XXI
Dichte Rauchschwaden umschlossen die Kämpfer am
Strand von Mona.
Gelblich grau, dick wie Schafswolle und begleitet
von einem stechenden Geruch stiegen sie aus den Räuchertöpfen auf
und krochen über das Uferland. Dort, wo die Schwaden auf das Meer
trafen, schlichen sie sich seitlich in die kleinen Wellentäler
hinein, bis sie von den klatschenden Wassermassen zu kaum mehr als
faustgroßen Wölkchen zerschlagen wurden. An Land traf der Rauch auf
Felsen und Wind und schlängelte sich bis etwa auf Augenhöhe empor.
Dort blieb der Rauch wie ein hauchfeiner Stoffschleier einfach in
der Luft schweben, ein Schleier, der nicht nur Menschen, sondern
ganze Welten voneinander trennte. Allerdings zerriss dieser
Schleier nur allzu rasch, und wer so unvorsichtig war, ihn zu
zerstören, stürzte mitten in ein anderes Bewusstsein.
Von den eintausend Mann, die unter Corvus’ Führung
das Festland verlassen hatten, waren mehr als die Hälfte ertrunken.
Der Rest, der den Gezeitenwechsel in Manannans Meer überlebt hatte,
war, kaum auf der Insel angekommen, durch den Schleier aus Rauch
gestürzt. Zitternd saßen die Soldaten auf ihren Pferden und
starrten wie blind in die dichten, wirbelnden Rauchschwaden hinein,
die sich wie Augenbinden um ihre Köpfe zu schlingen schienen.
Corvus hatte ihnen weder befohlen, sich zu ergeben und
zurückzukehren, noch hatte er sie angewiesen, zum Angriff
überzugehen. Und selbst wenn er seinen Männern irgendeinen dieser
Befehle erteilt hätte, schien es nicht so, als ob die Legionare
noch ausreichend Herr ihrer selbst gewesen wären, um dieser
Anweisung zu folgen.
Dennoch hatten die fünfhundert verbliebenen Krieger
Monas sich noch nicht auf ihre Widersacher gestürzt, sodass auch
noch keiner der Römer gestorben war. In Graines Feuertraum hingegen
waren sie zu Dutzenden umgekommen. Bellos der Blinde, der als
Einziger von all jenen am Strand nicht unter dem Nebel zu leiden
hatte, spürte, wie eine Spaltung sich zu vollziehen schien zwischen
der Vision, die Graine gehabt hatte, und der Realität, und dies
beunruhigte ihn zutiefst. Wie gerne hätte er jetzt Luain mac Calma
gefragt, warum das Geschehen am Strand sich plötzlich so ganz
anders entwickelte, als von Graine vorhergesehen - doch es gab
Wichtigeres, Aufgaben, die Bellos zu erfüllen hatte. Und die erste
dieser Aufgaben war, dass er jetzt erst einmal die ihm zugedachte
Rolle spielen musste in jenem Traum von einer möglichen Zukunft
Monas, den Graine in den Feuern im Inneren des Großen
Versammlungshauses erkannt haben wollte.
Dreitausend Träumer standen Schulter an Schulter
entlang des Ufergeländes aufgereiht. Aufrecht schritt Bellos vor
ihnen entlang und war den Töpfen, die er und Graine zuvor gefüllt
und die andere dann am Strand verteilt hatten, damit näher als
irgendjemand sonst. Unvermindert stieg der Rauch aus den Kesseln
auf und wirkte dort, wo er über die Feuerstellen glitt, beinahe
undurchdringlich dick. Nach einer Weile, als Bellos endlich das
Muster erkannt hatte, nach dem die Töpfe aufgereiht worden waren,
hielt er jedes Mal, bevor er eines dieser irdenen Gefäße passierte,
den Atem an. Erreichte er jedoch die saubere Luft zwischen den
schwelenden Kesseln, so sog er diese bewusst tief in sich
ein.
Er folgte genau dem Pfad, den er auch am Morgen
schon gegangen war, bis er jene Stelle erreichte, wo Graine gelegen
hatte. In der Morgendämmerung war ihm an diesem Ort noch nichts
Besonderes aufgefallen, und auch jetzt schien hier alles wie immer.
Und dennoch war dieser Platz in Graines Flammentraum erschienen,
und es hatte eine Art Schlüssel an diesem Ort gelegen, ein Hinweis,
der nur hier zu entdecken war und der ihnen nun verriet, wie sie
Graines Vision eine reale Gestalt verleihen könnten. Tief atmete
Bellos den feiner werdenden Rauch ein, legte sich auf den Bauch und
versuchte, sich zu erden und zu wappnen gegen die Angstbilder jener
Männer, die noch immer auf der anderen Seite der Meerenge
verharrten. Leise schienen ihre Albträume Bellos
entgegenzuwispern.
Und gerade jetzt, da eine gute Erdung von immenser
Bedeutung war, fiel Bellos dies besonders schwer. Eine Vielzahl von
Gedanken versammelte sich in seinem Kopf, jetzt, da dort doch
eigentlich nichts als Leere herrschen sollte.
Thorn befand sich am anderen, südlichen Ende der
Reihe von Träumern und war damit zumindest im Augenblick für Bellos
nicht zu erreichen. Sie hatte ihn am Morgen zurückzuhalten
versucht, hatte mit ihm reden wollen und sich vielleicht sogar noch
mehr von ihm gewünscht. Bellos aber hatte darauf bestanden, Graine
folgen zu müssen. Und nach seiner Rückkehr zum Großen Rundhaus war
keine Zeit mehr gewesen, um noch mit Thorn zu sprechen. Nur ganz
flüchtig hatten sich ihre Hände berührt, und es war eine
bedeutungsschwangere Stille eingetreten, die er nur schwer hatte
deuten können.
Graine war ebenfalls hier, stand dicht hinter der
Reihe von Träumern, begleitet, wie immer, von ihrer Triade von
Krieger-Träumern, die sie beschützen wollten oder dies zumindest
versuchten. Hawk, Dubornos und Gunovar. Im Laufe der zwei Tage, die
seit ihrer Ankunft auf der Insel vergangen waren, hatte Bellos
einen jeden von ihnen kennen und schätzen gelernt. Er hatte ihre
Angst um das Kind erfahren und gespürt, wie selbstvergessen sie
dafür den Gefahren für ihren eigenen Leib und ihr eigenes Leben
begegneten. Bellos hatte ihnen ein wenig von ihrer Sorge nehmen
wollen und doch nicht gewusst, wie er dies anstellen sollte.
Nun bemühte er sich, die Erinnerungen an diese
Menschen energisch aus seinem Gedächtnis zu vertreiben, die
Erinnerungen an seine Geliebte, an die Krieger, an das Kind, das
sie zu schützen versuchten. Stattdessen suchte er in seiner Seele
den Herzschlag Monas und all dessen, was er an dieser Insel so
liebte. Er suchte und fand die Träume längst verstorbener
Mitglieder des Ältestenrats dieser Insel. Stark und zäh wie
Pfahlwurzeln reichten diese Träume durch die Generationen hindurch,
beginnend bei den ältesten Ahnen, die einst das Große
Versammlungshaus erbaut hatten, bis hin zu jener letzten, jüngsten
und am leichtesten zu verletzenden Generation, also jenen Menschen,
die nun womöglich die Zerstörung ihres Großen Rundhauses miterleben
müssten oder aber kurz davor selbst ums Leben kommen würden.
Doch unter den Hinterlassenschaften der Alten und
sehr Alten, der Männer und Frauen vergangener Zeiten, der Großväter
und Großmütter, fand Bellos schließlich eine Spur. Eine Spur, die
nur von Luain mac Calma stammen konnte, denn diese Spur war heller
und jünger als der gesamte Rest von Traumwurzeln, die sich durch
die Zeiten gruben. Mac Calmas Spur verlief in sich windenden
Bahnen, sprang von der einen Wurzel über zur nächsten und flocht
dann aus ihnen ein Netzwerk, das schließlich das Herzstück der
Insel bildete. Und unter diesem Herzstück, tief in der Erde
verborgen, vibrierte jene mystische Kraft, in der das Wesen der
Götter lebte und die sie alle mit Leben erfüllte.
Als er dies erkannt hatte, versuchte Bellos, seine
Aufmerksamkeit langsam wieder auf den Strand zu richten, auf den
Tang und die gellenden Schreie der Möwen, bis er den dichten,
berauschenden Rauch wahrnahm, der scheinbar unaufhörlich aus den
von Graine erträumten Kesseln drang. Schließlich spürte er auch
wieder die Anwesenheit der Träumer, die Ruhe, die diese
ausstrahlten, sowie den fernen, misstönenden Mahlstrom, als der die
an Land drängenden Legionare ihm erschienen. Tief nahm er all dies
in sich auf, öffnete abermals seine Seele, so, wie er es einst
allein neben der kleinen Feuerstelle im Großen Versammlungshaus
getan hatte, und versuchte, die Ängste jener Männer zu ertasten,
die nun gekommen waren, um ihn zu töten.
Feuer. Flammen. Hitze. Tod.
In jener Welt, die die Furcht der Legionare
erschaffen hatte, traf Bellos auf eine Mauer aus alles
verschlingenden, unersättlichen Flammen, welche die Männer, die ihr
begegneten, einfach aus purer Lust vernichtete. Schon schien die
Hitze auch Bellos in ihren Schlund hineinzureißen, schwarz verkohlt
blätterte ihm die Haut von seinem Leib, die Glut kochte sein Blut
und reichte bis hinab in seine Lunge, um seinem Körper die Seele zu
stehlen. Hätte Bellos rennen können, wäre er sofort davongestürmt,
doch seine Glieder wollten den Befehlen seines Geistes einfach
nicht mehr gehorchen. Mit dem Gesicht nach unten lag er in dem
feuchten Strandkies, und der Schweiß strömte ihm über die Brauen,
so wie es ihm auch einst in der heißen Schmiedehütte von Valerius
ergangen war. Sein Gesicht brannte geradezu. Er versuchte zu atmen,
doch jeder Atemzug tat weh. Er keuchte und spürte, wie ein
schwarzes Nichts sich um sein Denken zu schließen begann, eine
Dunkelheit, die so ganz anders war als die Finsternis des ihm
bereits vertrauten Blindseins.
Von irgendwoher ertönte, zart und eisig wie der
Kuss des Winters, mac Calmas Stimme. Vergiss nie, dass sowohl
diese Welt als auch die anderen Welten bloß eine Illusion sind.
Das hatte Bellos schon wieder ganz vergessen. Gierig atmete er die
Worte geradezu in sich ein, angenehme Kühle breitete sich in seinem
Brustkorb aus, und dann erinnerte er sich wieder. Langsam legte
sich ein angenehmes Gefühl der Ruhe über ihn, und die Flammen
wichen auseinander. Bellos konnte die Männer hinter der Wand aus
Feuer erkennen und das Webwerk ihrer Ängste.
»Warum Feuer?« Bellos spürte, wie mac Calma eine
trockene Hand auf seine Stirn legte und sich neben ihn
kniete.
Bellos bemühte sich, eine Antwort zu finden. Doch
seine Gedanken ließen sich einfach nicht fassen, viel zu schnell
und schlüpfrig wie Aale entzogen sie sich immer wieder seinem
Griff. Im Geiste trat Bellos von den Beobachtungen, die er in
seiner flüchtigen Vision gemacht hatte, wieder ein kleines Stück
zurück und betrachtete das Muster, das diese ergaben.
»Die Legionen hatten den Rauch schon gesehen, noch
ehe sie sich daran machten, die Meerenge zu überqueren«, entgegnete
er schließlich. »Sie glauben, dass wir hier auf Mona unsere Feinde
bei lebendigem Leibe rösten. Und diese Vorstellung ängstigt sie
mehr als alles andere.«
»Aber wiederum nicht so sehr, um den Rückzug
anzutreten und wieder aufs Festland zurückzukehren?«
»Nein. Im Gegenteil, diese Angst verleiht ihnen
sogar neuen Zorn, und sie wollen jeden töten, der sie ansonsten
womöglich verbrennen könnte.«
»Kannst du noch mehr erkennen? Was liegt unter dem
Feuer? Womit könnte man ihren Zorn untergraben und ihren
Kampfwillen schwächen? Vielleicht kann man sie ja auch mit
irgendetwas verwirren, sodass die Legionare sich am besten einfach
gegenseitig umbringen.«
»Ich kann es versuchen.«
Fast fühlte sich Bellos, als ob er wieder der
einfache Schüler eines angesehenen Träumers wäre. Doch nun war
nicht die Zeit zum Lernen, der Wind brauste ihm ins Gesicht, der
Rauch schien ihm sanft die Gewalt über seine Gedanken zu entführen,
und Thorn stand einer wahren Flut von Männern gegenüber, die töten
würden, ohne dabei auch nur die geringsten Schuldgefühle zu
empfinden. Mona stand unmittelbar vor der kompletten Vernichtung.
Das war die bittere Realität.
Leise sprach der Vorsitzende des Ältestenrats von
Mona: »Ja, versuch es. Für diese Aufgabe bist du geboren worden.
Und du kannst es schaffen, du allein kannst uns geben, was wir nun
so dringend brauchen, Bellos von Briga.«
Natürlich hatte mac Calma seinen Schützling mit
dieser spontanen Namensgebung keineswegs ängstigen wollen, und
dennoch war genau das der Effekt. Noch niemals zuvor hatte Bellos
gehört, wie sein Name in einem Atemzug mit dem eines Gottes genannt
worden war. Und er war sich auch nicht bewusst gewesen, wie sehr er
ausgerechnet nach dieser Göttin benannt werden wollte: nach der
Allmutter, nach der, die das Leben schenkte und die den Tod
regierte, nach der Wächterin über den letzten Fluss und der Herrin
über all das, was in dem Land hinter dem Leben lag.
Bellos wurde gerade ein Geschenk angeboten, das
wertvoller war als alles andere, was er jemals in seinem Leben
geschenkt bekommen hatte. Und er war sich nicht sicher, ob er
verdiente, was man ihm nun geben wollte. Die Hoffnungen und Ängste
einer ganzen Generation, nein, aller Generationen, lasteten schwer
auf ihm und beeinträchtigten seine Gabe, in die Welt jenseits
seiner eigenen Blindheit zu blicken. All dies wurde ihm in diesem
Augenblick schmerzlich bewusst. Einen Moment lang schlug die Angst
vor dem Versagen wie eine riesige Flutwelle über ihm zusammen, und
er hatte das Gefühl, als sei er wieder ein kleines Kind, das
verloren und ohne Hoffnung oder Zukunft in den Bordellen eines
gallischen Seehafens vor sich hin vegetierte. Er dachte an
Valerius, und abermals spürte er diese Verwirrtheit in seinem
Inneren, die ihn immer dann befiel, wenn er an jenen Mann dachte,
der ihn einst aus diesem elenden Leben herausgekauft hatte, und
wieder fragte Bellos sich, warum Valerius dies wohl getan hatte.
Und wie stets, so folgte auf diese Frage auch diesmal wieder die
Erinnerung daran, wie es war, sehen zu können, und daran, dass es
keine andere gewesen war als Briga höchstpersönlich, die
beschlossen hatte, ihm sein Augenlicht zu nehmen, um ihm dafür ein
anderes Sehen zu schenken. Aber dieses andere Sehen reichte nicht
aus, um Bellos über seinen Kummer über den Verlust seines
Augenlichts hinwegzutrösten.
Zorn, über vier ganze Jahre hinweg in seinem
Inneren aufgestaut, schlug über dem Belger zusammen.
»Bellos«, ertönte abermals Luain mac Calmas
Stimme.
»Denk nach.«
Das reichte. Verwirrung und Zorn, Angst und Zweifel
bildeten einen Teil von Bellos’ Wesen, und das würde auch in
Zukunft so bleiben. Doch endlich hatte er gelernt, wie er diese
Emotionen beiseiteschieben konnte. Und genau das tat er.
Tief atmete er die letzten feinen Schwaden von
Graines Räucherwerk ein, fühlte sie durch seinen Gaumen dringen und
ließ die Rauchschwaden seinen Geist entfesseln. Und plötzlich
konnte er wieder klar sehen. Er sah das Flechtwerk, zu dem die
Träume und die Wurzeln der Ahnen sich zusammengefügt hatten, und er
sah jenen hellen Punkt, der Luain mac Calma war und der all diese
Gedankenstränge in seiner Mitte vereinte. Und Bellos sah die
Göttin, jene Macht, die er schon seit Ewigkeiten in seiner Seele
spürte und der er doch nie einen Namen gegeben hatte. Endlich
begriff Bellos, dass er ein Teil dieses Flechtwerkes war, und sanft
ließ er seinen Geist emporsteigen, um frei über dem Flechtwerk zu
schweben.
Die Flammen wichen auseinander, ließen Bellos
hindurch.
Das Wesen der Angst trat auf ihn zu und teilte
sich in zwei Hälften, erzählte Bellos zum einen von den Männern aus
dem Meer, die sich vor der kommenden Schlacht fürchteten, und zum
anderen von den Männern jenseits der Meerenge, die wiederum Angst
hatten, an genau dieser Schlacht auf der Insel nicht teilhaben zu
können. Laut sprach Bellos: »Paulinus hat nicht alle seine Männer
gegen Mona geschickt. Nur die Zwanzigste Legion wurde ausgesandt.
Die Vierzehnte hält er noch in Reserve. Und das ist nicht das, was
Graine in ihrem Feuertraum gesehen hatte.«
»Aber das reicht uns bereits. Der Rest kommt
vielleicht noch nach. Für heute müssen wir es erst einmal nur mit
den Männern aufnehmen, die uns unmittelbar gegenüberstehen.«
Und das waren mehr als genug. Denn hinter den
Kavalleristen ruderten noch fünftausend weitere Legionare in ihren
Leichtern gegen die Strömung und mit Kurs auf Mona. Bellos
versuchte, sich zu erden, warf das Netz seiner Gedanken weit aus,
um alle fünftausend Soldaten und fünfhundert Kavalleristen auf
einmal erfassen zu können. Und dann begann er damit, ihre
zappelnden und sich in seinem Griff windenden Seelen aus diesem
Netz herauszupicken. Wie Fische sammelte er sie zusammen, um sie
dann jenen zu übergeben, die damit am besten etwas anzufangen
wussten.
In der Welt aus Fleisch und Erde presste er seine
Handflächen fest gegen den Fels und stand auf. Unter seinen Füßen
verwandelte sich Stein zu Kies und wurde Kies schließlich zu Sand,
und vor ihm stand eine Reihe von dreitausend Träumern, der
gegenüber sich wiederum langsam zwölftausend Legionare postierten.
Bellos spürte jeden einzelnen der feinen Blitze, als welche die
Seelen dieser Menschen ihm vor Augen zu treten pflegten. Und er
konnte jedem einzelnen dieser Blitze einen Namen zuordnen, konnte
genau sagen, welche Farbfacetten ein jeder aus seinem gleißend
weißen Licht in die Welt entließ und welche er zurückbehielt. Und
er konnte die Folgen benennen, die eintreten würden, wenn auch nur
einer dieser Blitze erstürbe.
Die Zeit eröffnete ihm ihr Geflecht, und Bellos
konnte sehen, welche der Menschen bereits dazu bestimmt waren,
heute zu sterben, und welche wiederum erst später in das Land
hinter dem Leben eintreten würden. Er wusste genau, wann ein jeder
von ihnen gehen müsste. Und er sah auch Thorn, sah sie den Fluss
überqueren und in Brigas Obhut entschwinden, und er wusste, wann
und wo und unter welchen Umständen sie von ihm gehen würde. Vor
allem aber war er erstaunt, mit welcher emotionalen Distanz er dies
alles betrachtete.
Bellos schritt über den Strand von Mona,
marschierte an der Reihe von Träumern entlang, ging von einem
strahlenden Licht weiter zum nächsten und erklärte den Männern und
Frauen, was er in seiner Vision gesehen hatte: »Ihr seid die Seelen
aller niedergemetzelten Großmütter, ihr seid gekommen, um euch an
euren Mördern zu rächen. Ihr seid die Kinder, die wandelnden Toten.
Ihr seid die geblendeten Frauen, gewandet in tiefstes Schwarz und
geisteskrank vor Kummer und Zorn. Ihr könnt nicht noch einmal
getötet werden.«
Nichts von alledem war neu. Bellos hatte auch bei
früheren Gelegenheiten bereits von den Ängsten der Legionare
erzählt, hatte von ihren Schwachpunkten berichtet, während er im
Frühling im Großen Rundhaus von Mona ausgeharrt hatte und an genau
jenem Albtraum schmiedete, mit dem die Träumer den Legionaren
schließlich den Schlaf vergifteten. Jetzt aber verfuhr Bellos im
Grunde genau umgekehrt, nun passte er die Träumer in den Traum ein,
wobei er einem jeden von ihnen eine Handvoll feinster Fäden
überreichte, Fäden, die Bellos zuvor in die Seelen der Legionare
gepflanzt hatte und über die die Träumer ihre Opfer nun langsam
einholen und an sich reißen würden, ganz so, wie auch Fischer ihre
Beute an einer Schnur zu sich heranzogen. Doch nicht alle Träumer
zerrten in der Gestalt der Verstorbenen die Seelen der Legionare in
deren ganz persönliche Hölle. Einige wenige nämlich hatten
stattdessen von Bellos eine etwas weniger tückische und deutlich
leichter auszuführende Aufgabe zugeteilt bekommen: »Ahmt den Schrei
der Krähe nach und den des Adlers, und wenn ihr könnt, vermischt
diese beiden Schreie miteinander, sodass es so klingt, als wärt ihr
eine überwältigende Schar, die in Schwärmen über die Legionare
herfällt. Werft außerdem Sand in die Luft, lasst ihn die Gestalt
von Schlangen annehmen. Lasst das Gras sich unter den Füßen der
Römer winden. Ihr seid Schlangen, die zu Hunderten auf die
Legionare zugleiten.«
Dann, irgendwann, war Bellos am Ende der Reihe
angelangt. Er stand vor Thorn. Noch lebte sie, streckte ihm die
Arme entgegen, strich ihm zart mit dem Finger über die Lippen und
legte seine Hand an ihre Wange. »Und du bist die Möwe, bist viele
Möwen«, erklärte er ihr, »und frisst den Männern die Augen aus
ihren Höhlen.« Thorn umschloss seine Hand. Noch einmal erahnte er
ihre Ruhe, ganz so, als ob sie eine Eiche wäre, deren Wurzeln tief
in die Erde reichten und die kein Sturm fällen konnte, erahnte die
Furchtlosigkeit, mit der sie dem Tod entgegenblickte, und hörte,
wie sie leise seufzte, während sie versuchte, sich zu
konzentrieren. Und dann spürte er es klar und deutlich: den Sog der
See, den klaren, fast schon schmerzhaft hellen Himmel, Scharen über
Scharen von weißen Seevögeln, die sich erst den Wolken
entgegenhoben wie das Auge des Sturms und dann mit brausendem
Flügelschlag auf die Männer herabstießen.
Bellos beugte sich ein wenig vor und küsste Thorn
auf die Stirn. »Danke. Ich liebe dich. Vergiss das nie.«
Lächelnd presste sie die Lippen auf seinen Hals.
Dann verließ er sie, und in seinem Herzen tat sich ein bodenloser
Abgrund auf und zerriss ihm schier die Brust.
Wohingegen die feinen Lücken, die zuvor in seinem
Traumnetz geklafft hatten, mittlerweile alle geschlossen waren. Es
gab nichts mehr, was er den Träumern noch hätte mitteilen müssen.
Langsam wandte er sich um und stemmte die Füße in den Kies. Der
Wind änderte die Richtung, peitschte Bellos geradezu ins Gesicht
und ließ salzige Gischt auf seine Haut regnen. Er hörte, wie
Ruderblätter sich aus dem Wasser hoben und dann wieder eintauchten,
hörte den keuchenden Atem von schier unzähligen Männern.
Nahe. So nahe.
In Gedanken streckte Bellos die Hand nach Graine
aus und fand sie, schwelgte für einen winzigen Moment in der
kummervollen Freude, die seine junge Vertraute jedes Mal dann
durchfuhr, wenn Bellos auf diese Art nach ihrer Seele und ihren
Gedanken tastete. Doch unter dieser Freude war ein tückischer
Strudel aus Zweifeln, ein Strudel, den auch er kannte und der in
ihr nicht weniger reißend wirbelte als in ihm. Denn nur sie beide
hatten das Gewebe des Feuers gesehen. Nur sie allein wussten,
inwieweit die Vorbereitungen am Strand von Mona von dem abwichen,
was Graine in ihrer Vision gesehen hatte. Und selbst wenn sie es
geschafft hätten, ihre Vision ohne Abstriche in die Wirklichkeit zu
übertragen, hätten sie doch noch immer nicht gewusst, ob all dies
tatsächlich die gleichen Folgen zeitigen würde wie im Traum.
Bellos öffnete seinen Geist den Göttern, ließ das
Licht seiner Seele, seine ganze Aufmerksamkeit über die um ihn
versammelten Träumer gleiten und über das Netz, das diese gewoben
hatten und das nun lauernd über den Legionaren schwebte, die sich
langsam an den Strand schleppten.
Irgendeiner der Männer rief in lateinischer Sprache
einen Befehl. Die Stimme klang wie die von Valerius und war doch
gleichzeitig so ganz anders. Ein Flachbodenschiff landete am
Kiesstrand an.
Wie einen Blitz spürte Bellos die Todesangst in
sich einschlagen. Aus dem Zentrum dieser Angst heraus sprach er ein
rasches Stoßgebet und brüllte dann aus voller Kraft:
»Jetzt!«