XIX

»Dort drüben in den Bäumen bewegt sich irgendetwas.«
Corvus, Präfekt der Fünften Gallischen Kavallerieeinheit, zügelte seine rotbraune Stute, bis diese neben Ursus stehen blieb. Allerdings achtete Corvus dabei sorgsam darauf, auf der Windseite von Ursus und dessen Umhang aus schlecht gegerbtem Wolfspelz zu bleiben. Noch immer trug Ursus dieses Fell hartnäckig um die Schultern geschlungen, und wenn es über Ursus vielleicht auch sonst nichts sonderlich Bemerkenswertes zu erwähnen gab, so konnte man in diesen Tagen doch zumindest stets ganz genau sagen, wo dieser sich gerade aufhielt.
Der Gerechtigkeit halber allerdings sollte erwähnt werden, dass es natürlich schon noch mehr über Corvus’ Dekurio zu berichten gäbe. Beispielsweise war Ursus es gewesen, der den südlicheren der beiden Anleger hatte in Flammen aufgehen lassen, um feindlichen Booten das Anlanden zu erschweren - oder wenigstens hatte er den Befehl dazu gegeben und dafür Sorge getragen, dass dieser auch ordnungsgemäß ausgeführt wurde. Außerdem war es auch allein ihm zu verdanken, dass die Versorgungskette, die die Verpflegung der Männer und Pferde während der vierzehntägigen Bauzeit der Leichter sicherstellte, keinen Einbruch erlitt. Ursus hatte auch die Weitsicht bewiesen, den Lagerplatz des batavischen Flügels der Kavallerie bereits von vornherein ein gutes Stück abseits der anderen Zelte anlegen zu lassen, sodass schon alles vorbereitet war und keine Abänderungen in der Zuweisung der Plätze mehr möglich waren, als schließlich mit dreitägiger Verspätung auch die großen, stämmigen germanischen Reiter endlich zu Corvus’ Truppen stießen. Die Abenddämmerung legte sich bereits über das Land, als die Bataver angeritten kamen, ihre Gesichter noch immer grünlich bleich von Übelkeit und Diarrhö. Vor allem aber strömte von den Fetischen, mit denen diese Männer sich behängt hatten, ein noch üblerer Gestank aus, als selbst Ursus’ Wolfsfell ihn jemals hätte produzieren können, selbst dann nicht, als Ursus das gute Stück gerade frisch erstanden hatte. Somit war es allein dem Zweiten Dekurio zu verdanken, dass die ohnehin bereits von Nebel und feuchter Kälte heimgesuchten Legionare wenigstens nicht auch noch Opfer des unerträglichen Gestanks der Bataver wurden. Und welche Gottheit in dieser Zeit auch immer über Corvus wachen mochte - der Präfekt dankte ihr von ganzem Herzen.
Aufmerksam ließ er nun den Blick zu jener Stelle hinüberschweifen, zu der auch Ursus starrte, und entgegnete: »Da konnte man doch schon vor Tagesanbruch Bewegung erkennen. Aber es stimmt, diesmal spielen sich die Aktivitäten an anderer Stelle ab, und es scheinen auch mehr Menschen zu sein, die dort umherhuschen, als vorhin. Außerdem schleppen sie irgendwelche Töpfe mit sich herum. Töpfe, von denen Rauchschwaden aufsteigen. Und das bedeutet in jedem Fall nichts Gutes. Aber das müssen wir eben hinnehmen, daran können wir jetzt nichts mehr ändern. Ich meine, sie hätten ja schon ziemlich dumm sein müssen, wenn sie nicht bemerkt hätten, dass wir in Kürze eine komplette Flotte gegen sie schicken werden.«
»Wir könnten das Auslaufen unserer Flotte doch noch eine Weile verschieben, damit es vielleicht nicht ganz so offensichtlich ist, dass wir heute noch angreifen wollen. Ah, ich glaube, jetzt zünden sie da drüben auch noch Feuer an. Der Rauch ist bereits so dicht, dass man nicht mehr hindurchsehen kann.«
»Ich weiß, aber so kampfwillig wie heute Morgen waren die Bataver noch nie und werden es wahrscheinlich auch nie mehr sein. Das ist ganz einfach eine Tatsache. Und falls wir trotzdem noch einen halben Tag warten würden, schiebt sich bestimmt wieder irgendeine unheilvoll deformierte Wolke vor die Sonne, oder um den Mond bildet sich ein roter Hof, oder ein Sperber jagt einen Rotkehlchenhahn über einen Stein mit einer bestimmten Färbung, und dann zieht sich die komplette batavische Kavallerie wieder in ihre Zelte zurück, um gleich darauf noch eine Stute zu opfern und sich aus deren Innereien noch mehr Halsbänder zu knüpfen. Halsbänder, in die einige Pferdeschweifhaare und die Armknochen eines neugeborenen Mädchens geknotet werden. Wenn du nun also so freundlich wärst, nicht noch weiter...«
Abrupt hielt Corvus inne. Ursus starrte seinen Präfekten entgeistert an, die Nasenlöcher so stark geweitet, dass ihre Ränder bereits weißlich schimmerten. »Bitte sagt mir, dass Ihr Euch das gerade eben alles nur ausgedacht habt.«
Angenehm überrascht stellte Corvus fest, dass Ursus eindeutig einen gewissen Sinn für Humor entwickelt hatte, ein Umstand, für den der Präfekt nur allzu dankbar war, zumal die ihn umgebenden Bataver im Gegensatz dazu kaum wussten, was der Begriff Spaß überhaupt bedeutete. Corvus grinste versöhnlich und entgegnete: »Schon gut, wenn du darauf bestehst - ja, ich geb’s ja zu, das habe ich mir natürlich nur ausgedacht. Zumindest einen Teil davon. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass es alles gelogen ist. Vom Prinzip her ist die Lage nämlich genauso, wie ich sie dir gerade beschrieben habe. Aber entweder, wir lassen die Bataver jetzt gleich antreten - im Moment sind sie ja halbwegs nüchtern - und schicken sie noch vor Mittag ins Wasser, oder aber wir werden die Meerenge nie überqueren. Und wenn dann der Gouverneur hier auftaucht und die Kavallerie sich auf der Insel noch immer kein Land erkämpft hat, das als Brückenkopf den kostbaren Booten des Gouverneurs eine gefahrlose Anlandung ermöglicht... dann können wir uns im Grunde auch gleich selbst das Schwert in die Brust rammen.«
»Ich dachte, wir sollten den Leichtern während ihrer Überfahrt nur als Eskorte dienen?«
»Nein. Deshalb bin ich auch hierhergekommen, um dir das zu sagen. Wie es scheint, hat Paulinus endlich einmal auf den Rat seiner Kavalleriekommandeure gehört. Ein Kurier war gerade bei mir, der mir die Planänderungen mitgeteilt hat. Man hat offenbar beobachtet, wie sich die Krieger und die Träumer der Insel zu einer Versammlung zusammengefunden haben. Aber die Kommandeure wollen ihre Truppen natürlich nicht gegen feindlichen Widerstand anlanden lassen. Der Gouverneur hat also verlangt, dass erst einmal nur wir rüberschwimmen, um uns ein Stück des Ufers zu erkämpfen und diesen Brückenkopf dann so lange zu halten, bis die Boote sicher angelandet sind. Und er will, dass wir jetzt sofort aufbrechen. Wenn wir uns also beeilen, schaffen wir es noch hinüber, ehe der Gezeitenwechsel einsetzt. Und darum wird es jetzt höchste Zeit, die Männer antreten zu lassen.«
Ein Paar kleiner, schwarz-weiß gefiederter Vögel schoss so dicht über den Wellenkämmen über das Meer, dass es beinahe einen kleinen Pfad in das Wasser zu pflügen schien.
Ein, zwei Flügelschläge lang flogen sie parallel zum Festland. Dann drehten sie in westliche Richtung ab und steuerten direkt auf Mona zu. Sowohl der Präfekt als auch sein Zweiter Dekurio schauten den Tieren nach. Schließlich fragte Ursus in nachdenklichem Tonfall: »Ihr habt doch früher einmal mitten unter diesen Leuten gelebt. Ist es wahr, dass die Träumer ihre Seelen in Gestalt von Vögeln ausschicken können, um auf diese Weise den Feind auszuspionieren?«
Corvus verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich hoffe, nicht. Und falls doch, möchte ich doch sehr hoffen, dass sie kein Latein verstehen.«
 
»Halt das verdammte Pferd fest, oder ich werde dir gleich höchstpersönlich die Kehle durchschneiden!«
Ursus brüllte, dass ihm beinahe schon die Stimme versagte. Im Grunde aber hätte er ebenso gut auch bloß flüstern können. Auf dem Festland hatten die Männer mit ihren Tieren zu kämpfen. Männer, die bereits reiten konnten, noch ehe sie laufen gelernt hatten, hatten Mühe, ihre Pferde unter Kontrolle zu halten. Pferde, die darauf gedrillt und abgerichtet waren, jedem der Befehle ihres Herrn sofort Folge zu leisten. Zusätzlich trugen sie Gebissstangen im Maul, die hart genug waren, um den Tieren im Zweifelsfall sogar den Gaumen zu durchbohren, falls sie ihr jahrelanges Training vergessen sollten und ihre Reiter damit zwängen, ihren Willen mit Hilfe von Schmerzen zu brechen.
Doch ganz offensichtlich war genau das im Augenblick der Fall. Die Schlachtrösser verhielten sich einfach nicht mehr so, wie man sie abgerichtet hatte, und daran konnte auch der skrupellose Gebrauch der Trensen nichts ändern.
»Es sind die Träumer! Sie haben die Pferde verhext!«, schrie einer der Bataver vom Rücken seines Tieres herab. Das Pferd hatte sich fast senkrecht auf die Hinterhufe aufgerichtet und schien geradewegs in den Himmel klettern zu wollen. Früher war das Fell des Tieres grau gewesen. Nun jedoch wirkte es pechschwarz vor lauter Schweiß, und wie weiße Bälle schienen ihm die Augen aus dem Schädel quellen zu wollen. Schaumiger Speichel mit dicken Blutschlieren rann ihm aus dem Maul, und sein schrilles Wiehern verriet größte Panik. Es wollte fliehen. Doch auch die Pferde in der Nähe dieses Tieres waren nicht mehr zu bändigen, sprangen unkontrolliert im Kreis und ließen sich von der Angst des blutenden Kavalleriepferds anstecken.
Ruhig ertönte von links Corvus’ Stimme: »Bogenschützen, tötet das Tier.«
Ein leises Zischen war zu hören, dann ein feines Sirren und schließlich jenes dumpfe Geräusch, mit dem Eisen sich in Fleisch bohrte. Der Bataver, dessen Pferd unter ihm starb, hatte glücklicherweise noch die Geistesgegenwart, aus dem Sattel zu springen, als das Tier leblos zusammenbrach. Er rollte zur Seite, bis er gegen einen Fels prallte, richtete sich wieder auf und blieb dann dort einen Moment lang sitzen, zutiefst erschüttert. Die Bataver liebten ihre Pferde, noch mehr sogar, als die Gallier oder die Thraker ihre Tiere verehrten.
Corvus brauchte seine Stimme nur wenig zu erheben, um die Stille und das plötzliche, geradezu lähmende Schweigen zu übertönen.
»Hört mir jetzt alle einmal genau zu! Ich, Corvus, habe mitten unter diesen Leuten gelebt, und ich sage euch jetzt, dass sie in der Tat in der Lage sind, in die Köpfe von Menschen einzudringen. Sie können euch mit ihren Albträumen vergiften. Und sie können Nebel heraufbeschwören, um euch auf dem Schlachtfeld in die Irre zu führen. Sie werden zweifellos auch versuchen, euch in ihre Gewalt zu bringen und euch zu verstümmeln. Noch ehe ihr tot seid, versteht sich. All das wisst ihr und habt es bereits mit eigenen Augen gesehen. Aber sie würden niemals in das Bewusstsein von Tieren eindringen. Das haben sie noch nie versucht, und das werden sie auch niemals tun. Denn die Tiere haben schließlich nicht freiwillig beschlossen, hierherzukommen. Und es steht auch nicht in der Macht der Tiere, diesen Ort aus eigenem Willen wieder zu verlassen. Die Götter der Wilden dulden es nicht, dass ihre Diener einem Tier jemals etwas zuleide täten.
Natürlich gibt es nichtsdestotrotz einen Anlass dafür, wenn eure Pferde plötzlich in Panik geraten. Aber dieser Anlass hat sicherlich nichts mit irgendwelchen Hexenkünsten zu tun, sondern ist ganz und gar von dieser Welt. Wir werden nun den Grund für die Panik der Tiere finden und die Sache beheben. Seht euch eure Pferde doch bloß mal an! Seht ihr, wie sie alle in die gleiche Richtung schauen? Wie sie zu den Booten hinüberstarren? Sie haben eine Witterung aufgenommen, die Witterung von etwas, das sie hassen. Ursus, befiehl deinen Männern, die Leichter zu durchsuchen. Grannus, deine Bataver sollen ihre Pferde ans andere Ende des Strandes führen. Ich habe einen jungen schwarzen Hengst, der gerade erst für den Krieg abgerichtet worden ist. Er steht im zweiten Pferch, und als Glücksbringer trägt er das Auge des Horus’ in die linke Schulter gebrannt. Gib das Pferd dem Mann, dessen Tier gerade getötet wurde.«
Es hatte einen Moment gegeben, da hatten die Bataver Corvus töten wollen. Ursus hatte es genau gespürt, als die ersten Pfeile die Luft durchschnitten: ein kurzer Augenblick des Entsetzens und dann eine Woge von Zorn, die durch den gesamtem batavischen Flügel hindurchgegangen war. Er war stets der Ansicht gewesen, dass schon die Gallier ein schwieriges und sehr emotionales Volk seien - bis er die Bataver kennenlernte und deren wildes Geschrei, ihre dünnhäutige Arroganz und ihre Heulanfälle, die immer dann einsetzten, wenn der Wein etwas zu großzügig ausgeschenkt worden war, nicht zu vergessen ihren dickschädeligen Unmut, der meistens auf ein solches Trinkgelage zu folgen pflegte. Allein dem kläglichen Überrest an militärischer Disziplin, der jedem Bataver innewohnte, war es zu verdanken, dass dieser Unmut in erträglichen Grenzen blieb.
Ein Bataver, so die allgemeine Meinung in den Offiziersunterkünften in Camulodunum, würde immer gehorsam auf seinem Posten stehen und mit schweigendem Grinsen seinen Dienst versehen, selbst wenn man ihn gerade eben hatte auspeitschen lassen. Allerdings sollte derjenige, der diese Auspeitschung angeordnet hatte, fortan genau darauf achten, diesem Kerl in einer Schlacht niemals den Rücken zuzuwenden. Vielleicht war das der Grund, dass erst sehr wenige Bataver ausgepeitscht worden waren, und dann jeweils nur von ihren eigenen Offizieren.
Und niemand, zumindest soweit Ursus das wusste, hatte jemals befohlen, einem batavischen Kavalleristen dessen Tier unter dem Sattel wegzuschießen. Folglich war der Zweite Dekurio überaus erstaunt, als er spürte, wie der schwarze Hengst, den Corvus dem Bataver schenkte, die Woge der Wut langsam wieder abflauen ließ. Dennoch sandte Ursus, noch während er den Befehl gab, die Boote durchsuchen zu lassen, im Stillen ein rasches Stoßgebet zum Himmel mit der Bitte darum, dass sich auch tatsächlich etwas in den Leichtern finden möge. Etwas, das beweisen würde, dass Corvus recht hatte. Denn das war der einzige Vorteil an dem schier überbordenden Aberglauben der Bataver: Sobald sie der Ansicht waren, dass ein Mann unter dem Segen Fortunas lebte, würden sie alles dafür tun, um das Leben dieses Mannes zu schützen. Nichts war für Corvus in diesem Augenblick wichtiger, als den Batavern den von den Göttern geliebten Präfekten vorzuspielen.
Ursus’ Männer hatten den Befehl bereits vernommen und wollten nur noch wissen, nach welchen Vorgaben sie sich aufteilen sollten. Er schickte sie in der gleichen Formation, wie sie auch in ihren Zelten schliefen, an den Strand, wo sie die Reihen der dort vertäuten und sanft auf den Wellen schaukelnden Boote untersuchen sollten. Und in der Tat, es dauerte nicht lange, da stellte sich heraus, dass die Götter Corvus ganz zweifellos liebten.
»Schweinehaut? Sie hatten Angst vor Schweinehaut? Ich dachte, wenn die batavischen Pferde in die Schlacht stürmen, hätten sie an ihren Sattelknäufen grundsätzlich irgendwelche verwesenden Feindesschädel hängen?« Flavius schnaubte verächtlich und spie aus. Mit Schwung warf er das ledrige Bündel an den Strand, das man gleich im ersten Boot gefunden hatte.
»Pferde hassen Schweine«, entgegnete Ursus. »Und nach dem Gestank zu urteilen, haben wir es hier zudem mit etwas anderem als bloß der verrottenden Haut eines wilden Keilers zu tun.«
Er stupste mit der Fußspitze gegen das Bündel und musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass die Haut sogar noch übler roch als sein Wolfspelz. Ursus hielt die Luft an, bückte sich und durchschnitt den Lederriemen, der das Ganze zusammenhielt. Das Bündel fiel auseinander, und zum Vorschein kam die behaarte Seite einer Keilerhaut, deren borstige Stacheln durch das Seewasser beinahe flauschig geworden waren. Er drehte das Bündel um, bis ein ganzer Arm voll Kräuter herauskullerte, der ebenfalls von einem Lederstreifen zusammengehalten wurde. Am hinteren Ende des Strandabschnitts begannen die Pferde in neu aufkeimender Panik zusammenzuzucken und nach allen Seiten auszukeilen.
»Was ist denn da drin? Es ist doch scheinbar der Geruch der Kräuter, der den Tieren Angst einjagt, und nicht die Keilerhaut.«
»Schwingelgras, Wilder Hafer, Schwertwurz. Nichts, wovor Pferde sich normalerweise fürchten.« Corvus stand dicht neben Flavius und Ursus. Er kniete mit dem Rücken in Richtung des Windes und stocherte mit einem kleinen Stück Treibholz in den Kräutern herum. »Außer...« Er bohrte noch ein wenig tiefer. »Schneid das hier bitte mal auf. Aber beug dich nicht zu dicht darüber. Denn es kann sein, dass du später noch einen anstrengenden Ritt vor dir hast. Vorausgesetzt, wir schaffen es irgendwann, mit der Invasion der Insel zu beginnen. In jedem Fall möchte ich, dass dein Pferd dann nicht gleich den Verstand verliert, wenn du in den Sattel steigst.«
Vorsichtig setzte Ursus sein Messer an. Das Kräuterbündel brach auf, und eine kleine Scheibe aus Fettgewebe kam herausgekullert.
»Verbrenn das! Sofort!« Entsetzt sprang Corvus zurück. So schnell hatte Ursus seinen Präfekten außerhalb eines Schlachtfelds noch nie reagieren sehen. »Und achte darauf, dass du das Feuer nicht ausgerechnet dort entzündest, wo der Wind den Rauch in Richtung der Pferde treibt. Und dann mach dich schleunigst daran, auch den Rest dieser Bündel aufzuspüren. Wo ein Bündel ist, da sind unter Garantie noch mehr.«
Ein gutes Stück jenseits des verbrannten Fähranlegers schichteten die Legionare ein kleines Feuer auf, weit genug entfernt von den Leichtern und jener Landmarke, von der aus sie zur Überquerung der Meerenge ansetzen wollten. Das Fett knackte und spie kleine Funken, und der Rauch war ölig schwarz, während unten am Strand die Suche fortgesetzt wurde und insgesamt noch fünf weitere Kräuterbündel gefunden wurden, gleichmäßig entlang der Küste verteilt. Es war der Lagerhund, der schließlich die letzten beiden der Bündel aufspürte, und die Belohnung, die ihm daraufhin zugeteilt wurde, überstieg alles, was er jemals zuvor in seinem kurzen, harten Leben hatte genießen dürfen.
Als das Durcheinander sich wieder etwas gelegt hatte und auch die Legionare fast so weit waren, sich endlich in den Sattel zu schwingen, bemerkte Ursus leise: »Ich verstehe das nicht. Denn wovor die Pferde sich letzten Endes am meisten gefürchtet haben, das war das Fohlenbrot von einer Stute, von dem sich je eines im Inneren der Bündel befunden hatte. Das ist dieser Gewebepfropf, den eine fohlende Stute im Laufe des Geburtsvorgangs ausscheidet. Als Kinder haben wir diese so genannten Fohlenbrote von der Koppel meines Großvaters aufgesammelt und sie, nachdem wir sie über dem Feuer getrocknet hatten, auf Kordeln aufgezogen um den Hals getragen. Daran ließ sich gut ablesen, wie viele Fohlen sich in der jeweiligen Herde befanden. Die besonders zutraulichen Stuten kamen dann zu uns herübergetrottet und haben mit dem Maul jenen Pfropf angestupst, den sie ausgeschieden hatten. Kein Pferd, das ich je gesehen habe, hatte Angst davor.«
»Richtig, normalerweise fürchten die Pferde sich nicht vor so etwas.« Der Präfekt gab hinter seinem Rücken ein knappes Zeichen, und sogleich kamen die Pferdeburschen mit Corvus’ und Ursus’ Tieren herbeigeeilt. Corvus ging voran bis an den Rand des Wassers und fuhr nachdenklich fort: »Ich habe das Ganze schon einmal gesehen, damals in Alexandria. Da wurde der gleiche Trick angewandt, um einen Wagen bei einem Wettrennen vom Kurs abzubringen. Das Fohlenbrot wird in Brennwurz und dem Urin eines rothaarigen Kindes eingeweicht und dann über einem Feuer aus Wermutkraut getrocknet. Ich weiß ja selbst nicht, warum, aber die Pferde haben davor panische Angst, und wer immer diese Bündel hier versteckt hat, ist sich dessen wohl bewusst. Hätte der Gouverneur es sich schließlich nicht doch noch anders überlegt, hätten wir jetzt versucht, die Pferde neben den Leichtern herschwimmen zu lassen. Ich überlasse es deiner Fantasie, dir auszumalen, was für ein Chaos daraus entstanden wäre.«
»Danke, nein, das male ich mir lieber nicht aus.« Ursus verdrehte die Augen. »Und ich habe es auch gar nicht eilig, herauszufinden, wo diese Bündel herkamen. Denn wahrscheinlich waren es irgendwelche Aufständischen, die hinter uns in den Bergen lagern und die dreist genug waren, sich bis an den Strand hinunterzuwagen, während wir in unseren Zelten lagen und schliefen.«
»Ich fürchte, es ist noch viel schlimmer.« Corvus wischte sich die Hände an seiner Tunika ab. Sofort fielen Ursus die feuchten Schweißflecken auf, die Corvus’ Handflächen hinterlassen hatten. Sein Kommandeur schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Die Schweinehaut, in die die Kräuterbündel eingewickelt waren, war vollkommen durchweicht. Aber die Boote, in denen die Bündel lagen, waren trocken. Außerdem haben wir hier den gesamten Morgen über Wache gehalten, und uns ist nichts aufgefallen. Ich denke also, irgendeiner der Inselbewohner hat eine Route gefunden, wie er sicher über die Meerenge schwimmen kann, eine Route, von der wir nichts wissen. Und außerdem verpassen wir auf diese Weise noch die Flut.«
Ursus spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich. Jene Route, die sie über die Meerenge nehmen wollten, war ihnen von einem Silurer empfohlen worden, einem Mann, der sein ganzes Leben damit verbracht hatte, zwischen der Insel und dem Festland zu kreuzen. Und zwei Dinge hatten damals für alle festgestanden: Zum einen war man der Überzeugung gewesen, dass dies die einzig sichere Route sei, und zum anderen hatte der Silurer hervorgehoben, dass die Überquerung der Meerenge unbedingt vor dem Gezeitenwechsel abgeschlossen sein müsste. Die Inquisitoren hatten den für die Planung Verantwortlichen geschworen, dass diese Informationen auf jeden Fall verlässlich seien. Der Mann, der ihnen sein Wissen für eine beträchtliche Menge an Gold hatte verraten wollen, war die ganze Befragung über bei der gleichen Aussage geblieben, selbst dann, als seine Hoffnung auf Reichtum längst vergessen war und er sich nur noch einen baldigen Tod wünschte. Die Inquisitoren irrten sich alles in allem also nur sehr selten. Andererseits hatten jene wenigen Male, wenn sie ihren Opfern doch einmal die falschen Informationen abgepresst hatten, sich stets zu den übelsten Katastrophen des gesamten Kavallerieflügels entwickelt …
Mit schwacher Stimme entgegnete Ursus: »Wir werden alle sterben.«
»Vielleicht.« Die Legionare hatten Aufstellung genommen, und Corvus hob die Hand. Überall entlang des Strandes, vom einen Anleger bis zum anderen, schwangen die Bataver und Gallier sich wie mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung in ihre Sättel. Die Sonne schenkte ihnen ihren Segen, und die zartgrünen Wogen umplätscherten sanft die Hufe ihrer Pferde.
Mit einem aufmunternden Grinsen wandte Corvus sich zu seinem Zweiten Dekurio um. Das Gesicht des Präfekten war ruhig, keinerlei Angst spiegelte sich mehr in seinen Zügen. Das heißt, falls dort überhaupt jemals so etwas wie Furcht zu lesen gewesen war. Sein Blick war klar und von einer fast schon schmerzhaften Lebendigkeit. Ursus schaute Corvus in die Augen und erinnerte sich mit einem Mal wieder daran, dass sein Kommandeur schon einmal Schiffbruch erlitten hatte und dabei beinahe ertrunken wäre. So etwas durchlebt zu haben und dennoch dazu in der Lage zu sein, seine Truppe in voller Rüstung über ein ihnen allen unbekanntes Gewässer zu führen, verlangte mehr Mut, als man jemals irgendeinem Mann abverlangen sollte. Ursus’ Wangen glühten, und das aus mehr als nur einem Grund.
Der Präfekt schaute seinen Zweiten Dekurio misstrauisch von der Seite an. »Ich glaube«, sagte er mit scharfer Stimme, »es wäre klüger, wenn du nicht allzu genau darüber nachgrübeltest, wie diese Bündel in die Boote gelangt sind oder was die Wilden wohl sonst noch alles gegen uns planen. Und denk vor allem nicht daran, was uns dort auf der Insel erwartet. Schieb diese Gedanken weit von dir, wenn wir ins Wasser reiten. Mittlerweile können wir an alledem ohnehin nichts mehr ändern, dazu ist es einfach zu spät. Und wenn man in einer Schlacht überhaupt jemals Angst haben sollten, dann nur vor den Dingen, die man auch sehen kann und die einem wenigstens irgendwie bekannt sind. Also, wollen wir losreiten?«
Zu seiner eigenen Überraschung spürte Ursus, wie ein breites Grinsen sich auf seine Lippen stahl und er energisch nickte. Erst dann wurde ihm bewusst, dass man ihn soeben darum gebeten hatte, den Befehl zur Invasion Monas zu erteilen, und dass er diesem Befehl ohne das geringste Zögern nachgekommen war. Rasch öffnete er den Mund, wollte all das sofort wieder zurücknehmen - und überlegte es sich doch noch einmal anders.
Zu seiner Rechten ließ Corvus mit schallendem Lachen den Arm sinken.
 
Das Meer verschlang sie mit gierigen Wogen.
Kaltes, grünlich schimmerndes Wasser fraß an den Beinen der Pferde. Seetang schlang sich um ihre Fesseln, zerrte sie hinab. Von dem Augenblick an, als die Tiere zu schwimmen begannen und die Männer sich von ihren Rücken gleiten ließen, um neben ihnen herzukraulen, von dem Moment an spürte der Ozean ihre hektischen Tritte und erkannte sie als den Feind.
Corvus schwamm ein gutes Stück vor dem Rest der Kavallerie. Denn das war, zumindest für die Zeit der Überquerung der Meerenge, noch der sicherste Platz, den man nur irgend ergattern konnte. Weit abseits von den schier unzähligen, durch die Fluten dreschenden Hufen und nur den Tritten des eigenen Pferdes ausgesetzt.
Dennoch fühlte er sich keineswegs geborgen. Kleine Wogen, die vom Strand aus betrachtet noch ganz und gar ungefährlich wirkten und nicht höher zu sein schienen als sanfte Hügel in jenem wahren Gebirge, zu dem das Meer sich ohne Weiteres aufbäumen konnte, nahmen mehr und mehr an Größe zu und wuchsen zu haushohen Brechern heran. Tosend stürzten sie auf Corvus herab, begruben ihn unter ihrem eisigen, beißenden Salzwasser, strömten zwischen Körper und Rüstung, drangen ihm in Ohren und Kehle ein, ließen ihn niesen und verteilten sich in seiner Lunge, womit sie den hustenden und keuchenden Präfekten der Fünften Gallischen Kavallerie schließlich an den Rand des Ertrinkens brachten. Hätte er nicht seine Stute bei sich gehabt und hätte er all dies nicht sein Leben lang immer wieder trainiert, so wäre er nun zweifellos in den Fluten versunken. Doch sein Pferd hielt sich streng an das, worauf es trainiert worden war, schwamm tapfer weiter und bot Corvus mit den Schlingen, die man ihm zuvor in die Mähne geflochten hatte und durch die er seinen einen Arm steckte, einen sicheren Halt.
Hinter ihm prusteten und fluchten die anderen Männer, während sie tapfer dem Vorbild ihres Präfekten folgten. Oftmals schienen sie in der Tiefe zu versinken, bis die See die Legionare schließlich doch wieder ausspuckte und wie Korken auf den Wellenkämmen hüpfen ließ, je einen Mann neben je einem Pferd. Nur quälend langsam kämpften sie sich jene Route entlang, die ihnen zuvor erklärt worden war, und dies in dem sicheren Wissen, dass dies keineswegs der einzig sichere Weg über das Wasser war, und, schlimmer noch, womöglich von vornherein niemals wirklich sicher gewesen war.
Sie hatten die halbe Strecke bereits hinter sich gebracht, als Corvus spürte, wie der Gezeitenwechsel einsetzte. Die ungeheuren Wassermassen unter ihm und um ihn herum schienen einen Moment lang innezuhalten, hörten für einen kurzen Augenblick auf, ihn mit ihren Wogen geradezu zermahlen zu wollen. Es war, als nähme das Meer einen tiefen Atemzug, als besinne es sich, um sich dann mit einer einzigen mächtigen Woge umzuwälzen, sodass die Wassermassen nun von vorn auf Corvus einströmten, statt ihn von hinten unter sich zu begraben, ganz so, als ob die anziehende Kraft des Mondes sich plötzlich in eine Gegenbewegung verkehrt habe und den Präfekten der gallischen Kavallerie von der Insel fortzudrängen versuchte.
Und weil das Meer und der Wind enge Verwandte waren, änderte auch die zuvor noch konsequent von achtern wehende Brise ihre Richtung und blies Corvus nun zunehmend energischer mitten ins Gesicht. Voller Entschlossenheit schien der Ozean mit neuer Kraft auf Corvus zuzurasen. Eine mächtige heranrollende Woge hob ihn hoch über die Wellenkämme empor, nur um ihn kurz darauf wieder mit sich in die Tiefe zu reißen, bis er dann abermals auf den Wellen tanzte und keuchend eisiges Wasser und beißendes Salz einatmete und wieder hustete und wie wild mit seinem eisenbewehrten Arm auf das Wasser einpeitschte, um irgendwie an der Oberfläche zu bleiben. Seine Stute, zweifellos das edelste aller Tiere, schwamm unbeirrt weiter durch Wasser, das plötzlich doppelt so trügerisch war wie zuvor. Erschöpft zog Corvus sich ein Stückchen an den Schlaufen in ihrer Mähne nach oben, stemmte sich damit ein kleines Stück aus dem Wasser heraus und erkannte somit noch vor den anderen jene weite und ebene Wasserfläche, die sich glatt wie frisch ausgegossenes Eisen vor ihnen ausbreitete. Im Zentrum dieser Fläche allerdings waren kleine konzentrische Kreise zu erkennen, die stetig größer wurden und kräftiger umeinanderzuwirbeln begannen, um schließlich in der Mitte in Richtung des Meeresbodens zu versinken.
»Nach rechts!« Während er verzweifelt um sich schlug, riss Corvus einen Arm empor. Unmittelbar links hinter ihm schwamm Sabinius, sein Standartenträger, der am Sattelknauf seines Pferdes eine leicht gekürzte Fahnenstange befestigt hatte. Abermals rollte der nächste Brecher auf Corvus zu und hob ihn ein Stück empor, ehe er ihn wieder mit sich hinabriss, sodass er für einen kurzen Moment das Wippen und Flattern des Banners erkennen konnte. Als das Wasser gerade wieder langsam aus seinen Ohren zu rinnen schien, hörte er Sabinius’ Stimme, die jedoch heiser von zu viel Sole war und viel zu schwach, als dass auch noch andere als die unmittelbar neben ihm schwimmenden Männer sie hätten hören können. Doch schon ertönte das Echo von Sabinius’ Ruf, und erleichtert erkannte Corvus, dass dies die Stimme seines Zweiten Dekurios war. Kurz darauf war Flavius’ Stimme zu hören, worüber Corvus zu seiner eigenen Überraschung ebenfalls froh war. Und mit einem Mal galt es, nur noch zu überleben. Es blieb keine Zeit mehr für Corvus, noch länger zu horchen, wer von seinen Männern sonst noch die Warnung gehört haben mochte und sich womöglich vor dem trügerischen glatten Wasser würde retten können.
Die Wellen waren seltsam flach geworden, sodass Corvus sie sich widersprüchlicherweise plötzlich wieder größer wünschte, und er betete darum, dass die Wogen mächtiger würden, kräftig genug, um ihn hoch in die Luft zu heben, nur um ihn gleich darauf abermals in die Wellentäler stürzen zu lassen und um ihn bitte endlich von jener riesigen, grünlich schimmernden Wasserfläche fortzutragen, die ebenmäßig wie Treibsand unmittelbar vor ihm auf ihre Opfer lauerte.
Doch er war schon zu nahe herangetrieben worden. Er spürte bereits den Sog und das Zerren der Unterströmung, die ihn zunehmend schneller in Richtung des tödlichen Strudels lockte. Und ganz gleich, wie sehr er sich auch anstrengte, vermochte er doch nicht mehr dagegen anzukommen. Außerdem hätte er besser auf der anderen Seite seiner Stute schwimmen sollen. Das Tier schwamm beharrlich weiter geradeaus, führte sie beide geradewegs in den sicheren Tod. Corvus stemmte sich mit der Schulter gegen sein Pferd und schrie: »Rechts! Schwimm nach rechts!« Seine Stimme war nurmehr ein hohes Jaulen.
Die Stute war ein Geschenk der Tochter der Bodicea an ihn gewesen. Die Eceni richteten ihre Tiere darauf ab, selbst inmitten von Schlachtenlärm und Kampfgetümmel jeden noch so feinen Befehl mit ähnlich präzisen Reaktionen zu erwidern. Allerdings trainierten die Wilden ihre Tiere nicht auf das Überleben im Wasser. Corvus konnte also nicht abschätzen, ob sich seine Jahre des Abrichtens nun, da sie sich in einem realen Ozean befanden, bezahlt machen würden.
Er trat mit aller Kraft in die Fluten, brüllte auf Eceni und auf Latein, stemmte sich, einen Arm über ihren Widerrist gelegt, mit aller Macht gegen die Stute. Als Erstes spürte er, wie der Druck unter seiner Achsel leicht nachließ, dann neigte die Stute sich ein wenig zur Seite, drehte ab und schließlich - geliebtestes aller Pferde! - zog sie Corvus nach rechts und damit fort von dem drohenden Sog der Strömung.
Er hätte vor lauter Erleichterung weinen mögen, doch es fehlte ihm ganz einfach der Atem dazu. Er schob und strampelte und schwamm, und die Zeit schien sich immer weiter auszudehnen, sodass zwischen den Wellenkämmen der sanften Wogen jeweils eine ganze Lebensspanne zu liegen schien, doch dann, endlich, war er wieder in der Brandung.
Um ihn tobten die Reittiere der Götter, wunderschön und mit weißen Mähnen geschmückt tanzten die Wellen rund um Corvus herum, und auch seine eigene Stute schien im Wasserwiderstand einen gewissen Halt gefunden zu haben.
Und dann brach sich unmittelbar vor ihnen, eingerahmt von grünem Tang zur Linken und braunem Tang zur Rechten, das weiß schäumende Wasser an den Felsen des gegenüberliegenden Ufers. Nun wusste Corvus, dass der Silurer nicht gelogen hatte, sondern ehrlich alles, was er anzubieten hatte, in die Waagschale geworfen hatte, in der Hoffnung auf Reichtümer und für den Preis seines eigenen Todes.
Plötzlich schien ein greller Lichtfunken zwischen dem Strandgeröll aufzublitzen. Zwischen den Klippen befand sich irgendetwas Glänzendes, das die Sonne widerspiegelte. In diesem Moment erst erinnerte Corvus sich wieder daran, dass die Insel keineswegs ein verlassener Ort war, sondern dass dort feindliche Krieger auf der Lauer lagen und diese nur darauf warteten, sich auf ihn und seine Männer zu stürzen. Mit der gleichen Sicherheit aber wusste er auch, dass er nun niemals imstande wäre zu kämpfen, wahrscheinlich würde er sich noch nicht einmal mehr aus eigener Kraft auf den Beinen halten können.
Wieder blendete ihn ein Blitzen in den Augen, doch das schmerzhaft helle Licht verriet ihm auch, dass dort vorn am Strand etwas im Gange war. Schatten bewegten sich eilends auf den Saum des Wassers zu. Wieder hörte er im Geiste seinen Zweiten Dekurio mit vor Angst schwerer Zunge ihren baldigen Tod prophezeien. Wir werden alle sterben. Und natürlich wusste Corvus, dass dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Fall sein würde. Andererseits hieß das noch lange nicht, dass der Tod ihm nun nicht in gewisser Weise sogar durchaus willkommen wäre. Und auch seiner Ehre würde ein Tod unter den gegenwärtigen Umständen sicherlich keinen Abbruch tun. Das Einzige, was ihn an dieser Aussicht störte, war, dass er trotz allem noch eine sehr strenge Auffassung davon behalten hatte, wie er seinen Dienst auszuführen hätte. Folglich wollte Corvus nur sehr ungern dabei beobachtet werden, wie er bei der geplanten Invasion der Insel starb und damit zugleich in der Ausübung seiner Pflicht versagte.
Endlich hatte die Stute wieder Sand und aufgewühlten Strandkies unter den Hufen, und es gab einen kurzen Moment, in dem das Pferd bereits wieder stand und Corvus noch immer kraftlos im Wasser trieb. Dann aber zog er sich an den Mähnenschlaufen empor, drehte sich zur Seite und hievte sich schließlich in den Sattel hinauf. Energisch schüttelte er das Wasser ab und zog sein Schwert, eine Bewegung, die ihm nach zwanzig Jahren der Ausbildung in Fleisch und Blut übergegangen war, und zwar vollkommen unabhängig davon, wie erschöpft er gerade sein mochte. Und dann ritt er auf den Strand hinauf, bereit, die Grenze zwischen Leben und Tod zu betreten, bereit, zu töten oder getötet zu werden. Erst als der Nebel sich um ihn schloss und er feststellte, dass er nichts mehr sehen konnte, erinnerte er sich daran, dass er sich eigentlich zuerst einmal hätte umblicken sollen und kontrollieren müssen, ob auch Ursus und Sabinius oder irgendeiner der anderen den Strand erreicht hatten. Doch als ihm dies bewusst wurde, war es auch schon zu spät, denn der Nebel war kein Nebel, sondern in Wirklichkeit ein stechender, heimtückischer Rauch, der sich fest über seine Augäpfel zu legen schien, sodass ihm sofort der Schleim aus der Nase zu laufen begann und Tränen ihm die Wangen hinunterrannen und er beim besten Willen wirklich gar nichts mehr erkennen konnte.
»Corvus?«, ertönte Valerius’ Stimme. Doch das war unmöglich, zumindest auf dieser Seite des Todes. »Corvus, steig ab. Solange du auf den Felsen bleibst, bist du nicht in Sicherheit. Die Stute kann jeden Moment ausrutschen und sich ein Bein brechen, und dann stirbst auch du.«
»Bin ich denn etwa noch nicht tot?«, fragte Corvus und hörte dabei voller Erstaunen, wie der Rauch in seine Stimme einzudringen schien, sie schwerer und schwerer machte und seine letzten Worte sich länger und immer länger auszudehnen schienen, bis sie in wilden Spiralen durch seinen Schädel jagten.
Doch gehorsam saß Corvus ab, schließlich wollte er den Göttern gegenüber nicht ungehorsam sein. Der Fels, auf dem er stand, begann zu schaukeln und schien unter seinen Füßen zu schlingern, ganz so, als befände er sich an Deck eines Schiffes. Er dachte an Segoventos, den Kapitän der Greylag, und an die Kraft und Zuversicht, mit der dieser das Steuerruder gehalten hatte, während sein Schiff geradewegs in seine eigene Zerstörung zu segeln schien. Abermals spürte Corvus das Schlingern und Rollen der See, und zum ersten Mal in einem ganzen Leben voller Seereisen spürte er, wie ihm schlecht wurde. Genauer gesagt würde er sich schon sehr bald übergeben müssen. Und streng genommen sogar genau jetzt, in diesem Augenblick.
Er kniete sich auf den schaukelnden Fels, drückte seine schweißüberströmte Stirn in den Tang und erbrach sich so lange, bis er das Gefühl hatte, dass sich sein Magen in seine Kehle zu stülpen drohte.
»Corvus? Das reicht. Trink das hier, das wird dir helfen.«
Noch immer kniete er auf dem harten Fels, spürte den wohligen Druck von Valerius’ Arm, den dieser ihm um die Schultern gelegt hatte, spürte, wie Valerius’ andere Hand ihm sacht die Stirn hielt. Doch noch immer schlingerte der Fels, als triebe er mitten auf dem vom Sturm aufgepeitschten Ozean. Und im Gegensatz zu Corvus schien der Junge, als der Valerius ihm nun plötzlich wieder erschien, sich nicht übergeben zu müssen, sodass das alles letztlich nur eines bedeuten konnte: Sie beide waren tot, ganz zweifellos. Hier, in dem Land hinter dem Leben, hatte Corvus also endlich jene Liebe wiedergefunden, die mehr als zwanzig Jahre lang fast jeden Augenblick seines Lebens bestimmt hatte, die sein Wachen und sein Atmen durchdrang, wie kein anderes Gefühl es jemals zuvor vermocht hatte.
Der Schmerz in seinem Herzen, den er jahrelang versucht hatte zu ignorieren, nahm ein geradezu überwältigendes Ausmaß an. Nur unter größter Anstrengung konnte er sich dazu zwingen, den Kopf zu heben und den Blick auf jene fein geschwungenen Brauen und die hohen, aristokratischen Wangenknochen zu lenken, die dort vor ihm schwebten, auf die dominante, gerade Nase und das lange, glatte schwarze Haar, das nun von feinen Silberfäden durchzogen war, etwas, was Corvus bei Valerius noch niemals zuvor gesehen hatte. Und er las in dem schönen Gesicht Valerius’ Emotionen, las, was dieser im Augenblick empfand, erkannte, was dieser verdrängt hatte, und Corvus liebte dies alles von ganzem Herzen.
»Du bist älter geworden, als ich erwartet hatte. Ich dachte, das Leben würde uns schon eher aus seinem Dienst entlassen«, sagte Corvus. »Und die Narbe an deiner Kehle ist auch nicht mehr zu sehen.« Dann fragte er erstaunt: »Und warum trägst du das Stirnband der Träumer? Haben die Eceni dich etwa wieder als einen der ihren bei sich aufgenommen?« Das Stirnband hatte er zuerst gar nicht bemerkt, nun aber erfüllte sein Anblick ihn mit Erstaunen.
Pechschwarze Augen blickten in die seinen, und in den Tiefen dieser beiden Augenpaare vereinten sich zwei Welten, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Abermals erkannte Corvus in diesen dunklen Augen jene spröde, trockene Ironie, die er von Anfang an so sehr geliebt hatte, selbst als diese noch nicht offen zutage getreten war, als Valerius noch nicht begriffen hatte, wie er diese Ironie eines Tages zu seiner eigenen Verteidigung würde einsetzen können, als er noch nicht gewusst hatte, welche Kraft ihm dieser fast schon zynische Zug einmal verleihen würde. Doch Corvus entdeckte noch mehr. Endlich sah er die Hingabe wieder, die lange Zeit aus Valerius’ Blick gewichen war, und er sah Mitgefühl, Fürsorge. Doch er erkannte auch jenen dunklen Schatten wieder, zu dem einstige Qualen sich verdichtet hatten, und es tat Corvus in der Seele weh, dass selbst der Tod diese Qualen offenbar nicht hatte auslöschen können.
Jene Stimme, die ihm vertrauter war als jede andere Stimme in der Welt und die er unter Tausenden wiedererkannt hätte, erklärte ihm nun: »Corvus, es tut mir leid. Aber ich bin nicht Bán, den du unter dem Namen Valerius kanntest. Ich bin sein Vater. Aber vielleicht freut es dich zu hören, dass du noch am Leben bist. Du musst mir jetzt bitte vertrauen, dann wirst du auch lebend wieder zum Festland zurückkehren. Und wenn du die weiteren Schritte in deinem Leben von nun an mit etwas mehr Sorgfalt planst, dann, so glaube ich zumindest, wirst du meinen Sohn in diesem Leben auch noch mindestens einmal wiedersehen, ehe der Tod euch beide in sein Land holt. Und vielleicht verhilft diese eine Begegnung deinem Herzen ja auch, endlich den Schmerz zu vergessen, der schon so lange darin wohnt.«
Wäre Corvus nicht so entsetzlich übel gewesen, hätte er mit Sicherheit sofort gesehen, dass dieser Mann nicht Valerius war. Er hätte die fremde Kadenz in dessen Stimme erkannt, die Stimme eines Mannes, der die Qualen, die mit einem Leben im Dienste des Kaisers einhergingen, nie kennengelernt hatte. Verzweifelt durchforstete Corvus die Überreste seines Bewusstseins und klammerte sich dann an jene Scherbe, die ihm in diesem Augenblick am wichtigsten erschien. »Ach, was in unserem jetzigen Leben geschieht … darum geht es doch im Grunde gar nicht. Mir liegt etwas ganz anderes am Herzen. Kannst du mir versprechen, dass Valerius und ich uns nach diesem Leben wiedersehen werden, dass wir im Tode zusammen sein werden? Wird uns dort endlich etwas Zeit miteinander vergönnt sein?« Noch niemals zuvor hatte er dies einen Menschen gefragt, nie hatte er seine Sehnsucht so klar in Worte gefasst, nie hatte er sich so verzweifelt nach etwas gesehnt.
»An jenem Ort, an dem die Zeit nicht mehr existiert?« Erstaunlicherweise lag in den dunklen Augen deutlich weniger Mitgefühl, als Corvus erwartet hatte. Stattdessen erkannte er in dem Blick seines Gegenübers eine seltsame Tiefe und einen Hauch von Belustigung. »Im Tode, genauso wie im Traum, ist alles möglich. Wenn du Valerius’ Seele hier erreichst und es schaffst, zumindest in deinen Träumen mit ihm zusammen zu sein, dann wirst du ihn auch im Tod an deiner Seite finden. Aber ich vermute, wenn es eines Tages so weit ist, wird es auch noch andere geben, die nach dir suchen werden und die du ebenfalls wiedersehen möchtest. Denn dein Herz gehört nicht nur allein meinem Sohn, sondern noch mindestens einem weiteren Mann, nicht wahr?«
Ein Corvus wohlvertrautes Gesicht tauchte flüchtig im Nebel auf, er sah südländische, alexandrinische Gesichtszüge. Dann ertönte der Schrei eines Falken, das südländische Gesicht verblasste, und die goldene Statue des Horus tauchte vor seinen Augen auf, sie sträubte ihr Gefieder, legte es dann wieder dicht an den Körper an und musterte ihn aus einem blinzelnden Auge mit scharfem, doch zugleich auch beschützendem Blick. »Ja, es gibt noch einen weiteren Mann, den ich gern wiedersehen würde, nicht aber lieben möchte«, entgegnete Corvus in der Annahme, damit alles gesagt zu haben.
Luain mac Calma, der Vorsitzende des Ältestenrats von Mona, packte Corvus’ Handgelenke und half ihm, wieder aufzustehen. »Sei nicht so voreilig mit deinen Aussagen darüber, wie du empfinden wirst, wenn das Leben dich nicht mehr länger an sich bindet. Denn alles ist möglich. Alle Liebe wird sich zu einer einzigen vereinigen, wird weitaus mehr als bloß die Spanne eines einzelnen Lebens überdauern - wenn du es dir denn so wünschen solltest. Falls du Valerius aber auch in diesem Leben noch einmal sehen willst, solltest du jetzt wieder gehen. Der Krieg um Mona hat gerade erst begonnen, und der Tod liegt bereits zu schwer über diesem Land, als dass du noch länger gefahrlos hier verweilen könntest.«
»Gehen?«, fragte Corvus benommen und so naiv wie ein kleines Kind. »Aber wohin?«
»Steig wieder auf dein Pferd, schwimm zurück ans Festland. Oder überquer die Meerenge in einem Leichter, wenn du lieber noch warten möchtest. Ich denke, schon bald werden einige der Boote wieder frei sein. Und die, die von der Besatzung noch am Leben sind, werden einen Befehlshaber brauchen, der genügend Autorität besitzt, um sie endlich wieder zu sichereren Ufern zurückzubringen.«
Die Kriegerin der Kelten
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