allein in ihrer
Hütte gelegen, bis die Stimmen der Kriegerinnen und Krieger sich
irgendwann zu einer Decke wortloser Geräusche verwoben hatten, die
einem Kind, welches das dringende Bedürfnis hatte, vertraute Laute
zu hören, ein Gefühl der Sicherheit vermitteln konnte.
Auch der Rauch hüllte Graine ein wie eine
schützende Decke. Die Luft war feucht von dem Regen geworden, der
unentwegt auf das Reetdach der Hütte trommelte, und der Rauch aus
der Feuergrube kroch erst einmal seitwärts zu den Wänden hinüber,
bevor er schließlich zum Dach emporstieg. Die Rauchschwaden waren
so dicht, dass sie den Lichtschein des Feuers fast vollständig
dämpften und nur ein ganz tiefes Rot über die Ränder der Grube
hinaussickerte, um das gegenüberliegende Schwert in seine Glut zu
tauchen.
Das Schwert: Es war das Kampfschwert ihres
Großvaters mit seiner Klinge aus bläulich schimmerndem Eisen und
der in Bronze gegossenen Gestalt der säugenden Bärin als Knauf.
Drei Jahre war es her, dass die Bodicea die Waffe an einem Ort
versteckt hatte, den kein Mensch finden konnte, doch Valerius hatte
das Schwert dennoch gefunden und wieder zurückgebracht, um es unter
einem Stein zu vergraben, der schon seit der Zeit der ältesten
Ahnen der Göttin Briga geweiht gewesen war.
Hätten die Großmütter noch immer zu Graine
gesprochen, hätten diese ihr sagen können, wie so etwas hatte
geschehen können. Auch Eburovic, ihr Großvater, dem das Schwert
einst gehört hatte und der mit ebendieser Klinge in der Hand im
Kampf gefallen war, hätte womöglich zu ihr gesprochen - wenn sie
ihn denn noch hätte hören können.
Doch es sprach niemand zu Graine. Nur das Feuer
verströmte weiterhin seinen matten, blutroten Schein und überzog
die Klinge mit einem ebenso blutig anmutenden Glanz, ganz so, als
ob sie gerade erst benutzt worden wäre. Und das Gefühl des Wartens
war jetzt noch drängender und intensiver als zuvor, und doch gab es
nichts, was Graine dagegen hätte tun können.
Im Übrigen war sie schon immer ein geduldiges Kind
gewesen, selbst Rom hatte ihr diese Eigenschaft nicht austreiben
können. Lange Zeit saß sie vollkommen still und reglos da.
Unaufhörlich krochen die Rauchschwaden von der Feuerstelle über den
Boden, um schließlich langsam an den Wänden hinaufzudriften. Durch
Löcher und Ritzen in dem schadhaften Dach tröpfelte unentwegt der
Regen. Und jenseits der Hüttenwände, wo solche Dinge keine Rolle
spielten, fluchte ein Mann. Eine Frau lachte kehlig, eine andere
stimmte in ihr Lachen ein. Drei Hunde balgten sich lautstark um
irgendwelche Speisereste vom Abfallhaufen. Eine Henne hoch oben in
den Dachsparren der Hütte gluckste zufrieden und plusterte ihr
Gefieder auf. Und dabei löste sich eine ihrer Federn und schwebte
in die Tiefe, schwebte so unendlich langsam hinab, dass es gut und
gerne die ganze Nacht dauern könnte, bis sie endlich das Kind
berührte, das wie gebannt den Flug des flaumigen Gebildes
verfolgte...
»Graine?«
Das Feuer war lange erloschen, weil niemand Holz
nachgelegt hatte. Der Regen hatte aufgehört, und mittlerweile war
es einen Tag und eine Nacht her, dass die Krieger aufgebrochen
waren, um die Soldaten Roms anzugreifen. Die sanfte Stimme, die da
vom Eingang her sprach, gehörte Valerius, obgleich er eigentlich
nicht hätte da sein dürfen. All dieser Dinge wurde Graine sich
bewusst, noch bevor ihr aufging, dass sie auf der Seite lag und in
genau dieser Haltung eingeschlafen war und dass die Feder
möglicherweise der Anfang eines Traums gewesen war - ihres ersten
Traums, der frei von jeglicher Erinnerung an jene Nacht war, die
sie seelisch und körperlich gebrochen hatte.
Sie klammerte sich an den sich rasch
verflüchtigenden Schatten, von dem verzweifelten Bedürfnis erfüllt,
ihn festzuhalten und zurückzuholen.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.«
Valerius war noch immer da. »Soll ich besser wieder gehen?«
»Nein.« Graine setzte sich auf. »Ich bin ja wach.«
Leicht verwirrt schaute sie sich um. »Ich dachte, du wärst
unterwegs mit der Neunten Legion, um sie in einen Hinterhalt zu
führen?«
»Das war ich auch. Der erste Teil des Überfalls aus
dem Hinterhalt ist vollbracht. Jetzt reite ich gerade mit dem
Kriegsheer deiner Mutter, um Cunomar bei einem Angriff auf das
Nachtlager der Römer zu unterstützen.« Wie er bei ihr in der Hütte
sein und gleichzeitig mit den Kriegern reiten konnte, das erklärte
Valerius nicht. Graine kam aber auch nicht auf die Idee, ihn danach
zu fragen. »Ich kann nicht bleiben«, fuhr er fort. »Ich muss bei
den Kriegern sein. Aber ich habe deinen Großvater mitgebracht,
damit er zu dir spricht.«
Verdutzt rieb Graine sich die Augen und starrte in
die Dunkelheit neben der Tür. »Wieso kann ich ihn nicht
sehen?«
»Wenn du mich sehen kannst, dann genügt das
vollauf. Was möchtest du ihn denn fragen?«
So viele Fragen. Warum kann ich nicht mehr
träumen? Was wird nötig sein, um mich zu heilen? Alle möglichen
Worte tanzten wild in ihrem Kopf herum. Aus keinem besseren Grund
als dem, weil ihr Blick zufällig gerade auf die Waffe fiel, fragte
sie: »Was soll denn nun aus seinem Schwert werden?«
Sie wartete, spähte angespannt in die Dunkelheit.
Aus der Gestalt, die Valerius war, sprach nun die Stimme ihres
Großvaters: Du bist die Besitzerin, kannst das Schwert aber
nicht behalten. Einer, der durch Erde und Himmel an dich gebunden
ist, soll es an deiner Stelle tragen und zu deiner Verteidigung
schwingen.
»Etwa Hawk?«, fragte Graine. »Er hat den Eid auf
Erde und Himmel geleistet und sich verpflichtet, mich zu schützen,
aber er ist kein Eceni.«
Stille. Von plötzlicher Panik befallen, fragte
Graine: »Valerius?«, und dann, als sie noch immer keine Antwort
bekam, brüllte sie fast schon: »Valerius!«
Seine Stimme hörte sich an, als ob sie aus weiter
Ferne käme. »Es tut mir leid. Ich muss jetzt gehen. Aber es ist
noch jemand hier, der dich unbedingt sehen muss, jemand, der noch
im Land der Lebenden weilt. Ein Freund. Darf er
hereinkommen?«
»Wenn er ein echter Freund ist, ja.«
Valerius war zu schemenhaft, als dass Graine ihn
richtig hätte erkennen können. Dann wich er vollends in die
Dunkelheit zurück, und schon kam jemand anderer herein, jemand, der
jedoch nicht Hawk war und auch nicht Dubornos oder Ardacos oder
sonst irgendjemand aus dem engsten Kreis der Bodicea. Er trat einen
Schritt vor, und plötzlich war die Hütte von hellem Feuerschein
erfüllt, es tanzte Licht, wo einen Moment zuvor noch tiefe
Dunkelheit geherrscht hatte.
Der Neuankömmling ließ sich auf dem Platz nieder,
wo für gewöhnlich Hawk zu sitzen pflegte, doch vom Äußeren her war
er das genaue Gegenteil des dunklen Coritani: so blond wie frisch
gedroschener Weizen, mit leicht welligem Haar und hellen Brauen,
die silbrig schimmernde Bogen in einem blassen Gesicht bildeten.
Seine Augen waren die einer Wildkatze - an den Rändern von einem
ins Grüne spielenden Gelb und durchdringend hell und scharf. Sie
beobachteten Graine mit stechendem Blick, häuteten sie förmlich,
zerlegten sie und setzten sie schließlich wieder zusammen.
Eigentlich hätte sie dabei Unbehagen empfinden sollen, stellte
jedoch fest, dass ihr die scharfe Musterung nichts ausmachte. Und
so starrte sie lediglich zurück und beobachtete, wie der
durchbohrende Blick ihres Gegenübers abrupt milder wurde.
»Es tut mir leid, das war überflüssig.« In einer
Geste äußerster Ehrerbietung drückte der Fremde seine Handfläche
gegen die Stirn. Er sprach mit einem leicht singenden Tonfall, den
Graine manchmal auch in Valerius’ Stimme mitschwingen hörte. »Ich
bin Bellos«, sagte er. »Und du bist Graine, die von Nemain
ist.«
»Die von Nemain war. Inzwischen bin ich es
nicht mehr.« Allmählich fiel es ihr etwas leichter, darüber zu
sprechen. Und Bellos zuckte bei dieser Erwiderung auch keineswegs
zusammen, so wie ihre Mutter es getan hatte. »Ich kann die Wege zu
den Göttern nicht mehr sehen«, fuhr Graine fort. »Deshalb bin ich
jetzt nur noch Graine, Tochter von Breaca.«
»Und zugleich auch Graine, Tochter von Caradoc.
Vergiss niemals, wer dein Vater war. Als ich noch ein Kind war, bin
ich ihm einmal begegnet. Er wäre stolz auf dich gewesen, genauso,
wie du es auch auf ihn sein solltest. Jedes Kind wäre stolz darauf,
diese beiden Menschen als Eltern zu haben, aber du warst noch mehr
als das, und du könntest es wieder sein, könntest die Fähigkeit des
Sehens wieder zurückerlangen. Möchtest du wieder geheilt
werden?«
»Natürlich«, fauchte Graine ohne nachzudenken und
sah, wie die Katzenaugen ihres Gegenübers sich weiteten.
Mit ruhiger Stimme erwiderte Bellos: »Sieh dich
vor. Es ist nicht gut, im Traum leere Worte von sich zu
geben.«
»Aber dies ist doch gar kein...« Abrupt hielt
Graine inne. Valerius war nicht mehr als ein Schatten gewesen und
dann ganz plötzlich wieder verschwunden, zurückgekehrt zu seinen
Kriegern, um durch die Nacht zu reiten und den Geist Eburovics mit
sich zu nehmen. Bellos hatte mit einer einzigen schwungvollen
Bewegung seiner Hand ihr Feuer angezündet, und dennoch spendeten
die Flammen keinerlei Wärme sondern nur gerade genug Licht, dass
Graine ihren Besucher sehen konnte. Hawk schlief tief und fest auf
seinem Lager; sie konnte den gleichmäßigen Rhythmus seiner Atemzüge
hören. »Aber das kann doch gar nicht sein«, sagte sie verwirrt.
»Ich habe doch die Gabe des Träumens verloren.«
Sie spürte, wie Bellos lächelte. »Dies ist ja auch
mein Traum, das Geschenk Brigas. Ich bin auf Mona. Wenn du
wieder genesen möchtest, dann musst du hierher zu mir nach Mona
kommen.«
»Die Legionen sind an der Westküste und bereiten
sich darauf vor, Mona anzugreifen und alle, die noch auf der Insel
geblieben sind.«
»Ich weiß. Aber noch haben die Kämpfe nicht
begonnen. Und ich werde auch weiterhin hier ausharren, bis die
Schlacht anfängt und bis sie dann, irgendwann, wieder vorüber
ist.«
»Hawk wird mich nicht gehen lassen.«
»Doch, das wird er.« Mit einem Mal sah Graine Hawk
hinter Bellos stehen. Seine Augen waren so scharf und klug wie die
des Habichts, dem er seinen Namen verdankte.
»Meine Mutter war eine Träumerin des Gehörnten«,
erklärte Hawk. »Sie würde niemals zulassen, dass ich einem anderen
Menschen im Wege stehe, wenn dieser die Zwiesprache mit den Göttern
sucht. Wenn du unbedingt nach Mona gehen musst, werde ich dir
helfen, einen Weg dorthin zu finden.«
»Danke.« Abermals legte die Traumerscheinung in
Gestalt von Bellos ehrerbietig ihre Hand an die Stirn. »Ihr solltet
im Morgengrauen aufbrechen.«
»Das können wir nicht. Wir müssen erst noch Mutter
Bescheid sagen.«
Von irgendwo aus weiter Ferne erklang Valerius’
Stimme: »Breaca ist gerade auf dem Rückweg zu dir. Sie wird noch
vor Tagesanbruch wieder in der Siedlung sein. Dubornos ist bei ihr,
und auch Gunovar. Beide kennen die Wege, die nach Mona führen, und
könnten euch dorthin begleiten. Richte ihnen aus, dass ich das
gesagt habe, und denk an die Worte deines Großvaters! Hawk sollte
das Kampfschwert der Ahnen tragen. Hawk, nicht Dubornos. Das hat
Eburovic ausdrücklich gesagt.«
»Aber wie sollen wir denn...«
Plötzlich leerte sich die Luft und füllte sich dann
wieder. Graine schlug die Augen auf. Bellos war verschwunden, das
Feuer noch immer nicht angezündet. Und die Feder schwebte weiterhin
schwerelos von der Decke herab. Hawk schlief vernehmlich
schnarchend auf seinen Fellen. Hellwach lag Graine in der
Dunkelheit und horchte voller Anspannung auf das Trappeln von
Pferdehufen, das von der Rückkehr ihrer Mutter künden würde.