XIX
»Dort drüben in den Bäumen bewegt sich
irgendetwas.«
Corvus, Präfekt der Fünften Gallischen
Kavallerieeinheit, zügelte seine rotbraune Stute, bis diese neben
Ursus stehen blieb. Allerdings achtete Corvus dabei sorgsam darauf,
auf der Windseite von Ursus und dessen Umhang aus schlecht
gegerbtem Wolfspelz zu bleiben. Noch immer trug Ursus dieses Fell
hartnäckig um die Schultern geschlungen, und wenn es über Ursus
vielleicht auch sonst nichts sonderlich Bemerkenswertes zu erwähnen
gab, so konnte man in diesen Tagen doch zumindest stets ganz genau
sagen, wo dieser sich gerade aufhielt.
Der Gerechtigkeit halber allerdings sollte erwähnt
werden, dass es natürlich schon noch mehr über Corvus’ Dekurio zu
berichten gäbe. Beispielsweise war Ursus es gewesen, der den
südlicheren der beiden Anleger hatte in Flammen aufgehen lassen, um
feindlichen Booten das Anlanden zu erschweren - oder wenigstens
hatte er den Befehl dazu gegeben und dafür Sorge getragen, dass
dieser auch ordnungsgemäß ausgeführt wurde. Außerdem war es auch
allein ihm zu verdanken, dass die Versorgungskette, die die
Verpflegung der Männer und Pferde während der vierzehntägigen
Bauzeit der Leichter sicherstellte, keinen Einbruch erlitt. Ursus
hatte auch die Weitsicht bewiesen, den Lagerplatz des batavischen
Flügels der Kavallerie bereits von vornherein ein gutes Stück
abseits der anderen Zelte anlegen zu lassen, sodass schon alles
vorbereitet war und keine Abänderungen in der Zuweisung der Plätze
mehr möglich waren, als schließlich mit dreitägiger Verspätung auch
die großen, stämmigen germanischen Reiter endlich zu Corvus’
Truppen stießen. Die Abenddämmerung legte sich bereits über das
Land, als die Bataver angeritten kamen, ihre Gesichter noch immer
grünlich bleich von Übelkeit und Diarrhö. Vor allem aber strömte
von den Fetischen, mit denen diese Männer sich behängt hatten, ein
noch üblerer Gestank aus, als selbst Ursus’ Wolfsfell ihn jemals
hätte produzieren können, selbst dann nicht, als Ursus das gute
Stück gerade frisch erstanden hatte. Somit war es allein dem
Zweiten Dekurio zu verdanken, dass die ohnehin bereits von Nebel
und feuchter Kälte heimgesuchten Legionare wenigstens nicht auch
noch Opfer des unerträglichen Gestanks der Bataver wurden. Und
welche Gottheit in dieser Zeit auch immer über Corvus wachen mochte
- der Präfekt dankte ihr von ganzem Herzen.
Aufmerksam ließ er nun den Blick zu jener Stelle
hinüberschweifen, zu der auch Ursus starrte, und entgegnete: »Da
konnte man doch schon vor Tagesanbruch Bewegung erkennen. Aber es
stimmt, diesmal spielen sich die Aktivitäten an anderer Stelle ab,
und es scheinen auch mehr Menschen zu sein, die dort umherhuschen,
als vorhin. Außerdem schleppen sie irgendwelche Töpfe mit sich
herum. Töpfe, von denen Rauchschwaden aufsteigen. Und das bedeutet
in jedem Fall nichts Gutes. Aber das müssen wir eben hinnehmen,
daran können wir jetzt nichts mehr ändern. Ich meine, sie hätten ja
schon ziemlich dumm sein müssen, wenn sie nicht bemerkt hätten,
dass wir in Kürze eine komplette Flotte gegen sie schicken
werden.«
»Wir könnten das Auslaufen unserer Flotte doch noch
eine Weile verschieben, damit es vielleicht nicht ganz so
offensichtlich ist, dass wir heute noch angreifen wollen. Ah, ich
glaube, jetzt zünden sie da drüben auch noch Feuer an. Der Rauch
ist bereits so dicht, dass man nicht mehr hindurchsehen
kann.«
»Ich weiß, aber so kampfwillig wie heute Morgen
waren die Bataver noch nie und werden es wahrscheinlich auch nie
mehr sein. Das ist ganz einfach eine Tatsache. Und falls wir
trotzdem noch einen halben Tag warten würden, schiebt sich bestimmt
wieder irgendeine unheilvoll deformierte Wolke vor die Sonne, oder
um den Mond bildet sich ein roter Hof, oder ein Sperber jagt einen
Rotkehlchenhahn über einen Stein mit einer bestimmten Färbung, und
dann zieht sich die komplette batavische Kavallerie wieder in ihre
Zelte zurück, um gleich darauf noch eine Stute zu opfern und sich
aus deren Innereien noch mehr Halsbänder zu knüpfen. Halsbänder, in
die einige Pferdeschweifhaare und die Armknochen eines neugeborenen
Mädchens geknotet werden. Wenn du nun also so freundlich wärst,
nicht noch weiter...«
Abrupt hielt Corvus inne. Ursus starrte seinen
Präfekten entgeistert an, die Nasenlöcher so stark geweitet, dass
ihre Ränder bereits weißlich schimmerten. »Bitte sagt mir, dass Ihr
Euch das gerade eben alles nur ausgedacht habt.«
Angenehm überrascht stellte Corvus fest, dass Ursus
eindeutig einen gewissen Sinn für Humor entwickelt hatte, ein
Umstand, für den der Präfekt nur allzu dankbar war, zumal die ihn
umgebenden Bataver im Gegensatz dazu kaum wussten, was der Begriff
Spaß überhaupt bedeutete. Corvus grinste versöhnlich und
entgegnete: »Schon gut, wenn du darauf bestehst - ja, ich geb’s ja
zu, das habe ich mir natürlich nur ausgedacht. Zumindest einen Teil
davon. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass es alles gelogen
ist. Vom Prinzip her ist die Lage nämlich genauso, wie ich sie dir
gerade beschrieben habe. Aber entweder, wir lassen die Bataver
jetzt gleich antreten - im Moment sind sie ja halbwegs nüchtern -
und schicken sie noch vor Mittag ins Wasser, oder aber wir werden
die Meerenge nie überqueren. Und wenn dann der Gouverneur hier
auftaucht und die Kavallerie sich auf der Insel noch immer kein
Land erkämpft hat, das als Brückenkopf den kostbaren Booten des
Gouverneurs eine gefahrlose Anlandung ermöglicht... dann können wir
uns im Grunde auch gleich selbst das Schwert in die Brust
rammen.«
»Ich dachte, wir sollten den Leichtern während
ihrer Überfahrt nur als Eskorte dienen?«
»Nein. Deshalb bin ich auch hierhergekommen, um dir
das zu sagen. Wie es scheint, hat Paulinus endlich einmal auf den
Rat seiner Kavalleriekommandeure gehört. Ein Kurier war gerade bei
mir, der mir die Planänderungen mitgeteilt hat. Man hat offenbar
beobachtet, wie sich die Krieger und die Träumer der Insel zu einer
Versammlung zusammengefunden haben. Aber die Kommandeure wollen
ihre Truppen natürlich nicht gegen feindlichen Widerstand anlanden
lassen. Der Gouverneur hat also verlangt, dass erst einmal nur wir
rüberschwimmen, um uns ein Stück des Ufers zu erkämpfen und diesen
Brückenkopf dann so lange zu halten, bis die Boote sicher
angelandet sind. Und er will, dass wir jetzt sofort aufbrechen.
Wenn wir uns also beeilen, schaffen wir es noch hinüber, ehe der
Gezeitenwechsel einsetzt. Und darum wird es jetzt höchste Zeit, die
Männer antreten zu lassen.«
Ein Paar kleiner, schwarz-weiß gefiederter Vögel
schoss so dicht über den Wellenkämmen über das Meer, dass es
beinahe einen kleinen Pfad in das Wasser zu pflügen schien.
Ein, zwei Flügelschläge lang flogen sie parallel
zum Festland. Dann drehten sie in westliche Richtung ab und
steuerten direkt auf Mona zu. Sowohl der Präfekt als auch sein
Zweiter Dekurio schauten den Tieren nach. Schließlich fragte Ursus
in nachdenklichem Tonfall: »Ihr habt doch früher einmal mitten
unter diesen Leuten gelebt. Ist es wahr, dass die Träumer ihre
Seelen in Gestalt von Vögeln ausschicken können, um auf diese Weise
den Feind auszuspionieren?«
Corvus verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich
hoffe, nicht. Und falls doch, möchte ich doch sehr hoffen, dass sie
kein Latein verstehen.«
»Halt das verdammte Pferd fest, oder ich werde dir
gleich höchstpersönlich die Kehle durchschneiden!«
Ursus brüllte, dass ihm beinahe schon die Stimme
versagte. Im Grunde aber hätte er ebenso gut auch bloß flüstern
können. Auf dem Festland hatten die Männer mit ihren Tieren zu
kämpfen. Männer, die bereits reiten konnten, noch ehe sie laufen
gelernt hatten, hatten Mühe, ihre Pferde unter Kontrolle zu halten.
Pferde, die darauf gedrillt und abgerichtet waren, jedem der
Befehle ihres Herrn sofort Folge zu leisten. Zusätzlich trugen sie
Gebissstangen im Maul, die hart genug waren, um den Tieren im
Zweifelsfall sogar den Gaumen zu durchbohren, falls sie ihr
jahrelanges Training vergessen sollten und ihre Reiter damit
zwängen, ihren Willen mit Hilfe von Schmerzen zu brechen.
Doch ganz offensichtlich war genau das im
Augenblick der Fall. Die Schlachtrösser verhielten sich einfach
nicht mehr so, wie man sie abgerichtet hatte, und daran konnte auch
der skrupellose Gebrauch der Trensen nichts ändern.
»Es sind die Träumer! Sie haben die Pferde
verhext!«, schrie einer der Bataver vom Rücken seines Tieres herab.
Das Pferd hatte sich fast senkrecht auf die Hinterhufe aufgerichtet
und schien geradewegs in den Himmel klettern zu wollen. Früher war
das Fell des Tieres grau gewesen. Nun jedoch wirkte es pechschwarz
vor lauter Schweiß, und wie weiße Bälle schienen ihm die Augen aus
dem Schädel quellen zu wollen. Schaumiger Speichel mit dicken
Blutschlieren rann ihm aus dem Maul, und sein schrilles Wiehern
verriet größte Panik. Es wollte fliehen. Doch auch die Pferde in
der Nähe dieses Tieres waren nicht mehr zu bändigen, sprangen
unkontrolliert im Kreis und ließen sich von der Angst des blutenden
Kavalleriepferds anstecken.
Ruhig ertönte von links Corvus’ Stimme:
»Bogenschützen, tötet das Tier.«
Ein leises Zischen war zu hören, dann ein feines
Sirren und schließlich jenes dumpfe Geräusch, mit dem Eisen sich in
Fleisch bohrte. Der Bataver, dessen Pferd unter ihm starb, hatte
glücklicherweise noch die Geistesgegenwart, aus dem Sattel zu
springen, als das Tier leblos zusammenbrach. Er rollte zur Seite,
bis er gegen einen Fels prallte, richtete sich wieder auf und blieb
dann dort einen Moment lang sitzen, zutiefst erschüttert. Die
Bataver liebten ihre Pferde, noch mehr sogar, als die Gallier oder
die Thraker ihre Tiere verehrten.
Corvus brauchte seine Stimme nur wenig zu erheben,
um die Stille und das plötzliche, geradezu lähmende Schweigen zu
übertönen.
»Hört mir jetzt alle einmal genau zu! Ich, Corvus,
habe mitten unter diesen Leuten gelebt, und ich sage euch jetzt,
dass sie in der Tat in der Lage sind, in die Köpfe von Menschen
einzudringen. Sie können euch mit ihren Albträumen vergiften. Und
sie können Nebel heraufbeschwören, um euch auf dem Schlachtfeld in
die Irre zu führen. Sie werden zweifellos auch versuchen, euch in
ihre Gewalt zu bringen und euch zu verstümmeln. Noch ehe ihr tot
seid, versteht sich. All das wisst ihr und habt es bereits mit
eigenen Augen gesehen. Aber sie würden niemals in das Bewusstsein
von Tieren eindringen. Das haben sie noch nie versucht, und das
werden sie auch niemals tun. Denn die Tiere haben schließlich nicht
freiwillig beschlossen, hierherzukommen. Und es steht auch nicht in
der Macht der Tiere, diesen Ort aus eigenem Willen wieder zu
verlassen. Die Götter der Wilden dulden es nicht, dass ihre Diener
einem Tier jemals etwas zuleide täten.
Natürlich gibt es nichtsdestotrotz einen Anlass
dafür, wenn eure Pferde plötzlich in Panik geraten. Aber dieser
Anlass hat sicherlich nichts mit irgendwelchen Hexenkünsten zu tun,
sondern ist ganz und gar von dieser Welt. Wir werden nun den Grund
für die Panik der Tiere finden und die Sache beheben. Seht euch
eure Pferde doch bloß mal an! Seht ihr, wie sie alle in die gleiche
Richtung schauen? Wie sie zu den Booten hinüberstarren? Sie haben
eine Witterung aufgenommen, die Witterung von etwas, das sie
hassen. Ursus, befiehl deinen Männern, die Leichter zu durchsuchen.
Grannus, deine Bataver sollen ihre Pferde ans andere Ende des
Strandes führen. Ich habe einen jungen schwarzen Hengst, der gerade
erst für den Krieg abgerichtet worden ist. Er steht im zweiten
Pferch, und als Glücksbringer trägt er das Auge des Horus’ in die
linke Schulter gebrannt. Gib das Pferd dem Mann, dessen Tier gerade
getötet wurde.«
Es hatte einen Moment gegeben, da hatten die
Bataver Corvus töten wollen. Ursus hatte es genau gespürt, als die
ersten Pfeile die Luft durchschnitten: ein kurzer Augenblick des
Entsetzens und dann eine Woge von Zorn, die durch den gesamtem
batavischen Flügel hindurchgegangen war. Er war stets der Ansicht
gewesen, dass schon die Gallier ein schwieriges und sehr
emotionales Volk seien - bis er die Bataver kennenlernte und deren
wildes Geschrei, ihre dünnhäutige Arroganz und ihre Heulanfälle,
die immer dann einsetzten, wenn der Wein etwas zu großzügig
ausgeschenkt worden war, nicht zu vergessen ihren dickschädeligen
Unmut, der meistens auf ein solches Trinkgelage zu folgen pflegte.
Allein dem kläglichen Überrest an militärischer Disziplin, der
jedem Bataver innewohnte, war es zu verdanken, dass dieser Unmut in
erträglichen Grenzen blieb.
Ein Bataver, so die allgemeine Meinung in den
Offiziersunterkünften in Camulodunum, würde immer gehorsam auf
seinem Posten stehen und mit schweigendem Grinsen seinen Dienst
versehen, selbst wenn man ihn gerade eben hatte auspeitschen
lassen. Allerdings sollte derjenige, der diese Auspeitschung
angeordnet hatte, fortan genau darauf achten, diesem Kerl in einer
Schlacht niemals den Rücken zuzuwenden. Vielleicht war das der
Grund, dass erst sehr wenige Bataver ausgepeitscht worden waren,
und dann jeweils nur von ihren eigenen Offizieren.
Und niemand, zumindest soweit Ursus das wusste,
hatte jemals befohlen, einem batavischen Kavalleristen dessen Tier
unter dem Sattel wegzuschießen. Folglich war der Zweite Dekurio
überaus erstaunt, als er spürte, wie der schwarze Hengst, den
Corvus dem Bataver schenkte, die Woge der Wut langsam wieder
abflauen ließ. Dennoch sandte Ursus, noch während er den Befehl
gab, die Boote durchsuchen zu lassen, im Stillen ein rasches
Stoßgebet zum Himmel mit der Bitte darum, dass sich auch
tatsächlich etwas in den Leichtern finden möge. Etwas, das beweisen
würde, dass Corvus recht hatte. Denn das war der einzige Vorteil an
dem schier überbordenden Aberglauben der Bataver: Sobald sie der
Ansicht waren, dass ein Mann unter dem Segen Fortunas lebte, würden
sie alles dafür tun, um das Leben dieses Mannes zu schützen. Nichts
war für Corvus in diesem Augenblick wichtiger, als den Batavern den
von den Göttern geliebten Präfekten vorzuspielen.
Ursus’ Männer hatten den Befehl bereits vernommen
und wollten nur noch wissen, nach welchen Vorgaben sie sich
aufteilen sollten. Er schickte sie in der gleichen Formation, wie
sie auch in ihren Zelten schliefen, an den Strand, wo sie die
Reihen der dort vertäuten und sanft auf den Wellen schaukelnden
Boote untersuchen sollten. Und in der Tat, es dauerte nicht lange,
da stellte sich heraus, dass die Götter Corvus ganz zweifellos
liebten.
»Schweinehaut? Sie hatten Angst vor Schweinehaut?
Ich dachte, wenn die batavischen Pferde in die Schlacht stürmen,
hätten sie an ihren Sattelknäufen grundsätzlich irgendwelche
verwesenden Feindesschädel hängen?« Flavius schnaubte verächtlich
und spie aus. Mit Schwung warf er das ledrige Bündel an den Strand,
das man gleich im ersten Boot gefunden hatte.
»Pferde hassen Schweine«, entgegnete Ursus. »Und
nach dem Gestank zu urteilen, haben wir es hier zudem mit etwas
anderem als bloß der verrottenden Haut eines wilden Keilers zu
tun.«
Er stupste mit der Fußspitze gegen das Bündel und
musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass die Haut sogar noch
übler roch als sein Wolfspelz. Ursus hielt die Luft an, bückte sich
und durchschnitt den Lederriemen, der das Ganze zusammenhielt. Das
Bündel fiel auseinander, und zum Vorschein kam die behaarte Seite
einer Keilerhaut, deren borstige Stacheln durch das Seewasser
beinahe flauschig geworden waren. Er drehte das Bündel um, bis ein
ganzer Arm voll Kräuter herauskullerte, der ebenfalls von einem
Lederstreifen zusammengehalten wurde. Am hinteren Ende des
Strandabschnitts begannen die Pferde in neu aufkeimender Panik
zusammenzuzucken und nach allen Seiten auszukeilen.
»Was ist denn da drin? Es ist doch scheinbar der
Geruch der Kräuter, der den Tieren Angst einjagt, und nicht die
Keilerhaut.«
»Schwingelgras, Wilder Hafer, Schwertwurz. Nichts,
wovor Pferde sich normalerweise fürchten.« Corvus stand dicht neben
Flavius und Ursus. Er kniete mit dem Rücken in Richtung des Windes
und stocherte mit einem kleinen Stück Treibholz in den Kräutern
herum. »Außer...« Er bohrte noch ein wenig tiefer. »Schneid das
hier bitte mal auf. Aber beug dich nicht zu dicht darüber. Denn es
kann sein, dass du später noch einen anstrengenden Ritt vor dir
hast. Vorausgesetzt, wir schaffen es irgendwann, mit der Invasion
der Insel zu beginnen. In jedem Fall möchte ich, dass dein Pferd
dann nicht gleich den Verstand verliert, wenn du in den Sattel
steigst.«
Vorsichtig setzte Ursus sein Messer an. Das
Kräuterbündel brach auf, und eine kleine Scheibe aus Fettgewebe kam
herausgekullert.
»Verbrenn das! Sofort!« Entsetzt sprang
Corvus zurück. So schnell hatte Ursus seinen Präfekten außerhalb
eines Schlachtfelds noch nie reagieren sehen. »Und achte darauf,
dass du das Feuer nicht ausgerechnet dort entzündest, wo der Wind
den Rauch in Richtung der Pferde treibt. Und dann mach dich
schleunigst daran, auch den Rest dieser Bündel aufzuspüren. Wo ein
Bündel ist, da sind unter Garantie noch mehr.«
Ein gutes Stück jenseits des verbrannten
Fähranlegers schichteten die Legionare ein kleines Feuer auf, weit
genug entfernt von den Leichtern und jener Landmarke, von der aus
sie zur Überquerung der Meerenge ansetzen wollten. Das Fett knackte
und spie kleine Funken, und der Rauch war ölig schwarz, während
unten am Strand die Suche fortgesetzt wurde und insgesamt noch fünf
weitere Kräuterbündel gefunden wurden, gleichmäßig entlang der
Küste verteilt. Es war der Lagerhund, der schließlich die letzten
beiden der Bündel aufspürte, und die Belohnung, die ihm daraufhin
zugeteilt wurde, überstieg alles, was er jemals zuvor in seinem
kurzen, harten Leben hatte genießen dürfen.
Als das Durcheinander sich wieder etwas gelegt
hatte und auch die Legionare fast so weit waren, sich endlich in
den Sattel zu schwingen, bemerkte Ursus leise: »Ich verstehe das
nicht. Denn wovor die Pferde sich letzten Endes am meisten
gefürchtet haben, das war das Fohlenbrot von einer Stute, von dem
sich je eines im Inneren der Bündel befunden hatte. Das ist dieser
Gewebepfropf, den eine fohlende Stute im Laufe des Geburtsvorgangs
ausscheidet. Als Kinder haben wir diese so genannten Fohlenbrote
von der Koppel meines Großvaters aufgesammelt und sie, nachdem wir
sie über dem Feuer getrocknet hatten, auf Kordeln aufgezogen um den
Hals getragen. Daran ließ sich gut ablesen, wie viele Fohlen sich
in der jeweiligen Herde befanden. Die besonders zutraulichen Stuten
kamen dann zu uns herübergetrottet und haben mit dem Maul jenen
Pfropf angestupst, den sie ausgeschieden hatten. Kein Pferd, das
ich je gesehen habe, hatte Angst davor.«
»Richtig, normalerweise fürchten die Pferde sich
nicht vor so etwas.« Der Präfekt gab hinter seinem Rücken ein
knappes Zeichen, und sogleich kamen die Pferdeburschen mit Corvus’
und Ursus’ Tieren herbeigeeilt. Corvus ging voran bis an den Rand
des Wassers und fuhr nachdenklich fort: »Ich habe das Ganze schon
einmal gesehen, damals in Alexandria. Da wurde der gleiche Trick
angewandt, um einen Wagen bei einem Wettrennen vom Kurs
abzubringen. Das Fohlenbrot wird in Brennwurz und dem Urin eines
rothaarigen Kindes eingeweicht und dann über einem Feuer aus
Wermutkraut getrocknet. Ich weiß ja selbst nicht, warum, aber die
Pferde haben davor panische Angst, und wer immer diese Bündel hier
versteckt hat, ist sich dessen wohl bewusst. Hätte der Gouverneur
es sich schließlich nicht doch noch anders überlegt, hätten wir
jetzt versucht, die Pferde neben den Leichtern herschwimmen zu
lassen. Ich überlasse es deiner Fantasie, dir auszumalen, was für
ein Chaos daraus entstanden wäre.«
»Danke, nein, das male ich mir lieber nicht aus.«
Ursus verdrehte die Augen. »Und ich habe es auch gar nicht eilig,
herauszufinden, wo diese Bündel herkamen. Denn wahrscheinlich waren
es irgendwelche Aufständischen, die hinter uns in den Bergen lagern
und die dreist genug waren, sich bis an den Strand hinunterzuwagen,
während wir in unseren Zelten lagen und schliefen.«
»Ich fürchte, es ist noch viel schlimmer.« Corvus
wischte sich die Hände an seiner Tunika ab. Sofort fielen Ursus die
feuchten Schweißflecken auf, die Corvus’ Handflächen hinterlassen
hatten. Sein Kommandeur schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Die
Schweinehaut, in die die Kräuterbündel eingewickelt waren, war
vollkommen durchweicht. Aber die Boote, in denen die Bündel lagen,
waren trocken. Außerdem haben wir hier den gesamten Morgen über
Wache gehalten, und uns ist nichts aufgefallen. Ich denke also,
irgendeiner der Inselbewohner hat eine Route gefunden, wie er
sicher über die Meerenge schwimmen kann, eine Route, von der wir
nichts wissen. Und außerdem verpassen wir auf diese Weise noch die
Flut.«
Ursus spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht
wich. Jene Route, die sie über die Meerenge nehmen wollten, war
ihnen von einem Silurer empfohlen worden, einem Mann, der sein
ganzes Leben damit verbracht hatte, zwischen der Insel und dem
Festland zu kreuzen. Und zwei Dinge hatten damals für alle
festgestanden: Zum einen war man der Überzeugung gewesen, dass dies
die einzig sichere Route sei, und zum anderen hatte der Silurer
hervorgehoben, dass die Überquerung der Meerenge unbedingt vor dem
Gezeitenwechsel abgeschlossen sein müsste. Die Inquisitoren hatten
den für die Planung Verantwortlichen geschworen, dass diese
Informationen auf jeden Fall verlässlich seien. Der Mann, der ihnen
sein Wissen für eine beträchtliche Menge an Gold hatte verraten
wollen, war die ganze Befragung über bei der gleichen Aussage
geblieben, selbst dann, als seine Hoffnung auf Reichtum längst
vergessen war und er sich nur noch einen baldigen Tod wünschte. Die
Inquisitoren irrten sich alles in allem also nur sehr selten.
Andererseits hatten jene wenigen Male, wenn sie ihren Opfern doch
einmal die falschen Informationen abgepresst hatten, sich stets zu
den übelsten Katastrophen des gesamten Kavallerieflügels entwickelt
…
Mit schwacher Stimme entgegnete Ursus: »Wir werden
alle sterben.«
»Vielleicht.« Die Legionare hatten Aufstellung
genommen, und Corvus hob die Hand. Überall entlang des Strandes,
vom einen Anleger bis zum anderen, schwangen die Bataver und
Gallier sich wie mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung in ihre
Sättel. Die Sonne schenkte ihnen ihren Segen, und die zartgrünen
Wogen umplätscherten sanft die Hufe ihrer Pferde.
Mit einem aufmunternden Grinsen wandte Corvus sich
zu seinem Zweiten Dekurio um. Das Gesicht des Präfekten war ruhig,
keinerlei Angst spiegelte sich mehr in seinen Zügen. Das heißt,
falls dort überhaupt jemals so etwas wie Furcht zu lesen gewesen
war. Sein Blick war klar und von einer fast schon schmerzhaften
Lebendigkeit. Ursus schaute Corvus in die Augen und erinnerte sich
mit einem Mal wieder daran, dass sein Kommandeur schon einmal
Schiffbruch erlitten hatte und dabei beinahe ertrunken wäre. So
etwas durchlebt zu haben und dennoch dazu in der Lage zu sein,
seine Truppe in voller Rüstung über ein ihnen allen unbekanntes
Gewässer zu führen, verlangte mehr Mut, als man jemals irgendeinem
Mann abverlangen sollte. Ursus’ Wangen glühten, und das aus mehr
als nur einem Grund.
Der Präfekt schaute seinen Zweiten Dekurio
misstrauisch von der Seite an. »Ich glaube«, sagte er mit scharfer
Stimme, »es wäre klüger, wenn du nicht allzu genau darüber
nachgrübeltest, wie diese Bündel in die Boote gelangt sind oder was
die Wilden wohl sonst noch alles gegen uns planen. Und denk vor
allem nicht daran, was uns dort auf der Insel erwartet. Schieb
diese Gedanken weit von dir, wenn wir ins Wasser reiten.
Mittlerweile können wir an alledem ohnehin nichts mehr ändern, dazu
ist es einfach zu spät. Und wenn man in einer Schlacht überhaupt
jemals Angst haben sollten, dann nur vor den Dingen, die man auch
sehen kann und die einem wenigstens irgendwie bekannt sind. Also,
wollen wir losreiten?«
Zu seiner eigenen Überraschung spürte Ursus, wie
ein breites Grinsen sich auf seine Lippen stahl und er energisch
nickte. Erst dann wurde ihm bewusst, dass man ihn soeben darum
gebeten hatte, den Befehl zur Invasion Monas zu erteilen, und dass
er diesem Befehl ohne das geringste Zögern nachgekommen war. Rasch
öffnete er den Mund, wollte all das sofort wieder zurücknehmen -
und überlegte es sich doch noch einmal anders.
Zu seiner Rechten ließ Corvus mit schallendem
Lachen den Arm sinken.
Das Meer verschlang sie mit gierigen Wogen.
Kaltes, grünlich schimmerndes Wasser fraß an den
Beinen der Pferde. Seetang schlang sich um ihre Fesseln, zerrte sie
hinab. Von dem Augenblick an, als die Tiere zu schwimmen begannen
und die Männer sich von ihren Rücken gleiten ließen, um neben ihnen
herzukraulen, von dem Moment an spürte der Ozean ihre hektischen
Tritte und erkannte sie als den Feind.
Corvus schwamm ein gutes Stück vor dem Rest der
Kavallerie. Denn das war, zumindest für die Zeit der Überquerung
der Meerenge, noch der sicherste Platz, den man nur irgend
ergattern konnte. Weit abseits von den schier unzähligen, durch die
Fluten dreschenden Hufen und nur den Tritten des eigenen Pferdes
ausgesetzt.
Dennoch fühlte er sich keineswegs geborgen. Kleine
Wogen, die vom Strand aus betrachtet noch ganz und gar ungefährlich
wirkten und nicht höher zu sein schienen als sanfte Hügel in jenem
wahren Gebirge, zu dem das Meer sich ohne Weiteres aufbäumen
konnte, nahmen mehr und mehr an Größe zu und wuchsen zu haushohen
Brechern heran. Tosend stürzten sie auf Corvus herab, begruben ihn
unter ihrem eisigen, beißenden Salzwasser, strömten zwischen Körper
und Rüstung, drangen ihm in Ohren und Kehle ein, ließen ihn niesen
und verteilten sich in seiner Lunge, womit sie den hustenden und
keuchenden Präfekten der Fünften Gallischen Kavallerie schließlich
an den Rand des Ertrinkens brachten. Hätte er nicht seine Stute bei
sich gehabt und hätte er all dies nicht sein Leben lang immer
wieder trainiert, so wäre er nun zweifellos in den Fluten
versunken. Doch sein Pferd hielt sich streng an das, worauf es
trainiert worden war, schwamm tapfer weiter und bot Corvus mit den
Schlingen, die man ihm zuvor in die Mähne geflochten hatte und
durch die er seinen einen Arm steckte, einen sicheren Halt.
Hinter ihm prusteten und fluchten die anderen
Männer, während sie tapfer dem Vorbild ihres Präfekten folgten.
Oftmals schienen sie in der Tiefe zu versinken, bis die See die
Legionare schließlich doch wieder ausspuckte und wie Korken auf den
Wellenkämmen hüpfen ließ, je einen Mann neben je einem Pferd. Nur
quälend langsam kämpften sie sich jene Route entlang, die ihnen
zuvor erklärt worden war, und dies in dem sicheren Wissen, dass
dies keineswegs der einzig sichere Weg über das Wasser war, und,
schlimmer noch, womöglich von vornherein niemals wirklich sicher
gewesen war.
Sie hatten die halbe Strecke bereits hinter sich
gebracht, als Corvus spürte, wie der Gezeitenwechsel einsetzte. Die
ungeheuren Wassermassen unter ihm und um ihn herum schienen einen
Moment lang innezuhalten, hörten für einen kurzen Augenblick auf,
ihn mit ihren Wogen geradezu zermahlen zu wollen. Es war, als nähme
das Meer einen tiefen Atemzug, als besinne es sich, um sich dann
mit einer einzigen mächtigen Woge umzuwälzen, sodass die
Wassermassen nun von vorn auf Corvus einströmten, statt ihn von
hinten unter sich zu begraben, ganz so, als ob die anziehende Kraft
des Mondes sich plötzlich in eine Gegenbewegung verkehrt habe und
den Präfekten der gallischen Kavallerie von der Insel fortzudrängen
versuchte.
Und weil das Meer und der Wind enge Verwandte
waren, änderte auch die zuvor noch konsequent von achtern wehende
Brise ihre Richtung und blies Corvus nun zunehmend energischer
mitten ins Gesicht. Voller Entschlossenheit schien der Ozean mit
neuer Kraft auf Corvus zuzurasen. Eine mächtige heranrollende Woge
hob ihn hoch über die Wellenkämme empor, nur um ihn kurz darauf
wieder mit sich in die Tiefe zu reißen, bis er dann abermals auf
den Wellen tanzte und keuchend eisiges Wasser und beißendes Salz
einatmete und wieder hustete und wie wild mit seinem eisenbewehrten
Arm auf das Wasser einpeitschte, um irgendwie an der Oberfläche zu
bleiben. Seine Stute, zweifellos das edelste aller Tiere, schwamm
unbeirrt weiter durch Wasser, das plötzlich doppelt so trügerisch
war wie zuvor. Erschöpft zog Corvus sich ein Stückchen an den
Schlaufen in ihrer Mähne nach oben, stemmte sich damit ein kleines
Stück aus dem Wasser heraus und erkannte somit noch vor den anderen
jene weite und ebene Wasserfläche, die sich glatt wie frisch
ausgegossenes Eisen vor ihnen ausbreitete. Im Zentrum dieser Fläche
allerdings waren kleine konzentrische Kreise zu erkennen, die
stetig größer wurden und kräftiger umeinanderzuwirbeln begannen, um
schließlich in der Mitte in Richtung des Meeresbodens zu
versinken.
»Nach rechts!« Während er verzweifelt um sich
schlug, riss Corvus einen Arm empor. Unmittelbar links hinter ihm
schwamm Sabinius, sein Standartenträger, der am Sattelknauf seines
Pferdes eine leicht gekürzte Fahnenstange befestigt hatte. Abermals
rollte der nächste Brecher auf Corvus zu und hob ihn ein Stück
empor, ehe er ihn wieder mit sich hinabriss, sodass er für einen
kurzen Moment das Wippen und Flattern des Banners erkennen konnte.
Als das Wasser gerade wieder langsam aus seinen Ohren zu rinnen
schien, hörte er Sabinius’ Stimme, die jedoch heiser von zu viel
Sole war und viel zu schwach, als dass auch noch andere als die
unmittelbar neben ihm schwimmenden Männer sie hätten hören können.
Doch schon ertönte das Echo von Sabinius’ Ruf, und erleichtert
erkannte Corvus, dass dies die Stimme seines Zweiten Dekurios war.
Kurz darauf war Flavius’ Stimme zu hören, worüber Corvus zu seiner
eigenen Überraschung ebenfalls froh war. Und mit einem Mal galt es,
nur noch zu überleben. Es blieb keine Zeit mehr für Corvus, noch
länger zu horchen, wer von seinen Männern sonst noch die Warnung
gehört haben mochte und sich womöglich vor dem trügerischen glatten
Wasser würde retten können.
Die Wellen waren seltsam flach geworden, sodass
Corvus sie sich widersprüchlicherweise plötzlich wieder größer
wünschte, und er betete darum, dass die Wogen mächtiger würden,
kräftig genug, um ihn hoch in die Luft zu heben, nur um ihn gleich
darauf abermals in die Wellentäler stürzen zu lassen und um ihn
bitte endlich von jener riesigen, grünlich schimmernden
Wasserfläche fortzutragen, die ebenmäßig wie Treibsand unmittelbar
vor ihm auf ihre Opfer lauerte.
Doch er war schon zu nahe herangetrieben worden. Er
spürte bereits den Sog und das Zerren der Unterströmung, die ihn
zunehmend schneller in Richtung des tödlichen Strudels lockte. Und
ganz gleich, wie sehr er sich auch anstrengte, vermochte er doch
nicht mehr dagegen anzukommen. Außerdem hätte er besser auf der
anderen Seite seiner Stute schwimmen sollen. Das Tier schwamm
beharrlich weiter geradeaus, führte sie beide geradewegs in den
sicheren Tod. Corvus stemmte sich mit der Schulter gegen sein Pferd
und schrie: »Rechts! Schwimm nach rechts!« Seine Stimme war nurmehr
ein hohes Jaulen.
Die Stute war ein Geschenk der Tochter der Bodicea
an ihn gewesen. Die Eceni richteten ihre Tiere darauf ab, selbst
inmitten von Schlachtenlärm und Kampfgetümmel jeden noch so feinen
Befehl mit ähnlich präzisen Reaktionen zu erwidern. Allerdings
trainierten die Wilden ihre Tiere nicht auf das Überleben im
Wasser. Corvus konnte also nicht abschätzen, ob sich seine Jahre
des Abrichtens nun, da sie sich in einem realen Ozean befanden,
bezahlt machen würden.
Er trat mit aller Kraft in die Fluten, brüllte auf
Eceni und auf Latein, stemmte sich, einen Arm über ihren Widerrist
gelegt, mit aller Macht gegen die Stute. Als Erstes spürte er, wie
der Druck unter seiner Achsel leicht nachließ, dann neigte die
Stute sich ein wenig zur Seite, drehte ab und schließlich -
geliebtestes aller Pferde! - zog sie Corvus nach rechts und damit
fort von dem drohenden Sog der Strömung.
Er hätte vor lauter Erleichterung weinen mögen,
doch es fehlte ihm ganz einfach der Atem dazu. Er schob und
strampelte und schwamm, und die Zeit schien sich immer weiter
auszudehnen, sodass zwischen den Wellenkämmen der sanften Wogen
jeweils eine ganze Lebensspanne zu liegen schien, doch dann,
endlich, war er wieder in der Brandung.
Um ihn tobten die Reittiere der Götter,
wunderschön und mit weißen Mähnen geschmückt tanzten die Wellen
rund um Corvus herum, und auch seine eigene Stute schien im
Wasserwiderstand einen gewissen Halt gefunden zu haben.
Und dann brach sich unmittelbar vor ihnen,
eingerahmt von grünem Tang zur Linken und braunem Tang zur Rechten,
das weiß schäumende Wasser an den Felsen des gegenüberliegenden
Ufers. Nun wusste Corvus, dass der Silurer nicht gelogen hatte,
sondern ehrlich alles, was er anzubieten hatte, in die Waagschale
geworfen hatte, in der Hoffnung auf Reichtümer und für den Preis
seines eigenen Todes.
Plötzlich schien ein greller Lichtfunken zwischen
dem Strandgeröll aufzublitzen. Zwischen den Klippen befand sich
irgendetwas Glänzendes, das die Sonne widerspiegelte. In diesem
Moment erst erinnerte Corvus sich wieder daran, dass die Insel
keineswegs ein verlassener Ort war, sondern dass dort feindliche
Krieger auf der Lauer lagen und diese nur darauf warteten, sich auf
ihn und seine Männer zu stürzen. Mit der gleichen Sicherheit aber
wusste er auch, dass er nun niemals imstande wäre zu kämpfen,
wahrscheinlich würde er sich noch nicht einmal mehr aus eigener
Kraft auf den Beinen halten können.
Wieder blendete ihn ein Blitzen in den Augen, doch
das schmerzhaft helle Licht verriet ihm auch, dass dort vorn am
Strand etwas im Gange war. Schatten bewegten sich eilends auf den
Saum des Wassers zu. Wieder hörte er im Geiste seinen Zweiten
Dekurio mit vor Angst schwerer Zunge ihren baldigen Tod
prophezeien. Wir werden alle sterben. Und natürlich wusste
Corvus, dass dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Fall sein
würde. Andererseits hieß das noch lange nicht, dass der Tod ihm nun
nicht in gewisser Weise sogar durchaus willkommen wäre. Und auch
seiner Ehre würde ein Tod unter den gegenwärtigen Umständen
sicherlich keinen Abbruch tun. Das Einzige, was ihn an dieser
Aussicht störte, war, dass er trotz allem noch eine sehr strenge
Auffassung davon behalten hatte, wie er seinen Dienst auszuführen
hätte. Folglich wollte Corvus nur sehr ungern dabei beobachtet
werden, wie er bei der geplanten Invasion der Insel starb und damit
zugleich in der Ausübung seiner Pflicht versagte.
Endlich hatte die Stute wieder Sand und
aufgewühlten Strandkies unter den Hufen, und es gab einen kurzen
Moment, in dem das Pferd bereits wieder stand und Corvus noch immer
kraftlos im Wasser trieb. Dann aber zog er sich an den
Mähnenschlaufen empor, drehte sich zur Seite und hievte sich
schließlich in den Sattel hinauf. Energisch schüttelte er das
Wasser ab und zog sein Schwert, eine Bewegung, die ihm nach zwanzig
Jahren der Ausbildung in Fleisch und Blut übergegangen war, und
zwar vollkommen unabhängig davon, wie erschöpft er gerade sein
mochte. Und dann ritt er auf den Strand hinauf, bereit, die Grenze
zwischen Leben und Tod zu betreten, bereit, zu töten oder getötet
zu werden. Erst als der Nebel sich um ihn schloss und er
feststellte, dass er nichts mehr sehen konnte, erinnerte er sich
daran, dass er sich eigentlich zuerst einmal hätte umblicken sollen
und kontrollieren müssen, ob auch Ursus und Sabinius oder
irgendeiner der anderen den Strand erreicht hatten. Doch als ihm
dies bewusst wurde, war es auch schon zu spät, denn der Nebel war
kein Nebel, sondern in Wirklichkeit ein stechender, heimtückischer
Rauch, der sich fest über seine Augäpfel zu legen schien, sodass
ihm sofort der Schleim aus der Nase zu laufen begann und Tränen ihm
die Wangen hinunterrannen und er beim besten Willen wirklich gar
nichts mehr erkennen konnte.
»Corvus?«, ertönte Valerius’ Stimme. Doch das war
unmöglich, zumindest auf dieser Seite des Todes. »Corvus, steig ab.
Solange du auf den Felsen bleibst, bist du nicht in Sicherheit. Die
Stute kann jeden Moment ausrutschen und sich ein Bein brechen, und
dann stirbst auch du.«
»Bin ich denn etwa noch nicht tot?«, fragte Corvus
und hörte dabei voller Erstaunen, wie der Rauch in seine Stimme
einzudringen schien, sie schwerer und schwerer machte und seine
letzten Worte sich länger und immer länger auszudehnen schienen,
bis sie in wilden Spiralen durch seinen Schädel jagten.
Doch gehorsam saß Corvus ab, schließlich wollte er
den Göttern gegenüber nicht ungehorsam sein. Der Fels, auf dem er
stand, begann zu schaukeln und schien unter seinen Füßen zu
schlingern, ganz so, als befände er sich an Deck eines Schiffes. Er
dachte an Segoventos, den Kapitän der Greylag, und an die
Kraft und Zuversicht, mit der dieser das Steuerruder gehalten
hatte, während sein Schiff geradewegs in seine eigene Zerstörung zu
segeln schien. Abermals spürte Corvus das Schlingern und Rollen der
See, und zum ersten Mal in einem ganzen Leben voller Seereisen
spürte er, wie ihm schlecht wurde. Genauer gesagt würde er sich
schon sehr bald übergeben müssen. Und streng genommen sogar genau
jetzt, in diesem Augenblick.
Er kniete sich auf den schaukelnden Fels, drückte
seine schweißüberströmte Stirn in den Tang und erbrach sich so
lange, bis er das Gefühl hatte, dass sich sein Magen in seine Kehle
zu stülpen drohte.
»Corvus? Das reicht. Trink das hier, das wird dir
helfen.«
Noch immer kniete er auf dem harten Fels, spürte
den wohligen Druck von Valerius’ Arm, den dieser ihm um die
Schultern gelegt hatte, spürte, wie Valerius’ andere Hand ihm sacht
die Stirn hielt. Doch noch immer schlingerte der Fels, als triebe
er mitten auf dem vom Sturm aufgepeitschten Ozean. Und im Gegensatz
zu Corvus schien der Junge, als der Valerius ihm nun plötzlich
wieder erschien, sich nicht übergeben zu müssen, sodass das alles
letztlich nur eines bedeuten konnte: Sie beide waren tot, ganz
zweifellos. Hier, in dem Land hinter dem Leben, hatte Corvus also
endlich jene Liebe wiedergefunden, die mehr als zwanzig Jahre lang
fast jeden Augenblick seines Lebens bestimmt hatte, die sein Wachen
und sein Atmen durchdrang, wie kein anderes Gefühl es jemals zuvor
vermocht hatte.
Der Schmerz in seinem Herzen, den er jahrelang
versucht hatte zu ignorieren, nahm ein geradezu überwältigendes
Ausmaß an. Nur unter größter Anstrengung konnte er sich dazu
zwingen, den Kopf zu heben und den Blick auf jene fein
geschwungenen Brauen und die hohen, aristokratischen Wangenknochen
zu lenken, die dort vor ihm schwebten, auf die dominante, gerade
Nase und das lange, glatte schwarze Haar, das nun von feinen
Silberfäden durchzogen war, etwas, was Corvus bei Valerius noch
niemals zuvor gesehen hatte. Und er las in dem schönen Gesicht
Valerius’ Emotionen, las, was dieser im Augenblick empfand,
erkannte, was dieser verdrängt hatte, und Corvus liebte dies alles
von ganzem Herzen.
»Du bist älter geworden, als ich erwartet hatte.
Ich dachte, das Leben würde uns schon eher aus seinem Dienst
entlassen«, sagte Corvus. »Und die Narbe an deiner Kehle ist auch
nicht mehr zu sehen.« Dann fragte er erstaunt: »Und warum trägst du
das Stirnband der Träumer? Haben die Eceni dich etwa wieder als
einen der ihren bei sich aufgenommen?« Das Stirnband hatte er
zuerst gar nicht bemerkt, nun aber erfüllte sein Anblick ihn mit
Erstaunen.
Pechschwarze Augen blickten in die seinen, und in
den Tiefen dieser beiden Augenpaare vereinten sich zwei Welten, wie
sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Abermals erkannte
Corvus in diesen dunklen Augen jene spröde, trockene Ironie, die er
von Anfang an so sehr geliebt hatte, selbst als diese noch nicht
offen zutage getreten war, als Valerius noch nicht begriffen hatte,
wie er diese Ironie eines Tages zu seiner eigenen Verteidigung
würde einsetzen können, als er noch nicht gewusst hatte, welche
Kraft ihm dieser fast schon zynische Zug einmal verleihen würde.
Doch Corvus entdeckte noch mehr. Endlich sah er die Hingabe wieder,
die lange Zeit aus Valerius’ Blick gewichen war, und er sah
Mitgefühl, Fürsorge. Doch er erkannte auch jenen dunklen Schatten
wieder, zu dem einstige Qualen sich verdichtet hatten, und es tat
Corvus in der Seele weh, dass selbst der Tod diese Qualen offenbar
nicht hatte auslöschen können.
Jene Stimme, die ihm vertrauter war als jede andere
Stimme in der Welt und die er unter Tausenden wiedererkannt hätte,
erklärte ihm nun: »Corvus, es tut mir leid. Aber ich bin nicht Bán,
den du unter dem Namen Valerius kanntest. Ich bin sein Vater. Aber
vielleicht freut es dich zu hören, dass du noch am Leben bist. Du
musst mir jetzt bitte vertrauen, dann wirst du auch lebend wieder
zum Festland zurückkehren. Und wenn du die weiteren Schritte in
deinem Leben von nun an mit etwas mehr Sorgfalt planst, dann, so
glaube ich zumindest, wirst du meinen Sohn in diesem Leben auch
noch mindestens einmal wiedersehen, ehe der Tod euch beide in sein
Land holt. Und vielleicht verhilft diese eine Begegnung deinem
Herzen ja auch, endlich den Schmerz zu vergessen, der schon so
lange darin wohnt.«
Wäre Corvus nicht so entsetzlich übel gewesen,
hätte er mit Sicherheit sofort gesehen, dass dieser Mann nicht
Valerius war. Er hätte die fremde Kadenz in dessen Stimme erkannt,
die Stimme eines Mannes, der die Qualen, die mit einem Leben im
Dienste des Kaisers einhergingen, nie kennengelernt hatte.
Verzweifelt durchforstete Corvus die Überreste seines Bewusstseins
und klammerte sich dann an jene Scherbe, die ihm in diesem
Augenblick am wichtigsten erschien. »Ach, was in unserem jetzigen
Leben geschieht … darum geht es doch im Grunde gar nicht. Mir liegt
etwas ganz anderes am Herzen. Kannst du mir versprechen, dass
Valerius und ich uns nach diesem Leben wiedersehen werden, dass wir
im Tode zusammen sein werden? Wird uns dort endlich etwas Zeit
miteinander vergönnt sein?« Noch niemals zuvor hatte er dies einen
Menschen gefragt, nie hatte er seine Sehnsucht so klar in Worte
gefasst, nie hatte er sich so verzweifelt nach etwas gesehnt.
»An jenem Ort, an dem die Zeit nicht mehr
existiert?« Erstaunlicherweise lag in den dunklen Augen deutlich
weniger Mitgefühl, als Corvus erwartet hatte. Stattdessen erkannte
er in dem Blick seines Gegenübers eine seltsame Tiefe und einen
Hauch von Belustigung. »Im Tode, genauso wie im Traum, ist alles
möglich. Wenn du Valerius’ Seele hier erreichst und es schaffst,
zumindest in deinen Träumen mit ihm zusammen zu sein, dann wirst du
ihn auch im Tod an deiner Seite finden. Aber ich vermute, wenn es
eines Tages so weit ist, wird es auch noch andere geben, die nach
dir suchen werden und die du ebenfalls wiedersehen möchtest. Denn
dein Herz gehört nicht nur allein meinem Sohn, sondern noch
mindestens einem weiteren Mann, nicht wahr?«
Ein Corvus wohlvertrautes Gesicht tauchte flüchtig
im Nebel auf, er sah südländische, alexandrinische Gesichtszüge.
Dann ertönte der Schrei eines Falken, das südländische Gesicht
verblasste, und die goldene Statue des Horus tauchte vor seinen
Augen auf, sie sträubte ihr Gefieder, legte es dann wieder dicht an
den Körper an und musterte ihn aus einem blinzelnden Auge mit
scharfem, doch zugleich auch beschützendem Blick. »Ja, es gibt noch
einen weiteren Mann, den ich gern wiedersehen würde, nicht aber
lieben möchte«, entgegnete Corvus in der Annahme, damit alles
gesagt zu haben.
Luain mac Calma, der Vorsitzende des Ältestenrats
von Mona, packte Corvus’ Handgelenke und half ihm, wieder
aufzustehen. »Sei nicht so voreilig mit deinen Aussagen darüber,
wie du empfinden wirst, wenn das Leben dich nicht mehr länger an
sich bindet. Denn alles ist möglich. Alle Liebe wird sich zu einer
einzigen vereinigen, wird weitaus mehr als bloß die Spanne eines
einzelnen Lebens überdauern - wenn du es dir denn so wünschen
solltest. Falls du Valerius aber auch in diesem Leben noch einmal
sehen willst, solltest du jetzt wieder gehen. Der Krieg um Mona hat
gerade erst begonnen, und der Tod liegt bereits zu schwer über
diesem Land, als dass du noch länger gefahrlos hier verweilen
könntest.«
»Gehen?«, fragte Corvus benommen und so naiv wie
ein kleines Kind. »Aber wohin?«
»Steig wieder auf dein Pferd, schwimm zurück ans
Festland. Oder überquer die Meerenge in einem Leichter, wenn du
lieber noch warten möchtest. Ich denke, schon bald werden einige
der Boote wieder frei sein. Und die, die von der Besatzung noch am
Leben sind, werden einen Befehlshaber brauchen, der genügend
Autorität besitzt, um sie endlich wieder zu sichereren Ufern
zurückzubringen.«