XXVII

Die Streitkräfte brachen aus dem Tempel hervor, noch ehe der letzte Pecheimer durch die Lücke im Dach hinabgeschleudert worden war.
Und mit genau diesem Ausbruch hatten alle gerechnet. Denn sofern man noch eine gewisse Wahl hatte, so würde doch wohl jeder Krieger, ja, auch jeder Kaufmann, jeder Gerber, jeder Geschirrmacher und sogar jeder Staatsbeamte lieber zur Waffe greifen und den Tod in der Schlacht wählen, als lebendig zu verbrennen. Zumal immer noch die Chance bestand, plötzlich besser kämpfen zu können als jemals vermutet, und damit vielleicht sogar als Überlebender aus der Schlacht hervorzugehen …
Doch die Götter hatten bereits ihr Urteil gesprochen. Die aus dem Tempel Fliehenden hatten nicht die geringste Chance. Zwei Tage lang waren sie im Dunkel gefangen gewesen, hatten nicht wissen können, dass das Feuer der Sonne die Pforten des Tempels bereits mit ihrem schmelzenden Glanz überzogen hatte. Sie rannten also wie geblendet geradewegs in die Klingen der bereits wartenden Krieger hinein, die Seite an Seite schritten mit ihren heidnischen Göttern und darum selbst im Tode nicht mehr verlieren konnten.
Breaca stand ein wenig abseits des Heeres, an ihrer Seite Stone. Sie hatte nicht beabsichtigt, nun ganz allein auf diesem Außenposten zu stehen, und zu Beginn des Kampfes waren auch noch Cygfa und Valerius bei ihr gewesen; die eine links an Breacas Schildseite, der andere rechts neben ihrem Schwertarm. Sie wollten sie beschützen und wären sogar für sie gestorben. Dann aber hatte Breaca Cygfa fortgeschickt, um das Dach des Tempels aufzubrechen, und Valerius, um mit seinen Kriegern gegen die Türen zu stürmen. Anschließend waren andere an Breacas Seite getreten: Braint von Mona; Madb von Hibernia, die wiederum durch ihren Eid an Valerius gebunden war; und Cunomar, der des Blutbads noch immer nicht überdrüssig war und seine Bärinnenkrieger schließlich mit einer solchen Inbrunst in die Schlacht auf dem Tempelhof führte, dass es fast schon an Wahnsinn grenzte.
Einen nach dem anderen hatte Breaca sie dann jedes Mal wieder fortgeschickt und in jene Kampfherde entsandt, wo man sie gerade am dringendsten brauchte. Braint musste Cygfa zu Hilfe eilen, während Madb Valerius unterstützen sollte, als durch einen schmalen Spalt zwischen den Türen dichte Rauchschwaden nach außen drangen, und Cunomar wurde schließlich mit der Aufgabe fortgeschickt, jene mehrere Dutzend Mann starke Truppe von Trinovantern zu befehligen, die den verborgenen Hinterausgang des Tempels unter Beobachtung hielt, denn sollten einige der im Tempel Gefangenen das Wagnis eingehen wollen, von dort aus zu fliehen, so würden sie dies sicherlich schon recht bald versuchen.
Somit stand Breaca ganz allein auf ihrem Posten am Rande des Tempelhofs, als plötzlich die bronzenen Pforten aufgestoßen wurden und eine wahre Horde von Männern herausgestürmt kam. Und diese Männer waren zwar von dem gleißenden Licht geblendet, ansonsten aber sowohl mental als auch körperlich durchaus noch in der Lage, sich in die Schlacht zu stürzen, während Breacas Schwertgriff bereits ganz glitschig war von ihrem Schweiß und sie als einzigen Beschützer den verkrüppelten Kampfhund an ihrer Seite hatte.
Mühsam hob sie ihren Schild empor, wollte erproben, wie viel Kraft sie noch besaß. Doch die nächtliche Unterhaltung lastete auf ihr, und das nicht nur wegen des Schlafmangels. Der Schild schien also mit einem Mal deutlich schwerer als noch vor ein paar Tagen, ganz zu schweigen von der Leichtigkeit, mit der sie ihn in ihrer Jugend zu heben vermocht hatte. Je nachdem, wie lange ein mögliches Gefecht dauerte, würde sie ihn irgendwann also sicherlich nicht mehr in Abwehrposition halten können.
Angestrengt horchte Breaca auf das Lied ihres Schwertes und hörte doch nichts. Dann tastete sie nach dem stechenden Schmerz, der doch sonst stets so zuverlässig vor einer Schlacht durch ihre Handfläche geschossen war, jenen Vorboten des heißen Kampffiebers, das sie durch die Schlachten zu tragen pflegte. Denn selbst in den Wäldern am Meerbusen an der nördlichen Küste, als Breaca zum Kampf gegen die Neunte Legion angetreten war, hatte sie diesen Schmerz noch gespürt. Wenngleich sie ihn schon damals nur noch für blass und wenig hilfreich gehalten hatte. In diesem Augenblick auf dem Tempelhof aber fühlte sie rein gar nichts mehr und wäre doch selbst für den blassesten Abglanz ihrer einstigen Kampfeswut noch dankbar gewesen.
Zwar hatte Breaca durchaus schon gesehen, wie Menschen sich auch ganz ohne dieses Fieber und allein mit ihrem Verstand und ihrem Talent durch eine Schlacht fochten. Sie selbst aber hatte noch nie so leidenschaftslos gekämpft - kämpfen müssen. Bebend presste Stone sich an ihr Bein, und Breaca konnte beim besten Willen nicht sagen, ob der Hund nun zitterte, weil er fliehen wollte, oder ob ihn überraschenderweise doch noch der Blutdurst gepackt hatte. Da Breaca keine Hand frei hatte, um Stone das Nackenfell zu zerzausen, drückte sie beruhigend ihr Knie gegen seine Seite. Dicht aneinandergepresst beobachteten Hund und Kriegerin nun, wie die Veteranen aus der Tempelpforte gestürmt kamen, die Treppe hinabrannten und mit klirrenden Waffen auf die im Tempelhof harrenden Krieger losgingen. Schon bald zerbrachen die geordneten Reihen unter dem Chaos der Schlacht, und weder Breaca noch ihr Kampfhund verspürten sonderlich viel Verlangen danach, sich in das Getümmel zu stürzen.
Valerius kämpfte fast an vorderster Front des Heeres, an seiner einen Seite Cygfa und an der anderen Madb, die hibernische Frau mit den Augen einer Dohle. Seinen Rücken schützte derweil wie immer Longinus, der nicht weniger treu war als ein Hund. Huw, der Steinschleuderschütze, stand unmittelbar links hinter Valerius, während rechts Knife kämpfte sowie noch einige weitere Krieger, die beschlossen hatten, ihrem Anführer bis in die ersten Reihen zu folgen.
Breacas Bruder besaß also tatsächlich seine eigene Ehrengarde, wenngleich er dies natürlich bestritten und auch seine Ehrengarde wiederum geleugnet hätte, irgendetwas in dieser Art zu symbolisieren. Und dennoch hätten diese Krieger für Valerius ihr Leben gegeben. Breaca sah zu, wie er mit der Schwerthand einen Veteranen tötete und zugleich seinen Schild dazu benutzte, Cygfa zu schützen, während sie mit einer Rückhandbewegung einen weiteren Widersacher erstach. Das Haar ihrer Tochter schien wie eine wogende Flamme unter dem Licht der wieder aus ihren Fesseln befreiten Sonne, schien wie ein helles, fast weißes Flackern vor der bronzenen Tür und dem daraus in dicken Wolken aufsteigenden Rauch. Cygfa war sozusagen die Speerspitze, die die oberste Ebene der Treppe verteidigte und sich der wahren Flutwelle von rund zweihundert Veteranen entgegenstemmte. Und mit aller Macht versuchte Breacas Tochter, auch die hinter den Veteranen herstürmende Menschenschar daran zu hindern, sich nun einfach ungehemmt über den weißen Marmor und den sich davor ausbreitenden Tempelhof zu ergießen.
Doch selbst Cygfa, die sozusagen die weibliche Verkörperung Caradocs war, konnte fünfhundert kampfwütige Männer nicht ohne fremde Hilfe in deren Schranken verweisen. Die Veteranen drängten sich an ihr vorbei, wurden aber sogleich von Madb oder Valerius niedergemetzelt oder von irgendeinem anderen der schier zahllosen, nachdrängenden Krieger. Nur wenige Römer erreichten lebend den Fuß der Treppe. Und schon bald kam der Punkt, an dem die sich ansammelnden Leichenberge das Kämpfen deutlich erschwerten. Niemandem aus dem Heer der Bodicea war für diesen Fall befohlen worden, sich ganz gezielt möglichst auf den Tempel zuzubewegen, sodass die Krieger nun, statt nach vorn zu preschen, instinktiv langsam immer weiter zurückwichen, um Platz zu schaffen. Und umso mehr Römer hasteten geradewegs an ihnen vorbei.
Ganz am äußersten Rand der Treppe rannte eine Frau in den Innenhof hinab. Sie hatte rostrotes Haar und graugrüne Augen und stürmte geradewegs auf Breaca zu. Die Frau war keine Kriegerin. Ihre Bewegungen folgten nicht dem Lied ihres Speeres, sie hörte nicht die klagende Stimme ihres Schwertes, doch sie war flink, von nüchternem Verstand und erfüllt von dem brüllenden Zorn einer Wildsau, die mit blinder Gewalt ihre Jungen zu schützen versuchte. Dieser Zorn war alles, was sie hatte, um ihr Mut und Kraft zu verleihen. Doch er reichte bereits aus, um sie mit einer solchen Kampfeswut zu erfüllen, dass sie den jungen Coritani, der die Treppe hinaufeilte, um sich ihr entgegenzustellen, sofort und ohne viel Federlesens einfach niedermetzelte. Und das dem Coritani folgende Eceni-Mädchen wurde unter der Klinge der Frau mit dem rostroten Haar augenblicklich zum Krüppel geschlagen.
Die Frau war allein, ohne Kinder. Davon hatte Breaca sich bereits überzeugt, ehe sie nach vorn trat, um die Flüchtende am Weiterrennen zu hindern. Sie beide waren nun in einer kleinen Ecke des Tempelhofs gefangen, und auf der einen Seite verlief zu allem Übel auch noch eine niedrige Mauer, was diesen Ort zu einem geradezu selbstmörderischen Schlachtfeld machte. Kaum, dass die Frau mit dem rostroten Haar auf Breaca losging, da rannte Stone in einem großen Halbkreis um sie herum und drängte sie seitlich gegen die Tempelhofbegrenzung, sodass ihr Schild am Mauerwerk entlangkratzte.
Doch auch Breacas Schild verfing sich kurzzeitig in der steinernen Brüstung. Rasch wich sie wieder von der Hofbegrenzung zurück, um sich ein wenig mehr Bewegungsfreiraum zu verschaffen. Sofort wollte die Frau durch die entstandene Lücke stürmen, verlor dadurch aber zugleich ihre Deckung, sodass Breaca ihr mit einer schnellen Bewegung das Schwert aus der Hand schlagen konnte. In hohem Bogen segelte es über die Mauer hinweg und landete in dem von Asche überzogenen Schlamm dahinter.
Es war unter der Würde einer Kriegerin von Breacas Format, diese schutzlose Frau nun einfach niederzumetzeln. Außerdem gab es noch Fragen, die sie gerne beantwortet haben wollte. Also schwang sie ihre Waffe wieder zurück und hielt sie dann waagerecht und auf Höhe des Brustbeins wie eine Art Barriere zwischen sich und die Fremde. Abrupt hielt die Frau inne. Wie angewurzelt stand sie da. Dann zischte sie Breaca irgendetwas entgegen, geiferte wie eine Wildkatze, machte andererseits aber auch keine Bewegung, durch die sie Breaca schließlich doch noch gezwungen hätte, sie zu töten.
»Warum musstest du in einem Schweinepferch ausharren?«, fragte Breaca.
Die Frau senkte den Blick. Bis zu den Knöcheln hinauf waren ihre Füße mit altem, getrocknetem Kot verklebt. Der durchdringende Geruch von Schweinemist, der von ihr ausging, war selbst über den typischen Gestank der Schlacht hinweg noch deutlich wahrzunehmen.
Und irgendetwas an dieser Bemerkung schien die Frau mit Zorn und neuem Leben zu erfüllen. Sie fauchte und benutzte nun mangels eines Schwertes einfach ihren Schild als Waffe und wirbelte wild damit herum. Für einen kurzen Moment musste Breaca ihren Schild wieder hochreißen, ihn der Fremden entgegenstemmen und gleichzeitig einen Schritt zurückweichen, um Stone vortreten zu lassen - aber natürlich nicht so dicht, dass er die Frau hätte töten können - und sie dann abermals in die Ecke und gegen die kleine Steinmauer zu drängen.
Breaca sprang vor und setzte der Frau abermals die Schwertspitze an die Kehle. Und wie zuvor trugen weder deren Knochen noch Fleisch noch Haut auch nur die geringste Verletzung davon. »Wenn ich wollte, könnte ich dich nun töten«, erklärte Breaca. »Andererseits könnte ich dir aber auch verraten, dass deine Tochter lebt und in Sicherheit ist. Und wäre ich an deiner Stelle, würde ich mich von einer solchen Nachricht am liebsten gleich selbst überzeugen.«
Allein die, die bereits alles verloren haben, was ihnen jemals am Herzen lag, können dem Tod ohne Angst entgegenblicken. Eine Mutter jedoch, die weiß, dass ihr Kind am Leben ist, gehört nicht zu diesen Menschen. Die Frau mit dem rostroten Haar hielt inne, gab den Kampf auf. Sie ließ ihren Schild sinken und schlug eine Hand vor das Gesicht. Weiß traten ihre Fingerknöchel hervor. Sie zitterte, wie auch Stone gezittert hatte, was bei ihr jedoch weniger von unterdrückter Anspannung herzurühren schien, als vielmehr von Angst, Verzweiflung und verborgenem Leid.
»Woher willst du das wissen?«, fragte sie.
»Du meinst, woher ich weiß, dass es deine Tochter ist? Sie hat dein Haar und deine Augen.«
Die Frau nickte kaum wahrnehmbar.
»War das auch der Grund, weshalb ihr euch im Schweinepferch verstecken musstet? Wollte die Menge euch töten? Habt ihr sie etwa an Rom verraten?«
»Das haben sie zumindest behauptet.« Hastig brachen die Worte zwischen ihren Fingern hervor.
Breaca zog ihr Schwert zurück und setzte sich auf die steinerne Mauer. Auf den Stufen zum Tempel hinauf tobte noch immer ein erbitterter Kampf, fochten Männer und Frauen, Krieger und Römer. Einige wurden verletzt und starben, andere überlebten und wurden aus stillem Jubel über ihren Erfolg regelrecht tollkühn. Breaca aber befand sich wie in einer Blase der Ruhe, während Stone sie bewachte und eine innerlich zerbrochene Frau vor ihr stand. »Weil der Vater deiner Tochter Römer war?«, fragte Breaca. »Oder war es sogar noch schlimmer? War er etwa einer derjenigen, die Claudius in Cunobelins Siedlung haben einmarschieren lassen?«
Die Frau ließ die Hand, hinter der sie sich soeben noch versteckt hatte, langsam wieder sinken. Sie war zuvor schon blass gewesen, nun aber wirkte ihre Haut regelrecht gelblich, und das Zittern, das durch ihren Körper jagte, schien von mehr herzurühren als bloß von der Angst vor dem Tod. Sie wollte das Zeichen zur Abwehr des Bösen vor ihrer Brust schlagen. Dann wurde sie sich der Geste bewusst, die sie da gerade begonnen hatte, ihre Hand schwebte für einen kurzen Moment in der Luft, und schließlich ließ sie den Arm kraftlos wieder fallen. »Sieht man mir das so deutlich an?«, fragte sie. »Hat ein einziger Fehler mich derart besudelt, dass ich dafür mit dem Leben bezahlen muss, dass ich womöglich selbst nach dem Tod noch nicht reingewaschen bin?«
»Nein, nicht du musst für diesen Fehler bezahlen. Sondern deine Tochter. Denn sie hat seine Nase geerbt, und auch ihr Gesichtsschnitt ist dem seinen sehr ähnlich. Aber sie wird gewiss überleben, und dann wird sie mehr sein, als ihr Vater es jemals gewesen war. War es Heffydd? Oder einer seiner Söhne?«
»Heffydd war es. Keiner seiner Söhne ist mehr am Leben. Aber er wünschte sich einen weiteren Sohn. Das ist auch der Grund, warum er... warum ich...«
Ihre Worte erstarben. Die Frau mit dem rostroten Haar und Breaca waren vollkommen allein. Oder zumindest schien es so. Selbst zu Zeiten, als Cunobelin noch lebte, war Heffydds Stern bereits im Sinken begriffen. Und nun, an einem Tag, an dem die ganze Welt in Chaos zu versinken drohte, war die Vorstellung, dass dieser Mann noch ein Mädchen von nun acht Jahren gezeugt haben könnte, ein äußerst unangenehmer Gedanke. Heffydd, der falsche Träumer aus dem Stamme der Trinovanter, jener Mann, der sein gesamtes Volk und alles, was seine Ahnen ihn gelehrt hatten, an Rom verraten hatte.
»Hat er dich dafür bezahlt?«, erkundigte Breaca sich leise.
Diese Frage kam über ihre Lippen, ohne dass sie dies bewusst so gewollt hatte. Mitten in einer Schlacht, während der Tod durch die Scharen von Menschen marschierte, war diese Frage eine nicht minder schmerzhafte Verletzung, als ihre Klinge sie der Frau hätte zufügen können.
Starr und mit weit aufgerissenen Augen blickte die Rothaarige sie an, den Kopf in steifer Haltung hoch erhoben.
»Du meinst also, ich wäre von jener Sorte, die sich verkauft. Und dann auch noch für so etwas.«
Mit einem Mal klang ihre Stimme wieder wesentlich kräftiger, strenger. Langsam schritt Stone auf die Frau zu und lehnte sich gegen ihr Bein, ganz so, wie er es zuvor auch bei Breaca getan hatte. Sie ergriff sein Nackenfell an jener Stelle, wo der Haarwuchs am dichtesten war. Als sie die Hand wieder fortzog, blieben zwischen ihren Fingern dichte Büschel von Winterwolle hängen. Gedankenverloren rollte sie sie zu einem kleinen Ball zusammen, ganz so, als ob sie damit später noch irgendetwas polieren wollte.
»Heffydd hatte mich dabei ertappt, wie ich meinen Sohn unter dem alten Mond der Göttin Nemain widmete. Rom hätte uns für eine solche Tat getötet, mich und Gwn, und wahrscheinlich sogar dessen Vater, wäre der nicht schon in der Schlacht an der Salmfalle ums Leben gekommen. Doch Heffydd erkannte damals irgendetwas in Gwn, das er mochte. Denn Gwn war, obwohl erst zehn Jahre alt, bereits recht kräftig und ein guter Kämpfer. Heffydd bot uns an, uns am Leben zu lassen, offerierte uns sogar seinen persönlichen Schutz, bot uns das Beste, was Rom nur irgend zu bieten hatte... Wenn ich ihm dafür einen ebenso starken Sohn schenkte, wie Gwn es war.«
»Und was passierte, als du ihm stattdessen eine Tochter gebarst?«
»Da war er schon tot. Tot, noch lange bevor sie geboren wurde. Genau zwei Tage, nachdem er seinen Samen in mich gepflanzt hatte, beschloss Briga, ihn in ihre Obhut zu nehmen.« Sie bleckte wild die Zähne. Einer ihrer Eckzähne war abgebrochen. »Ich selbst habe ihn getötet. Bevor die anderen ihn erwischen konnten. Denn kaum, dass ich ihn umgebracht hatte, kamen sie auch schon. Mit ihren Knüppeln und ihren Messern, mit denen sie ihn eigentlich den langsamen, qualvollen Tod all jener sterben lassen wollten, die sich von ihren Stämmen abgewandt und Rom die Treue geschworen hatten. Und ich kann wohl behaupten, dass sie mir meine Tat wahrlich nicht dankten. Und genau die gleichen Menschen hätten auch ein achtjähriges Mädchen getötet, nur weil es den falschen Mann zum Vater hat.«
»Aber dann haben die Veteranen dir erlaubt, sie hinauszuschicken, einem neuen Anfang entgegen. Denn die wussten ja nicht, wer deine Tochter ist, oder? Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, womit du ihr wohl gedroht hast, damit sie sich schließlich vor die Tempelpforte traute.«
»Ich sagte ihr, wenn sie nicht von allein rausginge, würde ich mich weigern zu kämpfen... dass ich dann auf der Stelle mein Schwert niederlegen würde... und dass wir beide verbrennen würden. Ich habe ihr jedoch auch versprochen, dass ich, wenn sie hinausginge, in jedem Fall kämpfen und töten würde, sodass sie in dem sicheren Gewissen weiterleben könnte, dass mein Tod bereits gesühnt sei.«
»Und an dieses Versprechen hast du dich gehalten. Ich habe es gesehen. Aber was ist mit deinem Sohn? Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht. Er ist vor drei Jahren von hier fortgegangen. Sein Ziel war die Insel Mona. Seitdem habe ich nie wieder von ihm gehört.«
Natürlich hätten all ihre Worte auch Lügen sein können, doch Stone vertraute ihr offenbar, und Breaca glaubte ihm mehr als einem Mob aufgebrachter Menschen, die mit Knüppeln und Messern bewaffnet auf den langsamen Tod eines Verräters sannen. Breaca musste eine Entscheidung treffen. Jetzt. Musste die Frau entweder töten oder laufen lassen. Die Kämpfe auf der Tempeltreppe und im oberen Teil des Hofs hatten geradezu chaotische Züge angenommen, die Kämpfenden hatten sich zu kleinen Grüppchen verkeilt, und zu viele Römer und zu viele Krieger drängten immer dichter auf jenen Punkt zu, an dem Breaca und die Frau mit dem rostroten Haar standen.
»Wenn ich dich jetzt am Leben lasse, wirst du dann gegen uns kämpfen oder jene unterstützen, die uns töten wollen?«
»Nein. Du siehst doch offenbar jede einzelne Facette meiner Seele. Siehst du nicht auch das?«
»Nun, zumindest möchte ich dir gern glauben, was du sagst. Geh zu Airmid und Lanis. Sie verstecken sich beim Theater. Und bei ihnen sind die Mädchen. Sag ihnen, dass ich dich geschickt habe.«
»Wer bist du?«
»Breaca, Mutter von Graine, die von Rom vergewaltigt wurde. Hätte ich sie in einem Schweinepferch verstecken können, hätte ich das in jedem Fall getan. Und ich werde es für den Rest meines Lebens bedauern, dass ich dazu nicht die Möglichkeit hatte. Klettere über die Mauer und lauf. Ich werde tun, was ich kann, um die anderen davon abzuhalten, dich zu verfolgen.«
Breaca beobachtete, wie die Frau davoneilte. Dann kam auch schon Knife herbeigerannt, wollte über die Mauer springen und der Frau nachsetzen, doch Breaca hinderte ihn daran. Schließlich folgte noch ein Veteran. Ganz offenbar hatte er begriffen, was für eine Frau da vor ihm floh. Doch auch ihm stellte Breaca sich in den Weg, sie kämpften, und er starb.
 
Am Ende, als sich keine Überlebenden mehr im Tempel versteckten, als die Leichen ins Innere geschleift worden waren und das ganze Gebäude in Flammen aufging, marschierte Breaca erschöpft zurück zum Theater. Sie war auf der Suche nach Airmid und Theophilus und fand sie schließlich ein Stück außerhalb der Stadtgrenzen, wo diese sich auf einer sporadisch mit Felldächern überspannten Wiese den Verwundeten widmeten. Hier waren der Gestank und die Gefahr von ansteckenden Krankheiten etwas geringer.
Geschützt unter diesen Zelten hatte Theophilus auch die drei kleinen Mädchen gewaschen, und Airmid hatte ihnen zu essen gegeben. Nun spielten die drei inmitten von Staub und Asche gelangweilt mit einigen Knöchelchen und lauschten derweil den Sagen und Geschichten, die ihnen eine schlanke Kriegerin aus dem Stamme der Eceni erzählte. Der eine Unterarm der Frau war gegen ihre Brust gebunden, und sämtliche ihrer langen Glieder waren mit Schienen bewehrt. Sie war eine von den Hunderten, die nun Cunomars Befehl folgten. Zwar war sie noch keine Bärinnenkriegerin und kämpfte nur ganz am Rande der Schlachtfelder, hoffte aber, eines Tages zur Bärinnenkriegerin ausgebildet zu werden. Genau wie all die anderen, an deren Seite sie kämpfte, hatte sie sich ihr Haar in einem Bogen über beiden Ohren abrasiert und den verbleibenden, langen Schopf in tiefem Kupferrot mit Kalkpaste und Gänsefett versteift, sodass er ihr wie eine Art Kamm, wie der Kiel eines Boots vom Hinterkopf abstand.
Die drei strohblonden Mädchen waren von dem Ergebnis maßlos begeistert. Oder vielleicht hatte es ihnen auch nur die Sprache verschlagen. In jedem Fall saßen sie stumm zu Füßen der Kriegerin und lauschten deren Geschichten von den Schlachten, die die Krieger bereits gegen Rom gewonnen hatten. Die Knöchelchen, mit denen sie zuvor noch halbherzig gespielt hatten, waren längst vergessen. Erst als Breaca erschien, die immerhin die Heldin der ganzen Geschichten war und nur noch von ihrem eigenen Sohn übertroffen wurde, hielt die Kriegerin inne und schwieg.
Ein wenig abseits der kleinen Gruppe blieb Breaca stehen. Die Mädchen wirkten nun etwas entspannter, und es haftete auch nicht mehr dieser durchdringende Geruch an ihnen. Dennoch starrten sie ihre Heldin mit großen Augen an und stopften sich die Fäustchen in die Münder. Eine von ihnen gab einen erschrockenen, hohen Laut von sich, wurde von den anderen aber mit leisem »Schschsch!« sofort wieder zum Schweigen gebracht. Breaca schaute an sich herab, erkannte, dass auf ihrer Tunika frisches Blut klebte, konnte sich in ihrer grenzenlosen Erschöpfung nun jedoch nicht mehr dazu überwinden, die Flecken durch irgendetwas abzudecken - nicht einmal den Kindern zuliebe.
»Was ist denn mit dem vierten Mädchen passiert?«, erkundigte sie sich schließlich. »Ich meine das mit dem rostroten Haar und der Nase von einem von Cunobelins Träumern?«
Die junge Kriegerin blickte Breaca eindringlich an. Dann entgegnete sie in gedehntem Tonfall: »Ihre Mutter ist gekommen, um sie zu holen. Du selbst hast sie doch zu uns geschickt, mit einem Büschel Haare von deinem Hund als Beweis, dass sie tatsächlich mit dir gesprochen hat. Sie sagte, du hättest ihr versprochen, dass ihr nichts geschehen würde und dass sie gehen könne, wohin sie wolle. Wir waren der festen Ansicht, dass sie die Wahrheit sagte. Wie sonst hätte sie lebend aus dem Tempel entkommen sollen?« Die junge Frau runzelte die Stirn und schien nun ernsthaft verwirrt. »Haben wir uns etwa geirrt?«
»Nein, ihr habt euch nicht geirrt. Die Einzige, die da wohl etwas missverstanden hat, bin ich. Ich dachte, dass sie hierbleiben würde. Aber andererseits gab es dazu ja keinen zwingenden Anlass.«
Zumindest, wenn man mal davon absah, dass die Frau nirgendwo hingehen konnte in einer Stadt, von der nach dem Feuer nur noch Schutt und Asche übrig geblieben waren.
Breaca schenkte der Kriegerin ein aufmunterndes Lächeln und wandte sich anschließend mit ein paar freundlichen Worten an die Kinder, damit diese sich nicht länger fürchteten vor dem frischen Blut auf ihrer Tunika, dem Schweiß und den feinen Spritzern von körperlichen Ausscheidungen, die ihr Gesicht bedeckten.
Nachdem sie sich von dem Grüppchen verabschiedet hatte, ging sie noch einmal zu Airmid und Theophilus, um nach den Verwundeten zu sehen, um abschätzen zu können, wie viele Opfer der Tag wohl gefordert hatte, und um sich endlich mit ihren Gefolgsleuten beraten zu können. Sie musste herausfinden, wie man einem faktisch führungslosen Heer wieder einen Anführer geben könnte.
Breaca strebte in Richtung Osten, über das kurz geschorene Gras hinweg in Richtung der runden Koppel, auf der sonst die Pferde zugeritten wurden und wo nun die Verwundeten lagen. Nur durch Zufall drehte sie sich auf diesem Weg noch einmal kurz um und schaute zurück zum Tempel.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits wieder verlassen, und genau in dem Augenblick, als Breaca nachdenklich die Tempelruine betrachtete, glitt der letzte silberne Sonnenstrahl über die bronzenen Pforten - und erlosch. Das Feuer des Gottes brannte nicht mehr, zurück blieben nur die riesigen, bronzenen Platten, die in dem milder gewordenen Licht mit einem Mal seltsam konturlos erschienen.
Und doch ging mit diesem Anblick auch eine gewisse Erinnerung einher, ein so leiser Gedanke, dass Breaca ihn fast überhört hätte. Lange Zeit stand sie da, betrachtete das vage Gebilde, das vor ihr inneres Auge getreten war. Endlich erkannte sie die Silhouette, konnte der groben Kontur einen Namen geben und sah klar ihre Botschaft vor sich.
Nach dieser Erkenntnis ging sie nicht mehr zu den Zelten mit den Verwundeten hinüber, sondern machte einen weiten Bogen um die spitzgiebeligen Sonnensegel auf dem einstigen Gelände des Pferdemarkts und wanderte in südlicher Richtung über einen alten Pfad, sodass sie ganz allein und ohne den griechischen Arzt, der ihr seine Unterstützung aufdrängte, zurückkehren konnte in die Vergangenheit und in die Gesellschaft der Toten.
Die Kriegerin der Kelten
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