XL
Nachdenklich wanderte Valerius am Bach entlang.
Als Corvus’ Schritte auf der gegenüberliegenden Bachseite
schließlich in der Ferne verklungen waren, blieb er stehen und
beugte sich zum Wasser hinab, um sich das Gesicht zu waschen.
Niemand kam, um ihm bei seinem einsamen nächtlichen
Spaziergang Gesellschaft zu leisten oder um ihm überflüssige Fragen
zu stellen. Noch stand kein Mond am Himmel, um Valerius den Weg zu
Nemain zu erschließen. Es grasten auch keine Bullen in der Nähe der
beiden Armeen, die ihn Mithras hätten näher bringen können. Dennoch
hatte er in dieser Nacht eine Grenze überschritten, und dies nicht
nur insofern, als er sich bei der Überquerung eines Bachs nasse
Füße geholt und sich einer letzten Erinnerung an die Liebe
hingegeben hatte. Mittlerweile war die Nacht merklich kühler und
frischer geworden, sodass die Sterne wie Löcher wirkten, die in die
unendliche Weite des Firmaments gestanzt waren, durch die
göttliches Licht strömte. Valerius wandte sich landeinwärts, um
quer über das offene Gelände in Richtung Lager zurückzugehen,
innerlich bereit, das Schicksal anzunehmen, das ihm der neue Tag
bescheren würde.
Nach einer Weile traf er auf Cygfa. Mit ihr hatte
er nun wirklich nicht gerechnet. Sie stand ganz allein da, umfangen
von einer Nacht, so schwarz, dass allein ihr helles Haar sie
verriet. Und selbst das schimmerte in der Finsternis nur noch in
einem eigenartig stumpfen Zinngrau statt in dem leuchtenden
Weizenblond, das man bei Tage als das Vermächtnis ihres Vaters
erkannte. Seit der Schlacht um Camulodunum hatte Cygfa sich spürbar
verändert, doch Valerius war sich nicht so ganz darüber im Klaren,
was genau die Gründe dafür waren. Einer der Gründe, so vermutete
er, war sicherlich Braints Tod, und so sagte er: »Das mit Braint
tut mir aufrichtig leid.«
»Danke. Mir tut es auch unendlich leid, aber es war
ein guter, ehrenhafter Tod und ein guter Tag, um zu sterben. Nur
wenigen von uns ist die Ehre vergönnt, den Fluss unter demselben
Mond zu überqueren wie Dubornos. Du hast also bereits davon
gehört?«
»Ja. Als Erste hat Airmid mir davon erzählt, und
später hat Breaca mir dann ausführlicher davon berichtet.«
»Wie viel von dem, was sich zwischen Dubornos und
mir abgespielt hat, haben sie dir erzählt?«
»Sie sagten mir, dass du dich angeboten hättest,
seine Saat nach seinem Tode zu neuem Leben aufkeimen zu lassen,
aber er...« Angestrengt bemühte Valerius sich darum, die richtigen
Worte zu finden, denn er wollte Cygfas plötzliche Verkrampftheit
und Reserviertheit ihm gegenüber nicht noch verstärken, wollte
dieses andere, das da von ihr auszugehen schien, das er jedoch noch
nicht zu deuten vermochte, nicht noch mehr hervorlocken. Derart
reserviert hatte Cygfa sich ihm gegenüber nicht mehr verhalten,
seit sie auf einem Schiff aus Gallien geflohen waren, damals, als
er noch immer geglaubt hatte, er kämpfe für Rom. An diese Zeit
wollte er lieber nicht mehr zurückdenken. Außerdem hatte er sich
inzwischen so sehr an die Offenheit und Ungezwungenheit im Umgang
mit Cygfa gewöhnt und daran, dass sie ihn trotz allem, was er einst
gewesen war, voll und ganz akzeptierte, dass es ihn nun wahrlich
schmerzen würde, feststellen zu müssen, dass er all dies mit einem
Mal wieder verloren hätte.
Wortlos wandte sie sich um und führte sie näher an
das Lager heran, dorthin, wo bereits vage der Schein der Feuer das
Dunkel erhellte, sodass es ihm vielleicht möglich wäre, in Cygfas
Miene zu lesen, um zu erkennen, was in ihr vorging. Zunächst folgte
sie Valerius bereitwillig, drängte ihn dann jedoch etwas weiter
ostwärts, hinüber zu dem Zelt, das die Flüchtlinge ihm geschenkt
hatten, und zu dem roten Lichtschein des Kohlebeckens, das in
dessen Innerem brannte.
»Dubornos wollte das, was ich ihm anbot, nicht
annehmen«, erklärte sie schließlich, als sie vor dem Zelt
angekommen waren. »Offenbar konnte er es nicht. Vielleicht hätte
ich mich ihm also besser nicht anbieten sollen. Aber zu der Zeit
hatte ich nun einmal das Gefühl, dass es richtig war.«
»Dann war es auch richtig.« Luain mac Calma oder
auch Efnís hätten dies sicherlich besser ausgedrückt, sodass es
weniger oberflächlich und nicht ganz so leicht dahingesagt
geklungen hätte; sogar er, Valerius, selbst wäre dazu imstande
gewesen, wäre er innerlich nicht noch immer so aufgewühlt
gewesen.
»Ich weiß. Und auch Dubornos hat das, was er sagen
musste, laut und in Gegenwart aller gesagt. Das werden sie dir
sicherlich auch erzählt haben.«
Inzwischen waren sie so nahe an dem Zelt angelangt,
dass sie den Geruch der Holzkohle ausmachen konnten, mit der das
Becken gefüllt worden war, und auch den Duft des Rosmarinöls, das
irgendjemand daraufgetröpfelt hatte. Im Stillen dankte Valerius
inbrünstig dafür, dass er ausgerechnet diesen Duft nicht schon
gerochen hatte, bevor er Corvus wiedergesehen hatte. In jenen lange
zurückliegenden Jahren, als sie ihrer beider Leben wie ein
einziges, gemeinsames gelebt hatten, hatten sie oftmals Rosmarinöl
auf das Feuer geträufelt, bevor sie sich der Liebe hingaben. Hätte
er die Erinnerung daran also vorhin schon mit sich herumgetragen,
als er Corvus am Bach begegnet war, dann wäre es ihm noch
wesentlich schwerer gefallen, sich so bald schon wieder von diesem
zu trennen. Valerius zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf
Cygfa zu konzentrieren und auf das, was diese gerade sagte.
»... keiner weiß, was er ausschließlich zu mir
allein sagte, als er mich zum Schluss umarmte.«
»Was sagte er denn?«
Ganz zweifellos mussten diese letzten Worte von
Dubornos von großer Bedeutung für sie sein. Von so übermächtiger
Bedeutung sogar, dass sie Cygfa selbst in der Nacht vor der
entscheidenden Schlacht nicht hatten schlafen lassen und sie
schließlich dazu gezwungen hatten, in die Dunkelheit
hinauszuwandern, um Valerius zu finden. Es mussten wahrhaft
prophetische Worte gewesen sein, denn Cygfas Gesicht wirkte
mindestens ebenso blutleer und leichenblass wie ihr Haar, und
lediglich der Widerschein des Kohlebeckens verlieh ihren Wangen und
ihrem Schopf noch einen Hauch von Farbe. Valerius wusste also
durchaus, welch große Rolle Dubornos’ letzte Worte spielten, und
dennoch fiel es ihm schwer, nun einen klaren Gedanken zu fassen und
allein für Cygfa dazusein - der erinnerungsträchtige Duft des
Rosmarinöls und das plötzliche Gefühlschaos angesichts des gleich
von zwei Göttern erfüllten Raums, der sich in seiner Seele aufgetan
hatte, hinderten ihn daran.
Er klammerte sich an eine der Spannschnüre des
Zeltes und schloss seine Finger so fest darum, dass das Leder eine
tiefe Rille in seine Handinnenfläche grub, obgleich er wusste, dass
er dies am nächsten Morgen und während der kommenden Schlacht
bitter bereuen würde.
Doch auch Cygfa hatte mit einem Gefühlschaos zu
kämpfen, nur dass der Tumult in ihrer Seele andere Gründe hatte,
Gründe, die Valerius noch nicht zu erkennen vermochte. Sie schloss
die Augen, und es war ihr deutlich anzumerken, welche Anstrengung
und Überwindung es sie kostete, nun zu erklären: »Bevor Dubornos
sich den Göttern opferte, sagte er zu mir: ›Du bist dafür bestimmt,
eine andere Saat in dir keimen zu lassen als die meine. Wenn also
der Augenblick kommt, dann lass ihn nicht ungenutzt
verstreichen.‹«
Bereits in Rom hatte Cygfa eine Vergewaltigung über
sich ergehen lassen müssen, und dann, gegen Ende des letzten
Winters, noch einmal, diesmal von den Veteranen des Prokurators.
Falls sie also jemals einen Mann begehrt haben sollte, so konnte
Valerius sich jedenfalls nicht vorstellen, dass dieser Augenblick
nun ausgerechnet jetzt sein sollte. Es war nicht gut, schlecht von
einem Mann zu denken, der gerade erst sein Leben den Göttern
geopfert hatte, und dennoch verfluchte Valerius den toten Sänger im
Stillen als Narren und Dummkopf und nahm seine Verwünschung danach
auch nicht wieder zurück.
»Dubornos wandelte bereits mit den Göttern, als er
das sagte«, entgegnete er. »Wahrscheinlich hat er also auf die
gleiche Art gesprochen, wie sie es tun, ich meine, in Form von
Traumbildern und vagen Botschaften. ›Eine Saat in sich keimen zu
lassen‹ muss nicht immer bedeuten, dass man ein Kind gebärt. Das
kann auch heißen, dass man bloß eine Idee hegt... so gesehen
könnten also auch Männer eine ›Saat‹ in sich, in ihrem Kopf keimen
lassen...«
»Nein. Ich kannte Dubornos ebenso gut wie jeder
andere. Er sprach nicht in Traumbildern. Ich habe mit Gunovar
darüber gesprochen. Sie war dabei, war gemeinsam mit ihm Teil der
Zeremonie. Sie fühlte das Gleiche, was auch er fühlte. Sie sah das
Gleiche, was auch er sah.«
Eine unbestimmte Furcht überkam Valerius, eine
schreckliche Vorahnung. Wieder klammerte er sich an die Zeltschnur,
ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, welchen Schaden
seine Hand dabei nahm. »Was?«
»Dass es bei diesem Krieg nicht nur um einen
einzelnen Stamm oder ein einzelnes Volk geht. Worauf es jetzt
ankommt, ist nicht, ob wir die morgige Schlacht gewinnen oder
verlieren, ob du oder ich als Überlebende aus dieser Schlacht
hervorgehen oder ob wir unser Leben dabei lassen müssen. Worauf es
jetzt ganz allein ankommt, ist vielmehr, dass das Geschlecht, dem
wir angehören, nicht mit uns ausstirbt, sondern über unseren Tod
hinaus weiter bestehen bleibt. Dass Kinder geboren und aufgezogen
werden, die die Kräfte der Götter in sich vereinen können und diese
Macht, diese Fähigkeiten zum besonderen Wohle des Landes einsetzen.
Breaca erfuhr damals in ihrer ersten Vision während ihrer langen
Nächte der Einsamkeit, dass es die Kinder waren, auf denen die
Zukunft der Stämme, des ganzen Landes basierte, dass sie das
höchste Gut sind. Und das trifft auch heute noch zu. Ohne
die Kinder - die richtigen Kinder - können wir morgen siegen
und letztendlich trotzdem verlieren. Mit ihnen jedoch können
wir morgen verlieren und trotzdem am Ende den Sieg
davontragen.«
Valerius hatte sich auf dünnem Eis bewegt. Und
plötzlich war dieses Eis eingebrochen, und er sank durch unendlich
tiefes, schwarzes, eisig kaltes Wasser tiefer und immer tiefer. Ihm
standen regelrecht die Haare zu Berge, und seine Zunge schien so
dick angeschwollen, dass er keinen Ton mehr hervorbrachte. Er
versuchte, sich an Corvus zu erinnern, und war doch nicht dazu in
der Lage. Longinus befand sich in Rufweite. Dennoch konnte Valerius
einfach nicht den Atem finden, um ihn zu Hilfe zu rufen.
»Nein«, entgegnete er schließlich mit
ausdrucksloser, gepresst klingender Stimme und fand endlich die
Kraft, einen Schritt zurückzuweichen. »Das willst du nicht
wirklich. Und ich will es schon gar nicht. Wenn es denn unbedingt
getan werden muss, dann sollen doch andere es tun, aber nicht
wir.«
»Wer denn?« In diesem Moment schien Cygfa wie das
exakte Ebenbild ihres Vaters, wenn dieser seine Verachtung als
Waffe gegen einen Gegner einsetzte. »Meinst du, ich sollte dich
vielleicht zu Graine schicken?«
»Lass das!«
Sie war ganz dicht an ihn herangetreten, und er
hatte wohl versucht, sie wegzustoßen. Ihre Hände umschlossen seine
Handgelenke, hielten sie fest. Ihr Gesicht war dem seinen so nahe,
dass er ihren Atem und ihren Schweiß riechen konnte, und nichts
davon hatte Ähnlichkeit mit dem, was er gerade am Ufer des Bachs
hatte zurücklassen müssen.
Es war nicht das, was er wollte. Er konnte sich
auch nicht vorstellen, dass er jemals das Verlangen danach
verspüren würde, außer das eine Mal, damals, aber das war mit
Nemain gewesen und deshalb etwas völlig anderes …
Er erinnerte sich an Flusswasser, an das Gefühl,
wie es einer Liebkosung gleich über seine Haut strömte, und diese
Erinnerung war heilig und unantastbar, etwas, was sich nicht
einfach so wegschieben ließ.
Genauso wenig wie Cygfa. Sie war die Stärkere, und
die Götter erfüllten ihre Augen mit dem Feuer leidenschaftlicher
Überzeugung. In diesem Moment glich sie ihrem Vater so sehr, dass
es so schien, als ob sie Caradoc wäre, der sich in eine Frau
verwandelt hatte oder der ganz einfach in anderer Gestalt wieder
auf die Welt gekommen war. Valerius hatte Caradoc nie geliebt, er
hatte ihn nur respektiert und um dessen Leben beneidet.
Cygfa war ihm einfach zu nahe, ihr Blick zu ernst,
zu eindringlich. »Valerius, hör mir zu. Unsere beiden
Familienlinien müssen auch in Zukunft fortbestehen. Graine ist zwar
ebenfalls eine Nachfahrin des Sonnenhunds, aber sie ist noch zu
jung. Und natürlich könnte auch Cunomar mit einer Frau ein Kind
zeugen, aber er ist trotzdem nur ein Teil des Ganzen. Es gibt also
niemanden, der dir gleichkommt. Du bist der Sohn des Vorsitzenden
des Ältestenrats von Mona, einem der größten, möglicherweise sogar
dem größten Träumer, den es je gegeben hat. Macha war ihm
ebenbürtig. Wenn sie geblieben wäre, dann wäre höchstwahrscheinlich
sie an seiner Stelle in dieses Amt gewählt worden. Und wäre dein
Leben anders verlaufen, wäre es jetzt nicht Efnís, der zum
Nachfolger deines Vaters ernannt wurde, sondern wahrscheinlich
du.«
»Aber ich will überhaupt nicht Vorsitzender der
Ältestenrats von Mona sein«, platzte es aus Valerius heraus. Eine
vollkommen nutzlose Erwiderung, wie ihm gleich darauf klar
wurde.
»Ich weiß. Und du willst auch kein Kind zeugen, und
ich will keines empfangen und gebären. Trotzdem muss es geschehen.
Es muss geschehen.«
Cygfa lehnte sich ein klein wenig zurück, sodass
sie Valerius nicht mehr ganz so nahe war, ihn aber trotzdem noch
immer festhielt. Ihr Blick hatte etwas Herausforderndes an sich.
Mit genau dem gleichen Ausdruck in den Augen hatte sie Valerius
schon einmal angesehen, damals, an jenem lange zurückliegenden Tag
in Gallien, als sie am Ufer eines anderen Flusses gestanden hatten.
Damals war er so anmaßend gewesen, so überheblich... und nicht nur
er, sondern sie beide. »Frag deine Götter und finde heraus, ob sie
das, was ich sage, akzeptieren. Wenn du dann ehrlich und aufrichtig
sagen kannst, dass sie nicht damit einverstanden sind, dann lasse
ich dich in Ruhe.«
Aber genau das war ja der Grund für seine Furcht
und für die Verzweiflung, die ihn überkommen hatte: Er wusste nur
zu gut, was seine Götter wollten. Wenn er diesen Wunsch der Götter
nun laut ausspräche, würde Cygfa wohl nie mehr von ihm
ablassen.
Sie spürte, wie Valerius’ innerer Widerstand mit
einem Mal in sich zusammenbrach. Er sah ihre Fassungslosigkeit, die
plötzliche Verwirrung und Bestürzung, die sich ihrer bemächtigten,
ganz so, als ob sie sich insgeheim darauf verlassen hätte, dass er
letztendlich doch als Sieger aus dieser Kontroverse hervorgehen
würde, und als ob sie nun, da er überraschend nachgegeben und sich
in das Unvermeidliche gefügt hatte, plötzlich nicht mehr wüsste,
was sie tun sollte.
Dann nahm sie all ihren Mut zusammen - jetzt
plötzlich sehr viel kleinlauter als noch vor wenigen Augenblicken
-, und zwang sich, einem Weg zu folgen, den sie eigentlich niemals
hatte einschlagen wollen. Sie standen in unmittelbarer Nähe des
Zelteingangs, und noch immer hielt sie Valerius an den Armen fest.
Sanft zog sie ihn nun auf den Zelteingang zu.
»Hier drinnen?«
Sie waren zu vertraut miteinander, hatten einfach
schon zu viele Schlachten miteinander geschlagen, als dass der eine
vor dem anderen hätte verbergen können, was in diesem Moment in ihm
vorging. Nur zu deutlich konnte Valerius Cygfas Angst spüren und
auch, wie viel Mut und Überwindung es sie kostete, um nun trotz
allem an dem festzuhalten, was sie für zwingend notwendig
hielt.
»Nein«, erwiderte Valerius. »Ich möchte nicht, dass
dieses Kind auch nur ansatzweise in Berührung kommt mit dem Wesen
Roms. Komm mit«, sagte er und führte Cygfa fort von den kunstvoll
bestickten Zelthäuten, dem rot glühenden Kohleöfchen und dem zu
starken Duft des Rosmarinöls - zurück zum Ufer des Bachs, zu einem
Platz, der ein Stück weiter oberhalb seines Treffpunkts mit Corvus
lag.
An dieser Stelle beschrieb der schmale Fluss einen
Bogen in Richtung Osten und wand sich dann in einer Mäanderschlinge
wieder in die entgegengesetzte Richtung. Der Scheitelpunkt dieser
Kurve lag ziemlich genau in der Mitte zwischen den Lagerplätzen der
beiden Armeen. Der Lichtschein, der von den Feuern beider Feldlager
bis hierherdrang, war gerade hell genug, dass Cygfa und Valerius
den Erdboden erkennen und sich gegenseitig sehen konnten.
Hier bildeten Holunderbüsche, schwer beladen mit
kleinen, harten grünen Beeren, gemeinsam mit tief herabhängenden
Trauerweiden ein kleines Gehölz. Das Gras stand knöchelhoch und war
noch gänzlich unberührt von den Verwüstungen des Krieges. Wasser
strömte sanft murmelnd und plätschernd dahin; an dieser Stelle gab
es keine Trittsteine, die den Fluss in seinem Lauf behinderten.
Cygfa und Valerius scheuchten eine Krähe auf, die sich zum Schlafen
niedergehockt hatte und bei deren Erscheinen verstört
davonflatterte.
Mit dünner, gepresst klingender Stimme fragte
Cygfa: »War das eben ein Zeichen Brigas? Ein Zeichen dafür, dass
wir ihren Segen haben? Oder eher nicht?«
»Das war sowohl das Zeichen Brigas als auch das
Zeichen Mithras’«, erklärte Valerius. »Der Rabenvogel ist das
Geschöpf, das bei ihm an erster Stelle steht, noch vor dem Hund und
dem Stier und der Schlange.«
Cygfa rang sich ein Lächeln ab. »Falls die dann
auch noch alle hier auftauchen sollten, könnte es ja eine richtig
interessante Nacht werden.«
Sie litt solch große Angst und bemühte sich
gleichzeitig so angestrengt darum, diese Angst nicht zu zeigen.
Eine Mauer schien sich zwischen ihnen aufzubauen, die dringend
wieder niedergerissen werden musste.
Valerius durchforschte seine Seele nach Mitgefühl
und fand es und obendrein noch eine Art von Liebe, die in Respekt
vor alledem wurzelte, was Cygfa gewesen war. Genug, um die beiden
Götter, die in seinem Inneren wohnten, dazu zu bewegen, ihn mit
einer Ahnung von Leidenschaft zu erfüllen.
Vorerst hielt er nur zaghaft Cygfas Hand. »Ich habe
keine Erfahrung in diesen Dingen.«
»Und ich habe entschieden zu viel.« Ihr Körper war
so starr und verkrampft wie der eines in die Enge getriebenen
Rehs.
»Willst du mich dann führen und leiten, damit deine
heutige Erfahrung vielleicht ganz anders sein wird als das, was du
in der Vergangenheit durchgemacht hast?«
»Ich kann es versuchen, aber wenn ich es nicht
schaffe, musst du die Sache trotzdem zu Ende bringen.«
»Ich kann’s versuchen.«
Gemeinsam legten sie sich unter dem mit Beeren
übersäten Holunder nieder und tasteten sich dann langsam und
behutsam zueinander vor. Sie gingen sanft miteinander um, sodass
Mitgefühl und Pflichtbewusstsein genügend Zeit hatten, um sich in
Leidenschaft zu verwandeln und etwas, das an Verlangen
grenzte.
Gegen Ende, als ihre Vereinigung dem Höhepunkt
entgegenstrebte, zu einem Zeitpunkt, als Valerius noch zu sprechen
vermochte, fragte er: »Wenn wir das hier tun, wirst du dich dann
von der Schlacht fernhalten, um das Kind nicht in Gefahr zu
bringen?«
Er spürte, wie ihr Lächeln die Haut an seiner
Schulter dehnte, an jener Stelle, wo sie ihn gerade mit ihren
Zähnen liebkost hatte. Ihre Stimme schallte bis in sein Innerstes:
»Nein. Nichts und niemand wird mich davon abhalten, in der morgigen
Schlacht zu kämpfen, ebenso wenig, wie du dich davon abhalten
lassen wirst. Aber es kann gut sein, dass ich ein wenig anders
vorgehen werde, als ich es eigentlich geplant hatte. Ich meine,
dass ich Braint wohl doch nicht über den Fluss folgen werde... wenn
wir verlieren sollten.«
»Das ist eine gute Entscheidung. Eine sehr gute
sogar. Denn es wäre grausam, dich zu verlieren.«
Die Aufrichtigkeit, mit der er dies sagte, und die
Inbrunst, die in seinen Worten mitschwang, überraschten
sowohl
Cygfa als auch ihn selbst. Und es reichte ganz
offensichtlich, um sie beide in die Lage zu versetzen, auch noch
den letzten Gipfel zu erklimmen und dort schließlich Erleichterung
und Ruhe zu finden, erfüllt von dem Glauben, dass ein Kind gezeugt
worden war, das die geradlinige Abstammung von Mond und Sonne in
sich vereinen und als neues Leben in eine Zukunft eintreten würde,
die erst noch gestaltet werden musste.