XXIII

Gewaltig und weiß thronte der Tempel des göttlichen Claudius, des einstigen Kaisers von Rom und all seiner Provinzen, inmitten des schier unübersehbaren Meeres von Schutt und Asche und verbranntem Flechtwerk, zu dem Camulodunum geworden war.
Das matte Licht des späten Nachmittags ließ die Schatten weniger hart erscheinen, wohingegen die restlichen Feuer umso heller leuchteten. Die Silhouette der Stadt mutete nurmehr wie ein Gerippe an, durchsetzt von zahllosen Lücken und gesprenkelt mit roten und orangefarbenen Feuerblüten, die stellenweise zusammenflossen, um wahre Wände aus Flammen zu bilden.
Kleinere Feuer dienten den Kriegern als Wärmequelle sowie dazu, Mahlzeiten zu kochen und Wasser zu erhitzen, das sie benötigten, um ihre Wunden auszuwaschen. Von einigen unversehrten Häusern östlich des Tempels hatte man Strohfackeln ergattert und diese dann entlang der Straßen aufgestellt, sodass Reihen winziger Lichtpunkte erkennen ließen, wo jene Häuser, die von den Flammen verschont geblieben waren, einen von den östlichen Rändern der Stadt ausgehenden Bogen beschrieben.
Der Tempel dominierte alles. Eleganz besaß das Gebäude nicht, nur eine überwältigende Größe und eine Menge Gold auf dem Dach. Bisher waren die goldenen Ziegel jedoch noch nicht geschmolzen, weil das Feuer die breite Lücke in Form des um den gesamten Tempel herumlaufenden gepflasterten Hofs nicht überwinden konnte.
Wenn ein zum Gott erhobener Kaiser die Liebe seiner früheren Untertanen anhand der Größe des Gebäudes maß, das diese ihm zu Ehren errichteten, dann wäre Claudius sicherlich hocherfreut gewesen über das monumentale Ausmaß des Tempels, der am Schauplatz seines einzigen Sieges erbaut worden war. Zehn hochgewachsene Krieger hätten jeweils einer auf den Schultern des anderen stehen können, und dennoch hätte der Kopf des zuoberst Stehenden noch immer nicht das Dach überragt. Fünfzehn ebenso große Männer hätten sich Kopf bei Fuß hintereinander auf den Boden legen können, und dennoch hätte die Linie, die sie mit ihren Körpern bildeten, sich noch nicht einmal annähernd über die gesamte Länge des Tempels erstreckt.
Die aus Flintstein bestehenden Mauern nahmen das Licht der schier zahllosen Flammenherde in sich auf und reflektierten den tiefroten Widerschein, untermischt mit Schatten, sodass es schien, als schwämmen sie regelrecht in dem Blut, das bei der Schlacht um Camulodunum geflossen war, ein Schrein für die ruhmreichen Gefallenen. Die Vorderfront des Tempels war mit einer Reihe kanellierter weißer Säulen, so dick wie uralte Eichen, geschmückt, die zugleich das Dach stützten. Hinter diesen Säulen ragten große Bronzetüren auf, jede so breit, wie ein Pferd lang ist. Im Moment waren diese Türen jedoch fest verbarrikadiert, um den feindlichen Kriegern und der sich herabsenkenden Nacht den Einlass in das Innere des Gebäudes zu verwehren. Die Ziegel des hoch über dem Eingang schwebenden Dachs bestanden entweder aus vergoldetem Blei oder, und das war wahrscheinlicher, sogar aus massivem Gold. Sie warfen ein sanftes, butterig anmutendes Licht auf den grau gepflasterten Hof.
Alles in allem hatte der Tempel einfach etwas Atemberaubendes in seinem Prunk und seiner schieren Größe, auch wenn er noch so hässlich sein mochte. Breaca stand in seinem Abglanz, mit Stone neben sich, und fragte: »Ist es in Rom ähnlich wie hier?«
Auf ihrer anderen Seite stand Theophilus. Sie hatte den Arzt im Kellergewölbe seines Krankenhauses gefunden, wo er in Sicherheit gewesen war, als der Rest der Stadt um ihn herum in hellen Flammen gestanden hatte. Zwar hatte er beim Verlassen des Gebäudes einige Verbrennungen im Gesicht, an den Füßen und an einem Arm erlitten, war aber nicht schlimmer verletzt als jeder andere auch.
»Ein bisschen«, erwiderte er. »Wenn sämtliche Dächer aus Gold bestehen, schenkt man dem ganzen Gepränge nicht mehr so viel Aufmerksamkeit und achtet dafür mehr auf das, was dahintersteckt. Übrigens, deine Krieger möchten, dass du an ihrer Feier teilnimmst.«
Breaca wollte mit ihm über den Brunnen sprechen oder über die Behandlung der Brandwunden an den Füßen ihrer Krieger oder über sonst irgendein Thema, das nichts mit Krieg zu tun hatte, doch Theophilus blickte demonstrativ über ihre Schulter hinweg, sodass ihr schließlich nichts anderes übrig blieb, als sich umzuwenden, wobei sie sich hastig den Anschein zu geben versuchte, als ob sie noch keineswegs erschöpft wäre.
Cyfga war da, sie stand nur einen Speerwurf weit von den hohen Bronzetüren entfernt, zusammen mit Braint und einer Handvoll anderer, an die Breaca sich noch von Mona her erinnerte, sowie mehreren Dutzend Kriegerinnen und Kriegern, die sie nicht kannte. Sie alle jubelten ihr zu, und Breaca hätte sich zu ihnen gesellt und ihre Begeisterung geteilt, doch in dem Moment fiel ihr Blick auf Valerius. Er saß etwas abseits von der Versammlung rittlings auf einer niedrigen Mauer und lehnte Rücken an Rücken mit Longinus, während er sich lebhaft mit einem mageren Jungen mit einer winkelförmigen Brandnarbe auf der Wange unterhielt. Seit sie ihren Bruder das letzte Mal gesehen hatte, hatte er sich zu säubern versucht, sodass die Kruste aus alter Asche und getrocknetem Blut von seinem Gesicht verschwunden war und seine Züge nun nur noch mit einer dünnen Schicht neuer Asche überpudert waren von den feinen Flocken, die unentwegt vom Himmel herabrieselten.
Er sah Breaca, und augenblicklich wurde seine Miene ruhig und regungslos, so wie es in letzter Zeit stets der Fall war, wenn er seine Schwester betrachtete. Er schien zufrieden mit dem, was er sah, und wollte offensichtlich gerade zum Sprechen ansetzen, doch dann schweifte sein Blick für eine Sekunde an Breaca vorbei, und plötzlich wurden seine Augen riesengroß, und sie las Erstaunen und Erleichterung und reine, unverfälschte Freude darin. Das Überraschendste an allen diesen Gefühlsregungen aber war, dass Valerius keinen Versuch unternahm, sie zu verbergen. Es war ganz so, als hätte er irgendwann im Laufe der vergangenen zwei Tage seine alte Haut abgestreift und käme nun als ein anderer wieder daraus zum Vorschein, frisch und wie neugeboren auf eine Art und Weise, die Breaca noch nicht so ganz begriff. Er klopfte dem Jungen freundlich auf die Schulter, sagte etwas zu Longinus, das diesen veranlasste, sich ebenfalls zu erheben und ihm zu folgen, und sprang über eine zweite niedrige Mauer, um sich zu Breaca und Theophilus zu gesellen.
»Theophilus!« Behutsam schloss Valerius den alten Mann in seine Arme, darauf bedacht, diesen nicht an jenen Stellen zu berühren, wo er verletzt war. Dann hielt er Theophilus auf Armeslänge von sich ab, um ihn eingehender mustern zu können. »Wo hat Breaca dich denn bloß gefunden? Ich dachte, nichts und niemand könnte dieses Feuer überstehen.«
»Er hatte im Brunnen Zuflucht gesucht, tief unter der Erde, genau wie ein Maulwurf«, antwortete Breaca bissig. »Und kam dann quicklebendig wieder daraus zum Vorschein, um uns zu beweisen, dass die Technik der Hellenen die beste auf der ganzen Welt ist. Was ist mit deinem Arm passiert?«
Ihr Bruder hatte eine Schnittwunde am Unterarm, die dringend versorgt werden musste. In früheren Zeiten hätte Valerius die Wunde verhüllt; jetzt war sie offen, und an den Rändern sickerte altes Blut heraus.
»Ein Mann, den ich bereits für tot hielt, erwies sich als noch überaus lebendig.« Valerius hatte sich auf den Boden gekniet, um Stone zu begrüßen. »Und ein anderer Totgeglaubter steht in diesem Moment direkt vor mir. Heute scheint ein Tag zu sein, an dem die Toten plötzlich wieder lebendig werden, nur dass ich in diesem Fall glücklich darüber bin.« Er lachte, fast schon ein wenig übermütig vor Erleichterung darüber, dass die Schlacht vorbei war. Zu Theophilus gewandt sagte er: »Bist du hier, um den Fall von Claudius’ Tempel mitzuerleben? Dann bist du allerdings entschieden zu früh gekommen. Selbst ohne Wasser werden sie noch mindestens einen Tag und eine Nacht lang durchhalten.«
»Sie haben Wasser«, entgegnete Theophilus. »Sie sind sogar reichlich damit eingedeckt. Schon bevor ihr beide kamt, um mich zu besuchen, hatten sie damit angefangen, ganze Fässer mit Wasser im hinteren Teil des cella, des Innenraums des Tempels, zu lagern. Und auch Getreide.«
»Ach, tatsächlich? Tja, da hat wohl offensichtlich jemand scharf nachgedacht. Dann hatte Cygfa also recht: Wir werden uns durch das Dach Zugang verschaffen müssen.« Valerius winkte den jungen Krieger mit dem vernarbten Gesicht zu sich. »Huw, sie haben genug Wasser und Nahrung für einen halben Monat. Kannst du bitte Madb suchen und ihr Bescheid sagen? Ich werde mich auf die Suche nach Ardacos machen und ihn hierherbringen, damit wir die Sache gemeinsam besprechen können. Longinus, wenn du Cygfa rufen könntest, dann können wir uns anschließend alle am Fuße von Claudius’ Altar treffen. Breaca, hast du dir inzwischen überlegt, was geschehen soll...«
Theophilus streckte eine Hand aus, um Valerius zu unterbrechen. »Ist es so eilig?«, wollte er wissen. »Oder könntest du mir deine Schwester wenigstens für einen Teil der Nacht überlassen, bevor ihr mit der Planung eures Überfalls beginnt?«
Es waren nicht so sehr die Worte, sondern vielmehr der Klang seiner Stimme, der die anderen innehalten ließ. Longinus hatte sich bereits einige Schritte von der Gruppe entfernt. Nun jedoch wandte er sich wieder um und blickte den alten Arzt mit jener ruhigen, prüfenden Aufmerksamkeit an, mit der er sich fast allen ihm zu Herzen gehenden Angelegenheiten widmete.
Valerius fing Breacas Blick auf und stellte ihr eine stumme Frage. Als sie auf die gleiche Art und Weise antwortete, erklärte er: »Die Krieger brauchen erst einmal Ruhe und eine ordentliche Mahlzeit. Wir werden nicht vor Tagesanbruch wieder anfangen, und es gibt nicht so sonderlich viel zu planen, dass wir das nicht auch ohne Breaca schaffen könnten, obwohl es gut wäre, wenn sie bis zum Morgengrauen wieder hier sein würde. Was willst du denn von ihr?«
»Ich möchte, dass sie mit mir kommt und einen Ort sieht, der bald nicht mehr existieren wird.«
»Wird das etwas an dem, was wir tun, ändern?«, wollte Breaca wissen.
»Ich weiß leider nicht genug über Belagerungskriege, um dir das sagen zu können«, erwiderte Theophilus vorsichtig.
»Aber ich glaube, es könnte den Menschen, der du bist, verändern.«
 
Er führte Breaca durch das östliche Tor der Stadt hinaus und von dort aus weiter über Pferdekoppeln und offenes Weideland. Der Boden unter ihren Füßen war saftig grün und leicht wellig, die Landschaft still und friedlich und gänzlich unberührt von den Gewaltakten, die sich während des Tages ereignet hatten. Eine konstant aus östlicher Richtung wehende Brise sorgte dafür, dass die Asche und der Lärm und die Gerüche des Krieges beständig in die andere Richtung getrieben wurden.
Theophilus und Breaca gingen langsam, zum einen, weil sie Brandwunden an den Füßen hatten, aber auch aus Rücksicht auf Stone, dessen Gelenke nach den ausgedehnten Kämpfen von einer schmerzhaften Steifigkeit geplagt wurden. Theophilus’ arg in Mitleidenschaft gezogene Gewänder streiften im Rhythmus seiner Schritte über das Gras. Das gedämpfte Rascheln verschmolz mit dem Flüstern des Windes in den Bäumen und verband sich mit den frischer werdenden Gerüchen der Abenddämmerung, die allmählich herabsank.
Hier draußen, fern von der Stadt und ihren zahllosen Kohlebecken und Fackeln, war die abendliche Landschaft in gedeckte, ineinander übergehende Schattierungen von Grau getaucht. Breaca folgte in Gedanken den Konturen der Hügel und Hänge, die sich in der Ferne abzeichneten. Dann fragte sie ihren Begleiter: »Gehen wir irgendwohin, wo ich früher schon mal gewesen bin?«
»Ich denke, der Ort dürfte dir bekannt vorkommen.« Auf der Kuppe einer kleinen Anhöhe legte Theophilus eine Pause ein. »Warst du nicht hier, als Cunobelin, der Sonnenhund, auf seine letzte Reise hinauf zu seinen Göttern gesandt wurde?«
»Der Mann hatte keine Götter«, erwiderte Breaca trocken. »Und wenn doch, fand er sie erst ganz am Ende seines Lebens. Aber ich war hier, das ist richtig. Könnten wir für einen Moment verweilen? Cunobelin ist jemand, dem ich nicht gerne unvorbereitet wieder begegnen möchte, selbst wenn von ihm nichts weiter übrig geblieben ist als eine Erinnerung.«
Der alte Mann wandte sich wieder um und kam zu ihr zurück. »Dein Bruder war recht großzügig mit dem zeitlichen Rahmen, den er dir für diesen Spaziergang geboten hat«, sagte er. »Wir haben noch Zeit bis zum Morgengrauen, falls du so lange brauchst.«
Schweigend standen sie einen Moment lang nebeneinander in der Dämmerung, dann ließen sie sich gemeinsam auf der Kuppe des Hügels nieder, ein Mann, eine Frau und ein verkrüppelter Kampfhund, und schauten hinab in Richtung Südosten zu jener Stelle, wo ein kleinerer, aber steiler aufragender Hügel in die Landschaft eingebettet lag.
Ganz in die Betrachtung des Grabhügels versunken, der in der Ferne aufragte, zog Breaca nur durch Tasten und ohne hinzuschauen die Kletten aus Stones Fell. Nachdenklich sagte sie: »Cunobelin war der größte Diplomat seiner Zeit. Caradoc sagte einmal von seinem Vater, dass dieser jeden Mann in dem Spiel übertreffen könnte, das sich der Kriegertanz nennt, und dass er im Grunde nie aufhörte, mit anderen sein Spiel zu treiben. Seine Manipulationen und Machenschaften zogen zwar seine gesamte Familie in Mitleidenschaft, schützten aber dafür sein Land. Fünf Jahrzehnte lang wägte er die Wünsche Roms gegen die Bedürfnisse seines Volkes ab und hielt auf diese Weise die Legionen von unseren Küsten fern.«
»Du mochtest ihn wohl nicht?«, fragte Theophilus, dem ihr Ton deutlich mehr verriet als die Worte.
»Er war der Vater von Caradoc, den ich sehr geliebt habe, und Caradoc wiederum ist der Vater aller meiner drei Kinder. Nein, du hast recht, ich mochte Cunobelin nicht. Mit der Zeit lernte ich, ihn und alles, was er zu tun versuchte, zu respektieren, mehr aber auch nicht.«
»Dann sollten wir vielleicht besser nicht zu seinem Grabhügel hinuntergehen«, meinte Theophilus. Er hatte sein Kinn auf die Faust gestützt und starrte grübelnd in die Ferne. »Nachdem du wieder gegangen warst, hatte ich reichlich Zeit zum Nachdenken, bevor schließlich dein Kriegsheer die Stadt überfiel. Und da schien es mir so, als hätte der Grabhügel etwas an sich, das, nun ja... anders ist, als könnte er dir auf die gleiche Weise dienen, wie der Tempel des Asklepios den Griechen dient.«
»Du meinst, ich könnte dort meine Heilung träumen?«
»Zumindest die Anfänge deiner Heilung. Möglicherweise. Ich kann natürlich nicht dafür garantieren.«
»Kein Heiler garantiert jemals für etwas. Und wenn er es täte, würde ihm keiner glauben.« Breaca rieb einen letzten Klumpen getrockneten Blutes aus Stones Nackenfell und erhob sich. »Wir sollten jetzt weitergehen.«
Während sie im Rhythmus von Theophilus’ raschelnden Gewändern dahinschritt, fiel es ihr schwer, nicht unwillkürlich wieder an die Feindschaft zwischen den Söhnen Cunobelins zurückzudenken, an die Stimmung und die dicht unter der Oberfläche schwelenden Konflikte während der Beisetzung des Sonnenhundes und an alles, was schließlich daraus erwachsen war. Denn trotz all der Prunkhaftigkeit und des beeindruckenden Aufgebots an treuen Anhängern und Gefolgsleuten war dort, bei dem Begräbnis, der erste Keim zur Vernichtung gelegt worden.
»Hätte dieser Mann keine Söhne gehabt, hätte ich keine Kinder, aber andererseits hätten wir dann jetzt auch keinen Krieg mit Rom«, erklärte sie. »Es war Amminios, Cunobelins zweitältester Sohn, der damals Kaiser Gaius um Hilfe ersuchte, um die Ländereien zurückzubekommen, die er für sein rechtmäßiges Eigentum hielt, und der damit die Legionen nach Britannien lockte.«
»Was wäre dir lieber - das Leben, so wie es jetzt ist, oder aber keine Kinder zu haben und dafür vielleicht auch keine Invasion?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mir das Leben ohne das eine oder das andere überhaupt nicht mehr vorstellen. Ist das der Grabhügel? Komisch, ich hatte ihn viel größer in Erinnerung.«
»Wir nähern uns dem Hügel von der Rückseite her«, erwiderte Theophilus. »Der Eingang liegt nach Osten zu, und von dort aus gesehen wirkt der Hügel tatsächlich größer. Früher war dort einmal eine Tür aus Holz, die mit Gras überwuchert war, aber die Veteranen haben sie irgendwann herausgerissen und zerhackt, um Feuerholz daraus zu machen. Mittlerweile treiben sich Kinder dort herum, die im Inneren des Hügels ihre Spiele spielen.«
Die Erinnerung und all die vielen Jahre, die seit der Beisetzung Cunobelins verstrichen waren, hatten den Grabhügel in Breacas Vorstellung zur Größe eines Rundhauses anwachsen lassen, ein imposantes, in das Licht der aufgehenden Sonne getauchtes Gebilde, das durch die Klumpen Rohgold, die in die Erde oberhalb des Eingangs eingebettet worden waren, nur noch umso beeindruckender und strahlender wirkte. Jetzt, in der Dämmerung eines von den Nachwirkungen der Schlacht überschatteten Abends, schrumpfte das Ganze wieder zu einem niedrigen, gedrungen wirkenden kleinen Hügel zusammen, dessen Silhouette an die eines schlafenden Bären erinnerte.
Verglichen mit der Größe und der prunkvollen Erhabenheit von Claudius’ Tempel war Cunobelins Grabhügel ein Nichts, kaum mehr als eine Knitterfalte in den flachen Koppeln und nur gerade eben hoch genug, dass ein Krieger das Innere betreten konnte und dass insgesamt vielleicht zwanzig Männer darin stehen konnten, wenn es ihnen nichts ausmachte, dicht an dicht zusammengepfercht zu sein. Der Hügel war oval, wobei die langen Seiten jeweils nach Osten und nach Westen zu lagen und somit der aufgehenden beziehungsweise untergehenden Sonne zugewandt. Breaca ging um die nach Norden zu liegende Rundung des Hügels herum und erblickte gleich darauf die klaffende Wunde der Tür und die muffige, undurchdringliche Finsternis jenseits des Eingangs.
Für gewöhnlich pflegte sie nicht laut zu beten, zumindest nicht im Beisein anderer, doch sie sprach einen an Nemain gerichteten Schwur, als die Dunkelheit nach ihr zu greifen schien. Am helllichten Tag mochten zwar Kinder hier im Inneren des Hügels spielen, aber es war nur schwer vorstellbar, dass irgendjemand, ganz gleich, ob nun Kind oder Erwachsener, beschließen würde, zur gleichen Tageszeit hierherzukommen wie sie, Breaca, nämlich in dem trüben Dämmerlicht gegen Ende des Tages, wo der von zersplittertem Holz und von sich leicht in der Brise bewegenden Lederfetzen umrahmte Eingang alles andere als einladend anmutete und in der pechschwarzen Finsternis der Grabkammer das unheimliche Rascheln kleiner nachtaktiver Tiere zu hören war.
Theophilus gesellte sich zu ihr, blieb allerdings ein paar Schritte von ihr entfernt stehen. »Während all der Jahre, als die Zwanzigste Legion ihre Garnison hier unterhielt, war das Grab stets unangetastet geblieben. Es war der Prokurator Catus, der schließlich den Befehl erteilte, die Grabkammer aufzubrechen.«
Breaca wandte sich um und spuckte in den Wind. »Ich hoffe doch sehr, dass der Sonnenhund dem Prokurator im Land hinter dem Leben begegnet ist und für die Entweihung und Schändung seiner letzten Ruhestätte Buße von ihm gefordert hat.«
»Warst du es, die den Prokurator umgebracht hat?« Sie hatte ganz vergessen, dass Theophilus nichts Genaueres über den Vorfall wissen konnte. »Nein. Ich war damals ja kaum noch am Leben, geschweige denn, dass ich in der Lage gewesen wäre, ein Schwert zu heben. Valerius hat den Prokurator getötet, gemeinsam mit seinem Krähenpferd. Die zwei sind wie ein Wesen, wenn sie in einer Schlacht kämpfen, eine untrennbare Einheit von Reiter und Pferd. Einen Kampf gegen beide zusammen könnte keiner lebend überstehen.«
»Ich hatte gehofft, dass er es gewesen ist.«
Theophilus kam ein paar Schritte näher und duckte sich unter dem niedrigen Türsturz hindurch, um direkt hinter dem Eingang in der Grabkammer stehen zu bleiben. In der Dunkelheit jenseits der Öffnung war sein weißes Gewand nur noch als ein schwach leuchtender Fleck zu erkennen. Als er von dort aus zu Breaca sprach, hallte seine Stimme wider. »Dieser Ort hier ist kein Tempel, aber er hat etwas an sich, eine ganz spezielle Atmosphäre, wie ich sie bisher nur ganz selten erlebt habe und dann auch nur an den heiligsten Stätten. Ich kann gerne bei dir bleiben, wenn du das möchtest, oder soll ich dich lieber allein lassen mit dem, was hier ist, was immer das auch sein mag?«
Mittlerweile war das trübe Licht der Abenddämmerung dem tiefen Dunkel der Nacht gewichen. Oben am Himmel traten jetzt klar die Sterne hervor, doch sie spendeten nicht genug Licht, als dass man einigermaßen deutlich etwas hätte erkennen können. Stone stand fest gegen das Bein seiner Herrin gepresst und weigerte sich, auch nur einen Schritt vorwärts zu machen. Der Eingang zur Grabkammer klaffte offen wie ein schwarzer Schlund, mit Überresten von zersplittertem Holz an den Rändern. Die Luft, die Breaca aus dem Inneren entgegenströmte, roch trocken nach alten Gebeinen und Leder.
»Könntest du bitte auf der anderen Seite auf mich warten?«, fragte sie ihren Begleiter. »Sodass ich allein sein kann, aber trotzdem nicht ganz verlassen bin?«
»Natürlich.« Knochige Finger schlossen sich um ihre Schulter und drückten sie flüchtig, wie um Breaca Kraft zu verleihen. »Ruf mich einfach, wenn du mich brauchst.«
Das gedämpfte Rascheln seiner Gewänder bewegte sich fort von ihr zum anderen Ende des Grabhügels, wo das Geräusch schließlich ganz erstarb.
 
Die Griechen schlafen im Tempel des Träumer-Gottes und träumen dort von ihrer Heilung.
Das waren die Worte Marocs gewesen, des früheren Vorsitzenden des Ältestenrats, damals, in jenen glücklichen Tagen auf Mona, als die einzige Sorge, die sie alle bewegt hatte, die Frage gewesen war, wer wohl der nächste Ranghöchste Krieger werden würde, nachdem Venutios seine Aufgabe schließlich nicht mehr hatte wahrnehmen können.
Nun war der für Cunobelin, den Hund der Sonne, errichtete Grabhügel jedoch weder ein Tempel für irgendeinen Gott, noch war es allem Anschein nach möglich, darin zu schlafen.
Zuerst genügte es, einfach nur in das Dunkel hineinzutreten, so wie Theophilus es getan hatte. Sämtliche Eindrücke und Erlebnisse des Tages wurden mit einem Mal abrupt in den Hintergrund gedrängt und verblassten zu einem Nichts. Breaca tastete mit einer Hand nach unten und fühlte, wie sich Stones Nackenfell sträubte, als er ihr dicht auf den Fersen folgte. Prompt spürte sie, wie auch ihr ein eisiger Schauder über den Rücken rieselte.
»Ich bin niemals ein Feind gewesen«, sprach sie laut. Die Dunkelheit wartete, wollte mehr von ihr. Eine ganze Weile lang konnte Breaca jedoch nicht mehr von sich geben. Schließlich, nachdem sie uralte, längst vertrocknete Erinnerungen durchforstet hatte, sagte sie: »Der Sonnenhund hat mir einstmals seinen Ring geschenkt und einen Schwur vor mir geleistet. Ich bin seine Tochter im Geiste, und er hat mir das Versprechen gegeben, dass ich auf seine Hilfe bauen kann, selbst bis ans Ende der Welt und jenseits der vier Himmelsrichtungen.«
Es war ein alter Schwur gewesen, selbst damals schon, als Cunobelin ihn geleistet hatte, und er hatte sich ziemlich archaisch angehört aus dem Munde eines Mannes, der sich so offenkundig dem Handel mit Rom und der römischen Lebensweise verschrieben hatte. Zu jener Zeit hatte Breaca den Mann für einen aalglatten Heuchler gehalten und seinen Eid für pure Überheblichkeit, und so hatte sie diesen bald vergessen.
Hier, im Inneren seiner letzten Ruhestätte, war sie sich nicht mehr so sicher, ob ihre Einschätzung von damals richtig gewesen war oder ob sie Cunobelin nicht womöglich doch Unrecht getan hatte. Sie verharrte im Eingang der Grabkammer und wartete. Ihre Worte wurden verschluckt und nicht als Echo zurückgeworfen, doch die Atmosphäre der Feindseligkeit, die sie zu Beginn ganz deutlich gespürt hatte, ließ fühlbar nach, sodass Breaca nun in der Lage war, weiterzugehen und sich einen Weg in die Tiefen des Hohlraums zu ertasten.
Früher einmal war das Innere des Hügelgrabs mit grünem, nach Harz duftendem Holz ausgekleidet gewesen und erfüllt von den Wohlgerüchen frisch gekochten Essens, das man dort hingestellt hatte, damit der Verstorbene in guter Verfassung war, wenn er die Reise zu seinen Göttern antrat. Nun war nur noch trockene Erde übrig, die unter Breacas Fingerspitzen zu Staub zerbröselte und ihr von oben in die Augen rieselte.
Sie zwang sich, sich einmal rundherum an den Wänden entlangzutasten, bevor sie sich schließlich auf den Boden legte. Die Männer des Prokurators hatten die Grabkammer vollständig ausgeräumt und nichts, aber auch gar nichts übrig gelassen. Es fand sich keine Spur mehr von dem goldenen Schild oder den glänzend polierten Schwertern, keine Spur mehr von dem vergoldeten Triumphwagen, den Cartimandua als Grabbeigabe gespendet hatte, wie immer zu protzig und großspurig. Und auch die Krüge mit Wein und Oliven waren verschwunden, sowie die Teller mit Brot und Fleisch und die Becher mit Ale, die drei Tage lang in der Kammer gestanden hatten und dann zerbrochen worden waren, damit sie in das Land hinter dem Leben gelangen konnten und nicht etwa einigen allzu gierigen Lebenden zum Opfer fielen. Es war auch nichts mehr übrig geblieben von der Bahre, auf welcher der Leichnam des Sonnenhundes gelegen hatte, oder von der Urne mit Asche, die in der Kammer platziert worden war, nachdem man seine sterblichen Überreste verbrannt hatte.
»Sie werden die Grabkammer ganz sicherlich bei Tageslicht geplündert haben. Kein Römer würde sich nach Einbruch der Dunkelheit noch hierhertrauen.«
Breaca sprach mit Stone, der sich neben sie gelegt hatte, sein Körper dicht an den ihren gepresst, sodass sie seinen warmen Atem spüren konnte und das feine Zittern, das ihn unaufhörlich durchlief.
Dann lag sie eine Weile still da und dachte an Schlaf und an Heilung. Als sich keines von beiden einstellen wollte, ließ sie ihre Gedanken zu dem Grabhügel schweifen, so, wie er ursprünglich gewesen war, und zu dem Mann, für den man ihn errichtet hatte. Stück für Stück und aus ihrer nicht mehr sonderlich deutlichen Erinnerung heraus erschuf sie in ihrer Vorstellung ein Bild von ihm und füllte dieses dann mit jenen Charakteristika, die durch die Generationen hindurch weitervererbt worden waren und die ihr daher näher und vor allem sehr viel teurer waren: mit Graines Augen, mit Haar, das von der Farbe her ein Mittelding zwischen Cunomars Schopf und dem Cygfas war, mit Caradocs Stirn und seiner Adlernase …
... Und schließlich dachte Breaca an Caradoc, was sie seit dem Winter und dem Tod von Prasutagos nicht mehr getan hatte, und dann ging sie in Gedanken noch weiter zurück in die Vergangenheit, bis sie ganz am Anfang angekommen war. Und von dort aus begann sie damit, ihr Leben wieder zu rekonstruieren, es Tag für Tag und Jahr für Jahr wieder an sich Revue passieren zu lassen und dabei all den erlittenen Schmerz und die seelischen Wunden bloßzulegen. Noch niemals zuvor hatte sie sich an eine derartige Innenschau gewagt.
Sie war gerade bei Graines Geburt angekommen und durchlebte im Geiste noch einmal den halben Tag voller reiner, unverfälschter Freude sowie das Chaos, das darauf gefolgt war, als sie plötzlich wieder das Rascheln von Gewändern und das leise Schlurfen von Füßen durch hohes Gras hörte.
»Breaca?« Theophilus’ Stimme war rau vor Müdigkeit. »Hättest du gerne Licht? Oder möchtest du etwas zu essen? Ich habe beides.«
Langsam setzte sie sich vom Boden auf. »Woher hast du denn gewusst, dass ich wach war?«
»Ich habe dich weinen gehört. Wenn du lieber weiterhin im Dunkeln sein möchtest und allein und ungestört, dann gehe ich wieder.«
»Nein. Ich brauche keine Dunkelheit, um mich an das Licht zu erinnern, und ich wäre sehr froh, wenn du mir Gesellschaft leisten würdest.«
Theophilus brachte eine flackernde, mit Kiefernharz getränkte Fackel mit sich und auch eine Art Ständer, der die Fackel aufrecht hielt, als er sie auf den Fußboden stellte. Das Licht ließ Schatten über die Wände tanzen und drängte die Vergangenheit und ihre Gespenster hinaus in die Nacht. Mit einem Mal war es keine unheimlich anmutende Grabkammer mehr, in der sie sich befanden, sondern nur noch das Innere eines simplen Erdhügels mit langsam abbröckelnden Wänden und den vertrockneten Skeletten von Mäusen auf dem Boden.
Theophilus ließ sich unweit von Breaca nieder, mit Stone zwischen ihnen. Aus einem Ranzen, den er über eine Schulter geschlungen trug, holte er einen in Nesselblätter eingewickelten Ziegenkäse, einen Wasserschlauch und eine Handvoll Haselnüsse hervor.
Beim Anblick des Käses fühlte Breaca sich prompt wieder in ihre Kindheit versetzt, denn solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte ihre Mutter stets ein in Nesselblätter gehülltes Stück Ziegenkäse für sie aufgehoben. »Deine Stadt ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt«, sagte sie. »Wo um alles in der Welt hast du denn diese Sachen aufgestöbert? Hat Airmid sie dir mitgegeben?«
»Du kannst mir ruhig auch ein gewisses Maß an Einfallsreichtum zutrauen.« Theophilus schaffte es, sowohl gekränkt als auch erfreut dreinzuschauen. »Das Hospital hat ein Kellergewölbe, das aus Stein besteht und daher nicht den Flammen zum Opfer gefallen ist. Es war also kein Akt, der von sonderlich großem Genie zeugte, die Nahrungsmittelvorräte in die dort unten befindlichen Erdschränke umzuräumen, als das Kriegsheer der Bodicea anrückte und dabei so eindeutig Feuer und Zerstörung im Sinn hatte. Ich habe auch einen Apfel mitgebracht, wenn du den gerne möchtest? Und eine Salbe für die Brandwunden an deinen Füßen.«
Mitten im Krieg, während andere verbrannte Kuchen aus Hafermehl essen mussten oder auf dünnen Streifen geräucherten Fleisches herumkauten, schwelgten Breaca und Theophilus in einem Festmahl aus Käse und Nüssen und strichen eine heilende Salbe aus zerdrückten Oliven und Beinwell auf ihre Füße.
»Ich komme mir vor wie ein Kind, das vor den brutalen Tatsachen der Schlacht behütet wird«, meinte Breaca.
»Aber nur für diese eine Nacht«, erwiderte Theophilus. Er knabberte an einer Haselnuss, so fein und vorsichtig wie eine Feldmaus. »Morgen früh wirst du wieder genauso kämpfen wie vorher. Oder vielleicht auch anders. Kannst du mir sagen, warum du geweint hast?«
Sie überlegte einen Moment lang, dann sagte sie: »Hier drinnen ist die Vergangenheit einfach zu real.«
»Vielleicht muss das ja so sein.« Theophilus wischte sich die Finger an seinem Gewand ab. »Ich möchte dich hiermit noch einmal fragen: Was bringt dich zum Weinen?«
Es war eine lange Geschichte, und von der Nacht war nicht mehr allzu viel übrig. Die Fackel flackerte in einem neuerlichen Luftzug, und so begann Breaca, obgleich es eigentlich nicht der Anfang ihrer Leidensgeschichte war, ihre Schilderung mit Feuer und Sonnenlicht und der von unvorstellbarem Prunk geprägten Beisetzung des Sonnenhundes.
Nun, da sie laut und mit einem lebenden Zuhörer sprach, war es leichter, den Zauber wieder lebendig werden zu lassen, den Luain mac Calma damals am ersten Tag der Begräbnisfeierlichkeiten mit seinen Goldklumpen heraufbeschworen hatte, die in die weiche Erde über dem Eingang eingelassen worden waren, um die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne einzufangen, und anschließend mit dem wahren Berg von Gold dahinter, der gleißend hell im Licht des Sonnenaufgangs geglänzt hatte, als die Türvorhänge zurückgeschlagen worden waren.
Es fiel ihr auch leichter, sich an den Mann selbst zu erinnern, sich noch einmal seine Züge im Leben und im Tode ins Gedächtnis zurückzurufen, in Gedanken die Linien des wächsernen Gesichts auf der Totenbahre nachzuzeichnen, als der Leichnam hoch in den Himmel emporgehoben wurde, und sich wieder an das Feuer und den Rauch danach zu erinnern, als sie ihn verbrannt hatten, Gerüche, die so ganz anders schienen als das Feuer und der Rauch von Camulodunum.
Breaca sprach auch von Caradoc, dem drittgeborenen Sohn Cunobelins, der nach ihrem Bruder der zweite tragische Verlust gewesen war, den sie erlitten hatte. Und diesmal kam sie schneller auf die Geburt Graines zurück und auf den Verlust von Caradoc und die einsamen Jahre im Anschluss daran, in denen sie im Alleingang Jagd auf den Feind gemacht hatte.
Von ihrer Reise zurück zu den Ländern der Eceni wusste Theophilus bereits, doch nun vertraute Breaca ihm auch jene Teile ihrer Geschichte an, von denen sie bisher noch keinem jemals erzählt hatte: von den von starken Spannungen geprägten Wintern mit Tagos, der unbedingt ein Kind mit ihr zeugen wollte und es doch nicht konnte, es aber trotzdem immer wieder versuchte; von dem Verlust Cunomars und seiner anschließenden Rückkehr; von Tagos’ Tod und dem überraschenden Schmerz, den sie dabei empfunden hatte; von der unerbittlichen Notwendigkeit, ein Kriegsheer aufzustellen und mit entsprechenden Waffen auszurüsten; von dem Prokurator, der alle ihre Anstrengungen, alles, was sie bis dahin bewerkstelligt hatte, um ein Haar wieder zunichte gemacht hätte; von dem Kummer und dem Schmerz um Graine und Cygfa und Cunomar und ihrer Freude über Valerius; bis sie dann schließlich abermals, so wie stets, erneut von Graine zu sprechen begann.
Der neue Morgen war bereits angebrochen, als die Harzfackel nach einem letzten kurzen Aufflackern schließlich verlöschte und Breaca endlich zur Ruhe kam. Erschöpft legte sie eine Hand über ihre Augen. Nach einer Weile, als ihr einfiel, dass sie ja nicht allein war, sagte sie: »Ich habe dich die ganze Nacht lang vom Schlafen abgehalten. Es tut mir leid.«
»Das braucht dir nicht leid zu tun.« Theophilus kam näher, um sich vor ihr auf dem Boden niederzulassen. In der Zwischenzeit war der späte Mond aufgegangen und spendete genug Licht, damit sie einigermaßen sehen konnten. Behutsam umfasste Theophilus Breacas Gesicht, neigte es ein wenig dem Mond entgegen und blickte durch ihre Augen hindurch auf das, was in ihrem Inneren lag. »Wie fühlst du dich?«
Sie fühlte sich noch genauso elend wie zuvor, nein, eigentlich sogar noch schlechter. Ihr Kopf war von einem dumpfen Schmerz erfüllt. Ihre Zunge war bleischwer vom vielen Sprechen. Die Zukunft erschien ihr noch immer ebenso grau, nichtssagend und trostlos wie zu jenem Zeitpunkt, als sie aus dem Fieber erwacht war.
Krampfhaft bemüht, Theophilus eine Antwort auf seine Frage zu geben, sagte sie: »Ich fürchte mich inzwischen nicht mehr so sehr vor diesem Ort und habe etwas mehr Verständnis für den Mann, der hier zur letzten Ruhe gebettet wurde. Genau wie Eburovic war schließlich auch Cunobelin der Großvater meiner Kinder. Und diese Dinge sind wichtig.«
Theophilus ergriff ihren Arm, drehte Breaca sanft in das blasse graue Licht des heraufdämmernden Tages und erforschte ihr Gesicht mit seinen Augen und ihren Rücken mit seinen behutsam tastenden Fingern. Anschließend schaute er ihre Zunge an, legte seine Fingerspitzen flach auf ihr Handgelenk und dann an ihren Hals, um das Lied ihres Pulsschlags zu hören. Am Ende der Untersuchung ließ er ihren Arm wieder sinken. Kummer und Enttäuschung ließen ihn mit einem Mal wie einen uralten Mann aussehen.
Breaca stand verlassen am Eingang der Grabkammer. »Du hast mir doch gesagt, es würde sechs Monate dauern«, sagte sie.
»Aber dieser Ort hier schien anders zu sein, als ob in seinem Inneren so viel von dem enthalten wäre, was in dir verloren war.« Theophilus trat einen Schritt zurück. »Es tut mir aufrichtig leid. Manchmal muss man alte Wunden wieder aufreißen, damit sie endlich sauber heilen können, aber ich hatte nun wirklich nicht die Absicht, solche Zerstörung in deinem Inneren anzurichten.«
»Wenn etwas in mir zerstört ist, trage ich selbst die Schuld daran.« Breaca streckte die Arme aus, um den alten Mann zu umarmen, und stellte fest, dass er ebenso steif vor Kälte war wie sie. »Du hast getan, was du konntest. Wenn mir keine Heilung vergönnt ist, ist das nicht deine Schuld.« Sie schenkte Theophilus ein Lächeln, weil er es brauchte, und fügte dann mit aufgesetzter Munterkeit hinzu: »Wir sollten jetzt gehen und uns an den Feuern von Camulodunum wieder ein bisschen aufwärmen. Schließlich müssen wir heute noch einen Tempel erstürmen.«
Die Kriegerin der Kelten
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