XXI

Dichte Rauchschwaden umschlossen die Kämpfer am Strand von Mona.
Gelblich grau, dick wie Schafswolle und begleitet von einem stechenden Geruch stiegen sie aus den Räuchertöpfen auf und krochen über das Uferland. Dort, wo die Schwaden auf das Meer trafen, schlichen sie sich seitlich in die kleinen Wellentäler hinein, bis sie von den klatschenden Wassermassen zu kaum mehr als faustgroßen Wölkchen zerschlagen wurden. An Land traf der Rauch auf Felsen und Wind und schlängelte sich bis etwa auf Augenhöhe empor. Dort blieb der Rauch wie ein hauchfeiner Stoffschleier einfach in der Luft schweben, ein Schleier, der nicht nur Menschen, sondern ganze Welten voneinander trennte. Allerdings zerriss dieser Schleier nur allzu rasch, und wer so unvorsichtig war, ihn zu zerstören, stürzte mitten in ein anderes Bewusstsein.
Von den eintausend Mann, die unter Corvus’ Führung das Festland verlassen hatten, waren mehr als die Hälfte ertrunken. Der Rest, der den Gezeitenwechsel in Manannans Meer überlebt hatte, war, kaum auf der Insel angekommen, durch den Schleier aus Rauch gestürzt. Zitternd saßen die Soldaten auf ihren Pferden und starrten wie blind in die dichten, wirbelnden Rauchschwaden hinein, die sich wie Augenbinden um ihre Köpfe zu schlingen schienen. Corvus hatte ihnen weder befohlen, sich zu ergeben und zurückzukehren, noch hatte er sie angewiesen, zum Angriff überzugehen. Und selbst wenn er seinen Männern irgendeinen dieser Befehle erteilt hätte, schien es nicht so, als ob die Legionare noch ausreichend Herr ihrer selbst gewesen wären, um dieser Anweisung zu folgen.
Dennoch hatten die fünfhundert verbliebenen Krieger Monas sich noch nicht auf ihre Widersacher gestürzt, sodass auch noch keiner der Römer gestorben war. In Graines Feuertraum hingegen waren sie zu Dutzenden umgekommen. Bellos der Blinde, der als Einziger von all jenen am Strand nicht unter dem Nebel zu leiden hatte, spürte, wie eine Spaltung sich zu vollziehen schien zwischen der Vision, die Graine gehabt hatte, und der Realität, und dies beunruhigte ihn zutiefst. Wie gerne hätte er jetzt Luain mac Calma gefragt, warum das Geschehen am Strand sich plötzlich so ganz anders entwickelte, als von Graine vorhergesehen - doch es gab Wichtigeres, Aufgaben, die Bellos zu erfüllen hatte. Und die erste dieser Aufgaben war, dass er jetzt erst einmal die ihm zugedachte Rolle spielen musste in jenem Traum von einer möglichen Zukunft Monas, den Graine in den Feuern im Inneren des Großen Versammlungshauses erkannt haben wollte.
Dreitausend Träumer standen Schulter an Schulter entlang des Ufergeländes aufgereiht. Aufrecht schritt Bellos vor ihnen entlang und war den Töpfen, die er und Graine zuvor gefüllt und die andere dann am Strand verteilt hatten, damit näher als irgendjemand sonst. Unvermindert stieg der Rauch aus den Kesseln auf und wirkte dort, wo er über die Feuerstellen glitt, beinahe undurchdringlich dick. Nach einer Weile, als Bellos endlich das Muster erkannt hatte, nach dem die Töpfe aufgereiht worden waren, hielt er jedes Mal, bevor er eines dieser irdenen Gefäße passierte, den Atem an. Erreichte er jedoch die saubere Luft zwischen den schwelenden Kesseln, so sog er diese bewusst tief in sich ein.
Er folgte genau dem Pfad, den er auch am Morgen schon gegangen war, bis er jene Stelle erreichte, wo Graine gelegen hatte. In der Morgendämmerung war ihm an diesem Ort noch nichts Besonderes aufgefallen, und auch jetzt schien hier alles wie immer. Und dennoch war dieser Platz in Graines Flammentraum erschienen, und es hatte eine Art Schlüssel an diesem Ort gelegen, ein Hinweis, der nur hier zu entdecken war und der ihnen nun verriet, wie sie Graines Vision eine reale Gestalt verleihen könnten. Tief atmete Bellos den feiner werdenden Rauch ein, legte sich auf den Bauch und versuchte, sich zu erden und zu wappnen gegen die Angstbilder jener Männer, die noch immer auf der anderen Seite der Meerenge verharrten. Leise schienen ihre Albträume Bellos entgegenzuwispern.
Und gerade jetzt, da eine gute Erdung von immenser Bedeutung war, fiel Bellos dies besonders schwer. Eine Vielzahl von Gedanken versammelte sich in seinem Kopf, jetzt, da dort doch eigentlich nichts als Leere herrschen sollte.
Thorn befand sich am anderen, südlichen Ende der Reihe von Träumern und war damit zumindest im Augenblick für Bellos nicht zu erreichen. Sie hatte ihn am Morgen zurückzuhalten versucht, hatte mit ihm reden wollen und sich vielleicht sogar noch mehr von ihm gewünscht. Bellos aber hatte darauf bestanden, Graine folgen zu müssen. Und nach seiner Rückkehr zum Großen Rundhaus war keine Zeit mehr gewesen, um noch mit Thorn zu sprechen. Nur ganz flüchtig hatten sich ihre Hände berührt, und es war eine bedeutungsschwangere Stille eingetreten, die er nur schwer hatte deuten können.
Graine war ebenfalls hier, stand dicht hinter der Reihe von Träumern, begleitet, wie immer, von ihrer Triade von Krieger-Träumern, die sie beschützen wollten oder dies zumindest versuchten. Hawk, Dubornos und Gunovar. Im Laufe der zwei Tage, die seit ihrer Ankunft auf der Insel vergangen waren, hatte Bellos einen jeden von ihnen kennen und schätzen gelernt. Er hatte ihre Angst um das Kind erfahren und gespürt, wie selbstvergessen sie dafür den Gefahren für ihren eigenen Leib und ihr eigenes Leben begegneten. Bellos hatte ihnen ein wenig von ihrer Sorge nehmen wollen und doch nicht gewusst, wie er dies anstellen sollte.
Nun bemühte er sich, die Erinnerungen an diese Menschen energisch aus seinem Gedächtnis zu vertreiben, die Erinnerungen an seine Geliebte, an die Krieger, an das Kind, das sie zu schützen versuchten. Stattdessen suchte er in seiner Seele den Herzschlag Monas und all dessen, was er an dieser Insel so liebte. Er suchte und fand die Träume längst verstorbener Mitglieder des Ältestenrats dieser Insel. Stark und zäh wie Pfahlwurzeln reichten diese Träume durch die Generationen hindurch, beginnend bei den ältesten Ahnen, die einst das Große Versammlungshaus erbaut hatten, bis hin zu jener letzten, jüngsten und am leichtesten zu verletzenden Generation, also jenen Menschen, die nun womöglich die Zerstörung ihres Großen Rundhauses miterleben müssten oder aber kurz davor selbst ums Leben kommen würden.
Doch unter den Hinterlassenschaften der Alten und sehr Alten, der Männer und Frauen vergangener Zeiten, der Großväter und Großmütter, fand Bellos schließlich eine Spur. Eine Spur, die nur von Luain mac Calma stammen konnte, denn diese Spur war heller und jünger als der gesamte Rest von Traumwurzeln, die sich durch die Zeiten gruben. Mac Calmas Spur verlief in sich windenden Bahnen, sprang von der einen Wurzel über zur nächsten und flocht dann aus ihnen ein Netzwerk, das schließlich das Herzstück der Insel bildete. Und unter diesem Herzstück, tief in der Erde verborgen, vibrierte jene mystische Kraft, in der das Wesen der Götter lebte und die sie alle mit Leben erfüllte.
Als er dies erkannt hatte, versuchte Bellos, seine Aufmerksamkeit langsam wieder auf den Strand zu richten, auf den Tang und die gellenden Schreie der Möwen, bis er den dichten, berauschenden Rauch wahrnahm, der scheinbar unaufhörlich aus den von Graine erträumten Kesseln drang. Schließlich spürte er auch wieder die Anwesenheit der Träumer, die Ruhe, die diese ausstrahlten, sowie den fernen, misstönenden Mahlstrom, als der die an Land drängenden Legionare ihm erschienen. Tief nahm er all dies in sich auf, öffnete abermals seine Seele, so, wie er es einst allein neben der kleinen Feuerstelle im Großen Versammlungshaus getan hatte, und versuchte, die Ängste jener Männer zu ertasten, die nun gekommen waren, um ihn zu töten.
Feuer. Flammen. Hitze. Tod.
In jener Welt, die die Furcht der Legionare erschaffen hatte, traf Bellos auf eine Mauer aus alles verschlingenden, unersättlichen Flammen, welche die Männer, die ihr begegneten, einfach aus purer Lust vernichtete. Schon schien die Hitze auch Bellos in ihren Schlund hineinzureißen, schwarz verkohlt blätterte ihm die Haut von seinem Leib, die Glut kochte sein Blut und reichte bis hinab in seine Lunge, um seinem Körper die Seele zu stehlen. Hätte Bellos rennen können, wäre er sofort davongestürmt, doch seine Glieder wollten den Befehlen seines Geistes einfach nicht mehr gehorchen. Mit dem Gesicht nach unten lag er in dem feuchten Strandkies, und der Schweiß strömte ihm über die Brauen, so wie es ihm auch einst in der heißen Schmiedehütte von Valerius ergangen war. Sein Gesicht brannte geradezu. Er versuchte zu atmen, doch jeder Atemzug tat weh. Er keuchte und spürte, wie ein schwarzes Nichts sich um sein Denken zu schließen begann, eine Dunkelheit, die so ganz anders war als die Finsternis des ihm bereits vertrauten Blindseins.
Von irgendwoher ertönte, zart und eisig wie der Kuss des Winters, mac Calmas Stimme. Vergiss nie, dass sowohl diese Welt als auch die anderen Welten bloß eine Illusion sind. Das hatte Bellos schon wieder ganz vergessen. Gierig atmete er die Worte geradezu in sich ein, angenehme Kühle breitete sich in seinem Brustkorb aus, und dann erinnerte er sich wieder. Langsam legte sich ein angenehmes Gefühl der Ruhe über ihn, und die Flammen wichen auseinander. Bellos konnte die Männer hinter der Wand aus Feuer erkennen und das Webwerk ihrer Ängste.
»Warum Feuer?« Bellos spürte, wie mac Calma eine trockene Hand auf seine Stirn legte und sich neben ihn kniete.
Bellos bemühte sich, eine Antwort zu finden. Doch seine Gedanken ließen sich einfach nicht fassen, viel zu schnell und schlüpfrig wie Aale entzogen sie sich immer wieder seinem Griff. Im Geiste trat Bellos von den Beobachtungen, die er in seiner flüchtigen Vision gemacht hatte, wieder ein kleines Stück zurück und betrachtete das Muster, das diese ergaben.
»Die Legionen hatten den Rauch schon gesehen, noch ehe sie sich daran machten, die Meerenge zu überqueren«, entgegnete er schließlich. »Sie glauben, dass wir hier auf Mona unsere Feinde bei lebendigem Leibe rösten. Und diese Vorstellung ängstigt sie mehr als alles andere.«
»Aber wiederum nicht so sehr, um den Rückzug anzutreten und wieder aufs Festland zurückzukehren?«
»Nein. Im Gegenteil, diese Angst verleiht ihnen sogar neuen Zorn, und sie wollen jeden töten, der sie ansonsten womöglich verbrennen könnte.«
»Kannst du noch mehr erkennen? Was liegt unter dem Feuer? Womit könnte man ihren Zorn untergraben und ihren Kampfwillen schwächen? Vielleicht kann man sie ja auch mit irgendetwas verwirren, sodass die Legionare sich am besten einfach gegenseitig umbringen.«
»Ich kann es versuchen.«
Fast fühlte sich Bellos, als ob er wieder der einfache Schüler eines angesehenen Träumers wäre. Doch nun war nicht die Zeit zum Lernen, der Wind brauste ihm ins Gesicht, der Rauch schien ihm sanft die Gewalt über seine Gedanken zu entführen, und Thorn stand einer wahren Flut von Männern gegenüber, die töten würden, ohne dabei auch nur die geringsten Schuldgefühle zu empfinden. Mona stand unmittelbar vor der kompletten Vernichtung. Das war die bittere Realität.
Leise sprach der Vorsitzende des Ältestenrats von Mona: »Ja, versuch es. Für diese Aufgabe bist du geboren worden. Und du kannst es schaffen, du allein kannst uns geben, was wir nun so dringend brauchen, Bellos von Briga.«
Natürlich hatte mac Calma seinen Schützling mit dieser spontanen Namensgebung keineswegs ängstigen wollen, und dennoch war genau das der Effekt. Noch niemals zuvor hatte Bellos gehört, wie sein Name in einem Atemzug mit dem eines Gottes genannt worden war. Und er war sich auch nicht bewusst gewesen, wie sehr er ausgerechnet nach dieser Göttin benannt werden wollte: nach der Allmutter, nach der, die das Leben schenkte und die den Tod regierte, nach der Wächterin über den letzten Fluss und der Herrin über all das, was in dem Land hinter dem Leben lag.
Bellos wurde gerade ein Geschenk angeboten, das wertvoller war als alles andere, was er jemals in seinem Leben geschenkt bekommen hatte. Und er war sich nicht sicher, ob er verdiente, was man ihm nun geben wollte. Die Hoffnungen und Ängste einer ganzen Generation, nein, aller Generationen, lasteten schwer auf ihm und beeinträchtigten seine Gabe, in die Welt jenseits seiner eigenen Blindheit zu blicken. All dies wurde ihm in diesem Augenblick schmerzlich bewusst. Einen Moment lang schlug die Angst vor dem Versagen wie eine riesige Flutwelle über ihm zusammen, und er hatte das Gefühl, als sei er wieder ein kleines Kind, das verloren und ohne Hoffnung oder Zukunft in den Bordellen eines gallischen Seehafens vor sich hin vegetierte. Er dachte an Valerius, und abermals spürte er diese Verwirrtheit in seinem Inneren, die ihn immer dann befiel, wenn er an jenen Mann dachte, der ihn einst aus diesem elenden Leben herausgekauft hatte, und wieder fragte Bellos sich, warum Valerius dies wohl getan hatte. Und wie stets, so folgte auf diese Frage auch diesmal wieder die Erinnerung daran, wie es war, sehen zu können, und daran, dass es keine andere gewesen war als Briga höchstpersönlich, die beschlossen hatte, ihm sein Augenlicht zu nehmen, um ihm dafür ein anderes Sehen zu schenken. Aber dieses andere Sehen reichte nicht aus, um Bellos über seinen Kummer über den Verlust seines Augenlichts hinwegzutrösten.
Zorn, über vier ganze Jahre hinweg in seinem Inneren aufgestaut, schlug über dem Belger zusammen.
»Bellos«, ertönte abermals Luain mac Calmas Stimme.
»Denk nach.«
Das reichte. Verwirrung und Zorn, Angst und Zweifel bildeten einen Teil von Bellos’ Wesen, und das würde auch in Zukunft so bleiben. Doch endlich hatte er gelernt, wie er diese Emotionen beiseiteschieben konnte. Und genau das tat er.
Tief atmete er die letzten feinen Schwaden von Graines Räucherwerk ein, fühlte sie durch seinen Gaumen dringen und ließ die Rauchschwaden seinen Geist entfesseln. Und plötzlich konnte er wieder klar sehen. Er sah das Flechtwerk, zu dem die Träume und die Wurzeln der Ahnen sich zusammengefügt hatten, und er sah jenen hellen Punkt, der Luain mac Calma war und der all diese Gedankenstränge in seiner Mitte vereinte. Und Bellos sah die Göttin, jene Macht, die er schon seit Ewigkeiten in seiner Seele spürte und der er doch nie einen Namen gegeben hatte. Endlich begriff Bellos, dass er ein Teil dieses Flechtwerkes war, und sanft ließ er seinen Geist emporsteigen, um frei über dem Flechtwerk zu schweben.
Die Flammen wichen auseinander, ließen Bellos hindurch.
Das Wesen der Angst trat auf ihn zu und teilte sich in zwei Hälften, erzählte Bellos zum einen von den Männern aus dem Meer, die sich vor der kommenden Schlacht fürchteten, und zum anderen von den Männern jenseits der Meerenge, die wiederum Angst hatten, an genau dieser Schlacht auf der Insel nicht teilhaben zu können. Laut sprach Bellos: »Paulinus hat nicht alle seine Männer gegen Mona geschickt. Nur die Zwanzigste Legion wurde ausgesandt. Die Vierzehnte hält er noch in Reserve. Und das ist nicht das, was Graine in ihrem Feuertraum gesehen hatte.«
»Aber das reicht uns bereits. Der Rest kommt vielleicht noch nach. Für heute müssen wir es erst einmal nur mit den Männern aufnehmen, die uns unmittelbar gegenüberstehen.«
Und das waren mehr als genug. Denn hinter den Kavalleristen ruderten noch fünftausend weitere Legionare in ihren Leichtern gegen die Strömung und mit Kurs auf Mona. Bellos versuchte, sich zu erden, warf das Netz seiner Gedanken weit aus, um alle fünftausend Soldaten und fünfhundert Kavalleristen auf einmal erfassen zu können. Und dann begann er damit, ihre zappelnden und sich in seinem Griff windenden Seelen aus diesem Netz herauszupicken. Wie Fische sammelte er sie zusammen, um sie dann jenen zu übergeben, die damit am besten etwas anzufangen wussten.
In der Welt aus Fleisch und Erde presste er seine Handflächen fest gegen den Fels und stand auf. Unter seinen Füßen verwandelte sich Stein zu Kies und wurde Kies schließlich zu Sand, und vor ihm stand eine Reihe von dreitausend Träumern, der gegenüber sich wiederum langsam zwölftausend Legionare postierten. Bellos spürte jeden einzelnen der feinen Blitze, als welche die Seelen dieser Menschen ihm vor Augen zu treten pflegten. Und er konnte jedem einzelnen dieser Blitze einen Namen zuordnen, konnte genau sagen, welche Farbfacetten ein jeder aus seinem gleißend weißen Licht in die Welt entließ und welche er zurückbehielt. Und er konnte die Folgen benennen, die eintreten würden, wenn auch nur einer dieser Blitze erstürbe.
Die Zeit eröffnete ihm ihr Geflecht, und Bellos konnte sehen, welche der Menschen bereits dazu bestimmt waren, heute zu sterben, und welche wiederum erst später in das Land hinter dem Leben eintreten würden. Er wusste genau, wann ein jeder von ihnen gehen müsste. Und er sah auch Thorn, sah sie den Fluss überqueren und in Brigas Obhut entschwinden, und er wusste, wann und wo und unter welchen Umständen sie von ihm gehen würde. Vor allem aber war er erstaunt, mit welcher emotionalen Distanz er dies alles betrachtete.
Bellos schritt über den Strand von Mona, marschierte an der Reihe von Träumern entlang, ging von einem strahlenden Licht weiter zum nächsten und erklärte den Männern und Frauen, was er in seiner Vision gesehen hatte: »Ihr seid die Seelen aller niedergemetzelten Großmütter, ihr seid gekommen, um euch an euren Mördern zu rächen. Ihr seid die Kinder, die wandelnden Toten. Ihr seid die geblendeten Frauen, gewandet in tiefstes Schwarz und geisteskrank vor Kummer und Zorn. Ihr könnt nicht noch einmal getötet werden.«
Nichts von alledem war neu. Bellos hatte auch bei früheren Gelegenheiten bereits von den Ängsten der Legionare erzählt, hatte von ihren Schwachpunkten berichtet, während er im Frühling im Großen Rundhaus von Mona ausgeharrt hatte und an genau jenem Albtraum schmiedete, mit dem die Träumer den Legionaren schließlich den Schlaf vergifteten. Jetzt aber verfuhr Bellos im Grunde genau umgekehrt, nun passte er die Träumer in den Traum ein, wobei er einem jeden von ihnen eine Handvoll feinster Fäden überreichte, Fäden, die Bellos zuvor in die Seelen der Legionare gepflanzt hatte und über die die Träumer ihre Opfer nun langsam einholen und an sich reißen würden, ganz so, wie auch Fischer ihre Beute an einer Schnur zu sich heranzogen. Doch nicht alle Träumer zerrten in der Gestalt der Verstorbenen die Seelen der Legionare in deren ganz persönliche Hölle. Einige wenige nämlich hatten stattdessen von Bellos eine etwas weniger tückische und deutlich leichter auszuführende Aufgabe zugeteilt bekommen: »Ahmt den Schrei der Krähe nach und den des Adlers, und wenn ihr könnt, vermischt diese beiden Schreie miteinander, sodass es so klingt, als wärt ihr eine überwältigende Schar, die in Schwärmen über die Legionare herfällt. Werft außerdem Sand in die Luft, lasst ihn die Gestalt von Schlangen annehmen. Lasst das Gras sich unter den Füßen der Römer winden. Ihr seid Schlangen, die zu Hunderten auf die Legionare zugleiten.«
Dann, irgendwann, war Bellos am Ende der Reihe angelangt. Er stand vor Thorn. Noch lebte sie, streckte ihm die Arme entgegen, strich ihm zart mit dem Finger über die Lippen und legte seine Hand an ihre Wange. »Und du bist die Möwe, bist viele Möwen«, erklärte er ihr, »und frisst den Männern die Augen aus ihren Höhlen.« Thorn umschloss seine Hand. Noch einmal erahnte er ihre Ruhe, ganz so, als ob sie eine Eiche wäre, deren Wurzeln tief in die Erde reichten und die kein Sturm fällen konnte, erahnte die Furchtlosigkeit, mit der sie dem Tod entgegenblickte, und hörte, wie sie leise seufzte, während sie versuchte, sich zu konzentrieren. Und dann spürte er es klar und deutlich: den Sog der See, den klaren, fast schon schmerzhaft hellen Himmel, Scharen über Scharen von weißen Seevögeln, die sich erst den Wolken entgegenhoben wie das Auge des Sturms und dann mit brausendem Flügelschlag auf die Männer herabstießen.
Bellos beugte sich ein wenig vor und küsste Thorn auf die Stirn. »Danke. Ich liebe dich. Vergiss das nie.«
Lächelnd presste sie die Lippen auf seinen Hals. Dann verließ er sie, und in seinem Herzen tat sich ein bodenloser Abgrund auf und zerriss ihm schier die Brust.
Wohingegen die feinen Lücken, die zuvor in seinem Traumnetz geklafft hatten, mittlerweile alle geschlossen waren. Es gab nichts mehr, was er den Träumern noch hätte mitteilen müssen. Langsam wandte er sich um und stemmte die Füße in den Kies. Der Wind änderte die Richtung, peitschte Bellos geradezu ins Gesicht und ließ salzige Gischt auf seine Haut regnen. Er hörte, wie Ruderblätter sich aus dem Wasser hoben und dann wieder eintauchten, hörte den keuchenden Atem von schier unzähligen Männern.
Nahe. So nahe.
In Gedanken streckte Bellos die Hand nach Graine aus und fand sie, schwelgte für einen winzigen Moment in der kummervollen Freude, die seine junge Vertraute jedes Mal dann durchfuhr, wenn Bellos auf diese Art nach ihrer Seele und ihren Gedanken tastete. Doch unter dieser Freude war ein tückischer Strudel aus Zweifeln, ein Strudel, den auch er kannte und der in ihr nicht weniger reißend wirbelte als in ihm. Denn nur sie beide hatten das Gewebe des Feuers gesehen. Nur sie allein wussten, inwieweit die Vorbereitungen am Strand von Mona von dem abwichen, was Graine in ihrer Vision gesehen hatte. Und selbst wenn sie es geschafft hätten, ihre Vision ohne Abstriche in die Wirklichkeit zu übertragen, hätten sie doch noch immer nicht gewusst, ob all dies tatsächlich die gleichen Folgen zeitigen würde wie im Traum.
Bellos öffnete seinen Geist den Göttern, ließ das Licht seiner Seele, seine ganze Aufmerksamkeit über die um ihn versammelten Träumer gleiten und über das Netz, das diese gewoben hatten und das nun lauernd über den Legionaren schwebte, die sich langsam an den Strand schleppten.
Irgendeiner der Männer rief in lateinischer Sprache einen Befehl. Die Stimme klang wie die von Valerius und war doch gleichzeitig so ganz anders. Ein Flachbodenschiff landete am Kiesstrand an.
Wie einen Blitz spürte Bellos die Todesangst in sich einschlagen. Aus dem Zentrum dieser Angst heraus sprach er ein rasches Stoßgebet und brüllte dann aus voller Kraft: »Jetzt!«
Die Kriegerin der Kelten
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