XXVIII
Cunomar lag bäuchlings auf einem Mosaik aus
rosafarbenem und grauem Marmor, das Kinn auf die Faust gestützt, um
besser die schwarze Eichentür im Auge behalten zu können, die den
verborgenen Hintereingang zu Claudius’ Tempel bildete.
Um ihn herum erstreckte sich ein kunstvoll
angelegter, von einer Mauer umschlossener Garten, der mit der
Rückseite an die zu dem Haus eines Zenturionen gehörigen
Sklavenunterkünfte angrenzte. Obgleich der Sommer noch kaum
begonnen hatte, war der Garten bereits von Efeu und einer früh
blühenden Windenart überwuchert, deren Ranken einen dichten, alles
unter sich erstickenden Teppich bildeten, durchsetzt mit weißen,
noch geschlossenen Blüten.
Die Gartenmauer war äußerst stabil und nicht dafür
gedacht, erklommen zu werden. Um zu verhindern, dass dennoch jemand
versuchte, darüberzuklettern, waren der Flintstein und die
Kopfsteine, die den Mauerkörper bildeten, so tief in den Mörtel
eingebettet, dass sie keinerlei Halt für die Hände boten, und
darüber hinaus besaß die Mauerkrone eine abgerundete Kante und war
auf ihrer gesamten Länge mit spitzen, scharfkantigen Feuersteinen
besetzt. Folglich hatten Cunomars Krieger sich Zutritt durch das
äußere Tor verschafft. Neun kräftige Schläge mit einer Axt hatten
genügt, um das Schloss an der Pforte zu sprengen und die
Bärinnenkrieger einzulassen. Diese hatten sich auf dem Grundstück
verteilt und harrten nun zwischen den in diesem Klima nur schlecht
gedeihenden Olivenbäumen, den Weinstöcken und den beiden
Springbrunnen aus grünem Marmor, auf denen Jünglinge auf Delfinen
über ein endloses, längst versiegtes Meer ritten, der Dinge, die da
kommen sollten.
Cunomar lag im Schatten des zweiten dieser
Zierbrunnen. Rechts und links von ihm ließen die Krieger
Trinkschläuche herumgehen, die sie mit frischem Wasser aus dem
Brunnen in dem zerstörten Hospital gefüllt hatten. Sie alle hatten
Brandverletzungen erlitten oder waren auf irgendeine andere Weise
verwundet worden. Cunomar hatte noch immer Schmerzen in der
Leistengegend von dem fehlgeschlagenen Schwerthieb, der ihn um ein
Haar seiner Männlichkeit beraubt hätte. Ulla, die ihm am nächsten
lag, hatte eine Brandwunde, die sich über ihren gesamten Unterarm
zog, war aber ansonsten unversehrt geblieben.
Sie reichte ihm einen Wasserschlauch. Durstig trank
Cunomar einige Schlucke und gab den Schlauch dann wieder zurück.
Die Hintertür zum Tempel blieb nach wie vor geschlossen. So hoch
wie ein ausgewachsener Mann und fünfmal so breit, bestand sie aus
massivem, abgelagertem Eichenholz und hatte Angeln aus Leder, die
dicht an dicht mit Eisennieten besetzt waren, damit man sie nicht
so leicht durchschneiden konnte. Die Tür war dafür gedacht, als
Fluchtweg zu dienen, oder auch als geheimer Eingang - als ob nicht
halb Camulodunum schon von dem Tag an, als sie damals eingebaut
worden war, von ihrer Existenz gewusst hätte.
Langsam stieg die Sonne höher, und die Stellen, wo
noch Schatten herrschte, wurden zunehmend kleiner. Als die
umherschwirrenden Fliegen gar zu lästig wurden, begannen diejenigen
Krieger, die noch nicht zum Kampfverband der Bärin gehörten und
daher noch keine so strikte Selbstdisziplin kannten, Wetten darüber
abzuschließen, wer von ihnen wohl als Erster einen der schweren
grünen Marmorspringbrunnen umreißen könnte.
Nach einer Weile vergaßen sie, sich nur im
Flüsterton miteinander zu verständigen, und mit der Wetterei wurde
es richtig ernst. Drei der Krieger pflanzten sich breitbeinig vor
dem Brunnen auf und spuckten sich in die Hände. Alle drei hatten
sich das Haupthaar in einem Bogen über beiden Ohren abrasiert und
den in der Mitte stehen gebliebenen Schopf mit weißer Kalkfarbe
versteift. Einer von ihnen hatte sich darüber hinaus auch noch
freiwillig das eigene Ohr abgeschnitten oder aber von jemandem
abschneiden lassen.
Auf jeden Fall kannte Cunomar keinen der jungen
Krieger beim Namen. Der größte von ihnen machte sich nun an den
Versuch, den Springbrunnen umzustoßen, und zog und zerrte mit einer
derartigen Kraftanstrengung an dem Marmor, dass die Adern an seinem
Hals anschwollen und die Muskeln so stark unter der Haut
hervortraten wie bei einem Ochsen, der einen schweren Pflug ziehen
muss. Andere feuerten den Krieger an. Dennoch rührte der massive
Brunnen sich keinen Millimeter von der Stelle.
Im Schutze des allgemeinen Lärms sagte Ulla zu
Cunomar: »Deine Mutter hat sich ziemlich früh aus der Schlacht um
den Tempel zurückgezogen. Ich habe zufällig mitbekommen, wie sie
eine Frau laufen ließ, obgleich sie sie durchaus hätte töten
können.«
»Das haben alle mitbekommen«, erwiderte
Cunomar.
»Hat sie das bewusst so gemacht, damit wir anderen
es sehen konnten? Damit kein Zweifel mehr daran bestehen würde,
dass sie uns nicht länger anführen will?«
Genau das war auch Cunomars Befürchtung gewesen,
als er mitten in der Schlacht hatte beobachten müssen, wie seine
Mutter sich von dem Kampfgeschehen zurückzog. In die Scham, die ihn
angesichts ihres aus seiner Sicht so schmachvollen Rückzugs
erfüllte, hatte sich gleich darauf die panische Angst gemischt,
dass das Kriegsheer ohne seine Mutter in seiner Kampfkraft
geschwächt werden oder gar völlig zum Scheitern verurteilt sein
würde. Seine plötzliche Panik war auch der Grund gewesen, weshalb
ihm eine rasche, saubere Tötung missglückt war und er dem Mann erst
später den Gnadenstoß hatte versetzen können. Nun jedoch, während
er gemeinsam mit Ulla im Schatten des Olivenbaumes lag, sah er die
Sache in einem anderen Licht.
»Ich denke, das ist genau der Grund, weshalb sie es
getan hat. Indem sie sich ganz bewusst erst zu einem Zeitpunkt
zurückgezogen hat, als uns der Sieg bereits sicher war, hat sie
dafür gesorgt, dass keiner für ihren Rücktritt würde büßen müssen.
Und zugleich hat sie damit den Weg für ihren Nachfolger offen
gehalten, sodass dieser die Heeresführung übernehmen kann, wenn der
Krieg in seine entscheidende Phase geht. Valerius und ich haben
jeder ungefähr gleich viele Anhänger im Heer. Deshalb glaube ich,
meine Mutter weiß wirklich nicht, wen von uns beiden sie
unterstützen soll. Also hat sie uns die Freiheit gelassen, unsere
Eignung vor dem gesamten Heer unter Beweis zu stellen.«
»Es muss schwer sein für eine Frau, zwischen ihrem
Bruder und ihrem Sohn wählen zu müssen«, gab Ulla zu
bedenken.
»Und für Cygfa desgleichen. Denn sie bewundert
Valerius wegen seines Krähenpferdes und wegen der einzigartigen
Art, wie er und der Hengst gemeinsam kämpfen. Beide, sowohl meine
Mutter als auch Cygfa, brauchen einen einleuchtenden Grund, um sich
für den einen oder anderen von uns beiden zu entscheiden. Und nur
wir können ihnen diese Begründung liefern.« Seit dem Sieg über die
Neunte Legion hatte Cunomar stets versucht, die Sache von dieser
Warte aus zu sehen. Hier und jetzt, mit der Aussicht auf einen
wirklichen spektakulären Sieg vor Augen, fiel es ihm am
leichtesten, sich in Gelassenheit zu üben.
In diesem Moment gelang es dem drahtigsten der drei
jungen Krieger, endlich den marmornen Springbrunnen umzustoßen. Und
zwar indem er diesen ein wenig zur Seite kippte und dann mit dem
Fuß rasch einen Stein unter den Sockel schob, um den Brunnen in
seiner wackeligen Schräglage zu halten, während er sich mit seinem
gesamten Körpergewicht auf den grünen Rand des Wasserbeckens
schwang - der daraufhin mit voller Wucht auf die grauen
Marmorplatten krachte, die den Brunnen umgaben, sodass das ganze
Gebilde schließlich in unzählige messerscharfe Scherben
zersprang.
Cunomar fluchte leise und lehnte sich nach rechts
hinüber zu einem schlaksigen jungen Trinovanter, der den Weg zum
Tempelgarten gewusst hatte. »Sag ihnen, sie sollen sich gefälligst
von den scharfkantigen Marmorbrocken fernhalten, wenn sie nicht
wollen, dass sie sich die Füße aufschneiden, sollte endlich die Tür
aufgehen. Gib das durch die Reihe hindurch weiter.«
Er beobachtete einen Moment lang den
Informationsfluss, als seine Anweisung von Krieger zu Krieger
weitergegeben wurde und ein Kopf nach dem anderen nickte, um sich
dann dem jeweiligen Nachbarn oder Hintermann zuzuwenden. An Ulla
gewandt sagte Cunomar schließlich gereizt: »Valerius hätte
überhaupt gar nicht erst zugelassen, dass sie sich an dem
Springbrunnen zu schaffen machten.«
»Mit dem Ergebnis, dass sie nichts daraus gelernt
hätten, sondern bloß wütend auf ihn gewesen wären, weil er ihnen
den Spaß an ihrer Wette verdorben hätte. Deine Art, mit ihnen
umzugehen, ist also nicht unbedingt die schlechtere.«
Cunomars Nachricht war gerade bei den letzten der
Krieger angekommen, die sich im Bereich der rasiermesserscharfen
Marmorscherben aufhielten, als sich an der dunklen Eichentür
plötzlich etwas tat. Man hörte, wie von innen ein Schlüssel im
Schloss gedreht, mit energischem Ruck ein Riegel zurückgezogen und
ein Balken beiseitegeworfen wurde, und im nächsten Moment schlug
die massive Tür auch schon krachend gegen die Kopfsteine der
Gartenmauer.
Cunomar blieb gerade noch Zeit genug, um »Haltet
die Stellung!« zu brüllen und Ulla an seiner Schulter zu spüren,
ehe das Chaos über ihn hereinbrach und ein heftiger, erbitterter
Kampf entbrannte.
Die Veteranen, die durch die Tür nach draußen
stürmten, waren so mager, dass ihr körperlicher Zustand an
Auszehrung grenzte, sie waren unrasiert und schmutzig und ihre
Gesichter und Unterarme mit rot entzündeten Brandmalen übersät.
Doch ihre lederne Rüstung war geschmeidig und liebevoll gepflegt,
ihre Klingen waren sorgfältig geschärft, und sie besaßen den zähen,
durch nichts zu beirrenden Kampfgeist von Männern, die einander
schon seit Jahrzehnten kannten und sich in einem Gefecht blind
aufeinander verlassen konnten.
Wie die spartanischen Helden, die in der Schlacht
um die Thermopylen gekämpft oder sich zu dem Heiligen Bund von
Theben zusammengeschlossen hatten, so waren auch die römischen
Veteranen Männer, die sich mit Leib und Seele dem Krieg
verschrieben hatten und sich niemals gehen ließen. Mehrere Tage
lang hatte Cunomar auf dem grasbewachsenen Abhang oberhalb von
Camulodunum gelegen und beobachtet, wie eine komplette Zenturie von
Veteranen ihre täglichen Übungsmanöver und Truppenübungen
abgehalten hatte.
Als dann seine trinovantische Informantin zu ihm
gekommen war und gemeldet hatte, dass eine bestimmte Gruppe sich
allnächtlich in einem geheimen Schrein im hinteren Teil des Tempels
träfe, hatte Cunomar ganz zweifelsfrei gewusst, wer diese Männer
waren und wie viele Mitglieder ihre Gruppe umfasste. Das Einzige,
was er von der Trinovanterin noch hatte erfahren müssen, war die
genaue Lage des Ortes und in welchem Umfang die Veteranen dort
schon im Voraus Waffen und Rüstungen gehortet hatten.
Die ausführliche Antwort der Frau hatte
folgendermaßen gelautet: »Sie werden alles bekommen, was sie sich
wünschen oder benötigen könnten. Ich mache den Raum für sie sauber,
und jeder Teil davon ist vollgehängt mit Regalen voller Waffen und
Rüstungen bis auf die eine Längswand der Kammer, die von einer
Reihe von Grabsteinen gesäumt ist. In die Steine sind die Namen der
Verstorbenen gemeißelt, die sie wie Heilige verehren.«
Die Veteranen kamen in Keilformation aus dem Tempel
gestürmt und zielten genau auf die Mitte von Cunomars Linie. Noch
bevor die Tür von der Gartenmauer abgeprallt war und wieder
zurückschwingen konnte, hatten sie bereits drei der jüngeren Eceni
getötet. Ein teilweise kahl rasierter Kopf fiel und rollte über den
Boden, sauber vom Rumpf abgetrennt aufgrund der ungeheuren
Schnelligkeit, mit der die Männer angriffen, und der Wildheit, mit
welcher der Anführer des Trupps seine Klinge schwang. Ein Dutzend
anderer, ebenfalls noch ziemlich unerfahrener junger Krieger wich
unter dem Sturmangriff angstvoll zurück, während ihr eben noch so
triumphierendes Kampfgeheul zu einem erschrockenen Krächzen
verblasste.
Für die echten Bärinnenkrieger war diese feindliche
Angriffstaktik allerdings nichts Neues; sie hatten sich bereits bei
dem Brandanschlag auf den Wachturm einer römischen Keilformation
gegenübergesehen und wussten mittlerweile, wie sie damit umzugehen
hatten. Das wiederum hatten sie Valerius zu verdanken, der sie den
ganzen Winter hindurch in der entsprechenden Kampfstrategie
geschult hatte und sie die richtige Technik und Verhaltensweise
hatte einüben lassen. Und so fanden diejenigen, die von Valerius
ausgebildet worden waren, nun trotz des Chaos zueinander, schlossen
sich zu Paaren, Dreier- oder auch Fünfergruppen zusammen und
pressten dicht an dicht ihre Schultern aneinander, sodass sie wie
ein Mann kämpfen und agieren konnten.
Sie bewegten sich seitwärts, fort von dem Schwung
und der Stoßrichtung des feindlichen Angriffskeils, und
schleuderten zuerst Speere und dann Brocken des zertrümmerten
Marmors nach den Beinen der Männer an der Spitze des Keils. Eine
Handvoll der Veteranen kam unter dem Geschosshagel ins Stolpern und
büßte ihr Leben ein, als ihre Schilde zu Boden fielen. Einer der
Männer rannte geradewegs in Cunomars Speer hinein, den dieser
horizontal geschwungen hatte, ähnlich wie einen Knüppel, sodass der
Schlag mit dem Heft des Speeres dem Mann das Genick brach.
Die Römer waren eine Zenturie gewesen, also eine
volle einhundert Mann umfassende Heeresabteilung. Bei jenem ersten
Angriff wurde ihre Truppe um weniger als ein Dutzend Männer
reduziert. Die Übrigen ließen die Gefallenen kurzerhand liegen und
teilten sich ebenso prompt und problemlos in ihre alten Zeltgruppen
auf, als ob sie noch immer jede Nacht in einem Feldlager schliefen
und nicht in ihren mit vergoldeten Dächern geschmückten
Villen.
Rasch und routiniert formierten sie sich zu
Karrees, wobei je zwei Mann eine Seite des Vierecks bildeten, den
Rücken der Innenseite zugewandt und die Schilde dicht an dicht wie
undurchdringliche Barrieren vor sich, sodass sie gerade noch mit
ihren Schwertern durch die Lücken hindurchstoßen konnten. Im
Gegensatz zu den Soldaten der Neunten Legion standen sie jedoch
nicht still, um den Feind zum Angreifen zu verlocken, sondern
gingen selbst zum Angriff über. Mit unglaublicher Wendigkeit fielen
sie sogleich über die Gegner her, wobei sie stets ihre
Karreeformation beibehielten, und töteten auf diese Weise noch mehr
von Cunomars Kriegern.
»Wir brauchen Steinschleuderschützen!«, brüllte
Ulla, während sie vor dem unaufhaltsam herannahenden Tod flüchtete.
Dann, als die Angreifer an ihr vorbeigestürmt waren, hielt sie kurz
inne, um ein faustgroßes Stück Marmor nach den Veteranen zu
schleudern. Es prallte von einem der Schilde ab, ohne auch nur den
geringsten Schaden anzurichten.
Zurzeit aber hatten sie keine
Steinschleuderschützen in ihrer Truppe, denn die waren alle bei
Valerius und kämpften dort jeweils paarweise mit den besseren
Schützen von Mona, um die Verteidiger, die sich noch im Inneren des
riesigen Tempels verschanzt hatten, einzeln abzuschießen.
»Lasst sie nicht zum Tor gelangen!«, schrie Cunomar
zurück. Er hatte dies schon einmal gesagt, nämlich am Tag zuvor,
als sie in der grauen Abenddämmerung gelegen und ihre Strategie
geplant hatten. »Wenn sie es schaffen, aus dem Garten rauszukommen,
werden sie den Tempel von hinten erstürmen. Wir werden Hunderte von
unseren Leuten verlieren, bevor es uns gelingt, sie
aufzuhalten.«
Zu jenem Zeitpunkt hatten seine Anhänger ihm noch
aufmerksam zugehört. Nun jedoch, wo sie der ungeahnten Brutalität
und Heftigkeit des Sturmangriffs der Veteranen ausgesetzt waren,
hörten ihn nur noch sehr wenige.
Ulla hatte sich durch das Kampfgetümmel hindurch
bis zu Cunomar vorgedrängt, und auch Scerros hatte sich ihm
angeschlossen sowie noch ein paar vereinzelte andere Krieger, die
am ersten Tag des Sturms auf Camulodunum gemeinsam mit ihnen an den
Barrieren gekämpft hatten. Cunomar hob sein Messer empor und schrie
den Namen seiner Mutter. Er beobachtete, wie noch mehr versuchten,
sich zu ihm durchzukämpfen, vielleicht insgesamt zwanzig an der
Zahl.
»Das Tor!«
Cunomar rannte los, ohne zu warten, um zu sehen, ob
die anderen ihm folgten. An ihren Schatten, die vor ihm über den
Boden hüpften, erkannte er, dass sie seinem Befehl Folge geleistet
hatten, dass jedoch mindestens zwei von ihnen zu langsam gewesen
waren und mit dem Leben dafür hatten büßen müssen.
Fünfzehn überlebten und erreichten das Tor.
»Verteilt euch! Bildet zwei Linien!«
Mit einer schwungvollen Bewegung breitete Cunomar
beide Arme aus. Seine Krieger bewegten sich nur langsam und seltsam
schwerfällig, ganz so, als ob sie unter Schock stünden, mit
erschrocken aufgerissenen Augen und keuchend nach Luft ringend.
Diejenigen, die bei dem Gefecht an den Barrieren noch ohne jede
Furcht gekämpft hatten, mussten nun feststellen, dass ihnen die
Veteranen und deren methodische Brutalität unerwartet schwer zu
schaffen machten.
Und dennoch, die Tage des harten Drills auf dem
Gelände oberhalb der Stadt zahlten sich aus. Fünfzehn Kriegerinnen
und Krieger formierten sich zu zwei Verteidigungslinien und
blockierten das Tor.
»Ulla! Scerros!«, brüllte Cunomar. »Geht zum Tor
raus. Macht es hinter euch wieder zu und verkeilt es. Findet
Valerius und bringt ihn mit zurück, damit er uns hilft.«
Gehorsam und ohne zu zögern, wandten die beiden
sich zum Gehen. Ein Teil von Cunomar jubelte innerlich darüber,
dass es ihm nun endlich gelungen war, sich als Anführer
durchzusetzen, und dass für die Krieger die Notwendigkeit, ihm zu
gehorchen und sich hinauszuwagen, Vorrang hatte vor dem Bedürfnis,
bei den Kameraden zu bleiben. Der größere Teil seines Ichs aber
zerbrach innerlich an dem Verlust. Cunomar wollte etwas sagen, doch
es blieb keine Zeit mehr: Schon hatten drei Zeltgruppen von
Veteranen sich zu einer gegnerischen Angriffslinie formiert und
bewegten sich in einer Art schlurfendem Laufschritt auf die Krieger
zu. Cunomar konnte den säuerlichen Atem der schlecht Ernährten
riechen, die Ausdünstungen ihrer ungewaschenen Körper und das neue,
frische Öl, mit dem sie ihre Lederrüstungen eingefettet
hatten.
Schatten kamen und gingen, als das Tor hinter ihm
geöffnet und wieder geschlossen wurde. Eine Empfindung, die
Dankbarkeit ziemlich nahe kam, erlaubte es Cunomar, seine
Aufmerksamkeit nun auf den Anführer der Veteranen zu konzentrieren,
der von der Mitte der Reihe aus vorpreschte, ihm direkt
gegenüber.
Die Zähne des Mannes waren faulig, und
offensichtlich hatte er sich mit irgendeiner stumpfen,
ungeschliffenen Klinge rasiert, denn die Haut an seinem Kinn und
den Wangen war mit roten Flecken übersät. Zwischen den roten
Stellen sprossen stellenweise schwarze Barthaare hervor.
Höchstwahrscheinlich hatte er seit mindestens drei Tagen keine
anständige Mahlzeit mehr bekommen, dennoch federte er elastisch auf
den Fußballen, und als er sein Schwert hochriss und zum Schlag
ausholte, geschah dies mit einer geradezu schlafwandlerischen
Behändigkeit und einer solch tödlichen Treffsicherheit, wie Cunomar
sie noch bei keinem je zuvor beobachtet hatte, außer vielleicht bei
Valerius, doch damals war der Schwerthieb nicht gegen ihn, Cunomar,
gerichtet gewesen.
Mit einem triumphierenden Grinsen stürzte der Mann
sich nun auf ihn. Mit einem Mal war die Luft um ihn herum von dem
Gestank sowohl alten als auch frischen Schweißes erfüllt. Cunomar
sprach den neunten Namen der Bärengöttin und konzentrierte sich mit
seinem ganzen Wesen auf seinen Feind. Frei von jeglicher Furcht
riss er seinen Schild hoch, rammte diesen mit aller Gewalt auf die
auf ihn zukommende Klinge und drehte ihn zugleich herum, um eine
Lücke in dem Schildwall ihm gegenüber zu erzeugen. Sein eigenes
Messer bewegte sich in einem Aufwärtsbogen, der eigentlich in den
Eingeweiden seines Gegners hätte enden sollen...
Aber dazu kam es nicht mehr, denn plötzlich war
Ulla mit ihrem Speer da und hatte mit der Spitze ihrer Waffe nach
dem für einen flüchtigen Moment weiß aufleuchtenden Gesicht unter
dem Helm gestochen. Ein gellender Schrei zerriss die Luft, doch es
war unmöglich zu sagen, ob dieser Schrei nun aus Ullas Mund kam
oder aus dem des Veteranen.
»Ulla!« Cunomars Gebrüll übertönte alles. »Raus mit
dir! Finde Valerius!«
»Hat sich... erledigt.« Ulla war noch am Leben.
Leichtfüßig sprang sie rückwärts und ließ ihren Speer stecken, wo
er war. »... ist schon hier.«
Cunomar blieb keine Zeit, um aufzublicken oder sich
umzuschauen. Der Kampf mit den Veteranen war so heftig und brutal,
wie er noch keinen je zuvor gesehen oder sich auch nur vorgestellt
hatte. Die vierundzwanzig Männer der Veteranenabteilung kämpften
weiterhin mit einer Inbrunst und Verbissenheit um das Tor, als ob
nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Ehre davon abhinge.
Letztendlich gelang es ihnen zwar nicht, bis zum Tor vorzudringen,
doch jeder der Männer riss mindestens einen Angehörigen des
Kriegsheeres mit sich in den Tod.
Inmitten seiner Verwunderung über die schier
unglaubliche Tatsache, dass er selbst bisher noch immer mit dem
Leben davongekommen war, fiel Cunomar auf, dass sich inzwischen bei
Weitem mehr Krieger im Garten tummelten, als ursprünglich mit ihm
gekommen waren, und dass ein kleinerer Teil von ihnen sich das Haar
entweder in einem Bogen über beiden Ohren abrasiert oder aber mit
einer Mischung aus weißem Kalk und Lehmerde versteift hatte.
Als ganz plötzlich ein Schleuderstein an ihm
vorbeisirrte und den Mann tötete, der sein, Cunomars, Leben am
unmittelbarsten bedrohte, erfasste sein durch den Kampf und die
Erschöpfung mittlerweile etwas verlangsamter Verstand endlich die
zuvor noch verwirrenden Einzelwahrnehmungen und fügte sie zu einem
stimmigen Ganzen zusammen. Als er sich Schritt für Schritt weiter
vorwärtskämpfte, fort von dem Tor, und hörte, wie dieses
unmittelbar darauf geöffnet wurde und er in der erstickenden Hitze
mit einem Mal wieder frische Luft schmecken konnte, als er spürte,
wie Körper an ihm vorbeiglitten und weiter hinein in den Garten,
und als er dann einen flüchtigen Blick auf die schwarze Eichentür
erhaschte und immer noch mehr Krieger durch diese Tür herausströmen
sah, empfand er grenzenlose Erleichterung - und bittere
Frustration. Eine Gefühlsmischung, die keineswegs neu für ihn war
und weitaus weniger willkommen als die süße, uneingeschränkte
Klarheit der Schlacht.
Das Tempo der Kämpfe ließ spürbar nach, und Cunomar
erkannte, dass er nicht mehr länger gebraucht wurde. Frischere,
ausgeruhtere Arme als die seinen übernahmen nun den Kampf gegen die
letzten beiden Dutzend Römer, zwangen diese, gegen die Mauer
zurückzuweichen, und machten sich dann an die mühsame und
gefährliche Aufgabe des Tötens.
Cunomar lehnte gerade gegen den zweiten der beiden
Marmorspringbrunnen, als plötzlich eine ruhige Stimme, die er
kannte und zugleich auch verabscheute, in einer Lautstärke sagte,
dass auch andere sie hören konnten: »Das hast du gut gemacht, Sohn
der Bodicea. Es wäre uns allen verdammt schlecht ergangen, wenn sie
aus dem Garten ausgebrochen wären und uns hinterrücks im Tempel
überfallen hätten.«
»Valerius.« Langsam wandte Cunomar sich um. Er
zitterte am ganzen Körper von den ungeheuren Strapazen und den
Nachwehen des Gefechts. »Ist meine Mutter doch wieder auf das
Schlachtfeld zurückgekehrt?«
»Wenn sie das getan hätte, wäre ich dann hier?«
Auch Valerius war regelrecht grau im Gesicht vor Erschöpfung, seine
Bewegungen langsam, ganz so, als ob seine Glieder bleischwer wären.
Aus einer Schwertwunde an seinem Unterarm floss ungehindert das
Blut, und an dem Ellenbogen des anderen Arms hatte er einen
glänzenden Bluterguss von der Größe einer Faust, wobei das Fleisch
zu beiden Seiten des Ergusses bereits anzuschwellen begann.
»Das bedeutet also, dass wir uns einmal ernsthaft
miteinander unterhalten müssen«, erwiderte Cunomar. Sie hatten
immer gewusst, dass es eines Tages zu diesem Gespräch kommen würde
- oder vielleicht auch zu mehr als bloß einem Gespräch.
»Ganz offensichtlich.« Valerius lächelte schief.
»Ich würde aber vorschlagen, dass wir zu diesem Zweck besser
anderswohin gehen, wo es nicht so viele Zuhörer gibt. Was meinst
du, wollen wir mal nachschauen, was die Veteranen so alles auf der
anderen Seite ihrer schwarzen Eichentür versteckt haben?«