XXII
Camulodunum stand in Flammen.
Das Unwetter, das die ersten Augenblicke des
Angriffs noch mit seinem dichten Regen durchtränkt hatte, war
weiter nach Westen gezogen. Eine erfrischende Brise hatte die
Holzvillen der Händler und das Flechtwerk der einfachen
Handwerkerhütten wieder weitgehend getrocknet, sodass die kleinen
Brandherde, die überall an den Rändern der Stadt züngelten,
genügend Nahrung fanden und gierig ihren Rauch gen Himmel
spien.
Valerius befand sich im südlichen Teil von
Camulodunum und führte jene Krieger an, die trotz seiner
Vergangenheit keinerlei Scheu davor gehabt hatten, unter seiner
Anleitung zu trainieren und unter seinem Kommando zu kämpfen. Nun
stand Valerius an der Spitze ihrer kleinen Schar, vor sich eine
Reihe von römischen Veteranen, die sich im Inneren der aus Ziegeln
und Mörtel errichteten Barrikade zu einem provisorischen
Angriffsflügel zusammengeschlossen hatten. Von Kopf bis Fuß in
Leder und eiserne Rüstungen verpackt und mit frisch angemalten
Schilden ausgerüstet, blickten diese dem Feind entgegen. Valerius
roch den Rauch, der langsam den Westen der Stadt mit seinen
Schwaden erfüllte, schon lange, bevor er ihn sehen konnte. Und der
Geruch war ihm durchaus willkommen, schien in dieser Umgebung aber
dennoch auf gewisse Weise fehl am Platze, ganz so, als ob die
morgendlichen Feuerstellen, die sonst im Großen Versammlungshaus
auf Mona glühten, plötzlich in dieses Durcheinander des Krieges
hineinkatapultiert worden wären, mitten zwischen den Schweiß, die
Entleerungen der vor Angst und Anspannung spontan nachgebenden
Därme und den überall gegenwärtigen, nach Eisen schmeckenden Geruch
des Blutes.
Und diese spontanen Darmentleerungen waren alles
andere als selten. Besonders unter den Jugendlichen, die Valerius
nun zu einer Angriffslinie zu formieren suchte, war diese
Unpässlichkeit weit verbreitet. Leider hatte er noch keine
geeigneten Mittel und Wege gefunden, um die jungen Frauen und
Männer frühzeitig auf den eklatanten Bruch zwischen den
Kriegsdarstellungen in den Liedern der Stämme und der Realität im
Kampf gegen die Legionen vorzubereiten. Er hatte ihnen nicht mehr
vermitteln können, dass sie ohne den Ritus der langen Nächte der
Einsamkeit und die Kriegerprüfung keinerlei Grundlage hatten, auf
die sie ihr Selbstvertrauen gründen könnten. Tragischerweise jedoch
war es genau dieses Selbstvertrauen, das in dem chaotischen
Getümmel auf dem Höhepunkt einer Schlacht den entscheidenden
Unterschied ausmachen konnte, ebenso wie ein kurzer Augenblick der
Schwäche in einer Schlacht über deren gesamten weiteren Fortgang
entscheiden konnte. Und er hatte ihnen auch nicht sagen können,
dass allein die Summe all dieser grausamen Momente am Ende des
Tages darüber entschied, ob dieser Tag erfolgreich verlaufen war
oder sich zu einer Niederlage entwickelt hatte. Nicht mit einem
einzigen Wort hatte Valerius sie vorwarnen können, dass selbst in
den Zeiten vor der römischen Invasion niemand jemals ohne jene
typische, die Gedärme zerquetschende Angst in die Schlacht
marschiert oder geritten war und dass genau diese Angst einen auch
nie verlassen würde, sondern sich lediglich ein wenig legte, sodass
man irgendwann trotz seiner Furcht zumindest wieder klar genug
denken konnte, um ordentlich kämpfen zu können.
Aus den Augenwinkeln sah er plötzlich Flammen
auflodern. Rasch wandte er sich um und winkte jenen mageren,
hakennasigen Burschen zu sich heran, der sich bereits während des
Trainings durch ein bemerkenswertes Maß an Eigeninitiative
hervorgehoben hatte, und schickte ihn an die Spitze des Halbflügels
- noch immer dachte Valerius in den Begrifflichkeiten der römischen
Kavallerie, eine Angewohnheit, die er eigentlich schon längst
wieder hatte ablegen wollen. Gemeinsam mit seinen Kameraden sollte
der junge Krieger eine rasche Kehrtwende vollziehen, um die Linie
der Veteranen dann von deren hinterem Ende aus anzugreifen.
Der Bursche war nur halb so alt wie Valerius, und
wie so viele war auch er ein Namensvetter Caradocs. Die Zeremonie,
mit der für diese Jungen und die Dutzende von Breacas jeweils ein
neuer Name ausgesucht worden war, hatte eine komplette Nacht und
die Hälfte des folgenden Tages in Anspruch genommen. Am Ende aber
war diese Anstrengung von Erfolg gekrönt gewesen.
Dementsprechend wusste Knife mit der krummen Nase,
so der neue Name des Jungen, sogleich, dass er gemeint war,
sprintete ohne zu zögern an die Spitze seiner zwölf
Kriegerkameraden und drängte diese mit beeindruckender
Schnelligkeit zu einem ordentlichen Flügel zusammen. Ein Mädchen
namens Conna bildete gemeinsam mit Longinus das Zentrum der
Angriffstruppe, während Valerius Rückendeckung bekam von einem
Jugendlichen mit dem Namen Snail, der auf einer scheckigen Stute
ritt und Valerius’ Banner in die Höhe reckte. Im Übrigen war Snail
ein wesentlich fähigerer Standartenträger, als sein Name, der so
viel wie Schnecke bedeutete, hätte vermuten lassen.
»Snail! Signalisiere beiden Flügeln, dass sie in
Richtung Mitte preschen sollen!«
Gellend brüllte Valerius über das Getöse hinweg.
Die Standarte wirbelte in kreisenden Bewegungen rechts herum, und
segensreicherweise schauten sowohl Knife als auch Conna in diesem
Augenblick gerade zu Snail hinüber und erinnerten sich daran, was
auf diesen Befehl hin zu tun war. Ihre beiden Halbflügel
vereinigten sich, drängten sich dicht zusammen, während die
Schilde, die sie nach außen trugen, sich an den Kanten fest
verkeilten. Allein die Schwerter reckten sich durch winzige Lücken
zwischen den Schilden nach außen. Auf Longinus’ Befehl hin wurde
dann aus dem sicheren Schutz des Schildwalls heraus eine zerrissene
Woge an Speeren in die Luft geschleudert.
Zwar traf keiner dieser Speere lebendes Fleisch,
doch immerhin kam Bewegung in die feindliche Reihe. Irgendeiner der
Veteranen, die an jenem Ende standen, das von Valerius attackiert
wurde, rief seinen Kampfgefährten einen Befehl zu, und sogleich
rissen die Männer ihre Schilde wieder herunter und formierten sich
mit einer solchen Geschwindigkeit zu einem geschlossenen Quadrat,
als ob sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht hätten. Und
genau genommen hatten sie auch ihr Leben lang nichts anderes
praktiziert, wenn man von den letzten zehn Jahren einmal absah, in
denen sie bereits ihren Ruhestand genossen hatten.
Noch immer bewiesen sie eine erstaunliche
Wendigkeit und Geschmeidigkeit, reagierten aber dennoch nicht mehr
ganz so schnell, wie sie es einst in einer solchen Situation
vermocht hatten. Sicher, doch ein wenig asynchron wurden die
Schilde seitwärts nach außen gedreht und dann wieder dicht an die
Körper der Veteranen herangezogen. Zwei Veteranen hatten jedoch
nicht richtig aufgepasst, sodass nun ein schmaler Spalt zwischen
ihren Schilden klaffte. Sofort erkannte Valerius seine Chance und
ließ das Krähenpferd mitten zwischen diese beiden Männer stürmen.
Mit wildem Geheul stieß er sein Schwert nach unten, spürte, wie
Eisen auf Eisen traf und wie die Wucht des Aufpralls ihm das Blut
durch die Adern peitschte - nichts anderes vermochte eine derart
intensive Empfindung in ihm hervorzurufen.
Das Kampffieber hatte Valerius gepackt, jede Faser
seines Körpers vibrierte vor Leben, und er brüllte die Namen jener
Götter, denen er sich mit Leib und Seele verschrieben hatte. Und
dann sah er, wie die Jugendlichen, die ihm durch die Schneise
gefolgt waren, von seinem Kampfgeist angesteckt wurden, sich von
ihm durchdringen ließen und schließlich geradezu über sich selbst
hinauszuwachsen schienen und noch härter und noch schneller mit
ihren Klingen um sich hieben.
Und dennoch waren sie noch sehr jung und unerprobt.
Für jeden Veteranen, der starb, starb auch eine ganze Handvoll
Krieger unter Schreien der Qual. Der Gestank von sich entleerenden
Därmen und aus den Leibern drängenden Innereien überlagerte die
Gerüche nach Schweiß und Blut und Rauch. Zu Valerius’ Linker fraßen
die Flammen sich immer tiefer in die Gassen der Stadt hinein und
loderten immer höher in den Himmel hinauf. Er erinnerte sich wieder
daran, wie er vor kurzem erst auf einer der Hügelkuppen jenseits
der Stadtgrenzen gelegen und beobachtet hatte, wie die Veteranen in
die ringförmige Barrikade um das Zentrum eine Feuerschneise
schlugen, doch er wusste nicht mehr genau, wo diese Schneise
lag.
Und die Schlacht war mittlerweile auch zu
erbittert, als dass er Zeit gehabt hätte, sonderlich weit über den
gegenwärtigen Augenblick hinauszudenken, geschweige denn, dass er
mit Sicherheit davon ausgehen konnte, die nächsten Augenblicke
überhaupt noch zu erleben. Schließlich jedoch siegte die schiere
Menge an Kriegern über die Erfahrung der Veteranen, und das
Quadrat, zu dem die alternden Männer sich zusammengeschlossen
hatten, fiel unter dem Ansturm des Krähenpferdes und der ihm
nachfolgenden berittenen Krieger langsam in sich zusammen. Wieder
gellte ein lateinischer Befehl durch die Truppe von ehemaligen
Legionaren, und sofort lösten die Männer sich aus ihren Reihen und
rannten nach rechts hinüber, wo sie sich mit den Rücken gegen das
Mauerwerk einer nahen Villa pressten.
Valerius wirbelte herum und stürzte sich auf jenen
Mann, der offenbar die Befehlsgewalt über die Veteranen zu haben
schien. Dabei blieb ihm Snail, wie stets, dicht auf den Fersen und
reckte auch weiterhin tapfer das Banner mit dem roten Stier vor dem
Grau Monas in die Luft, jenes Emblem, das schon zu Zeiten seines
Dienstes in der Kavallerie Valerius’ ganz persönliches Zeichen
gewesen war. Noch merkwürdiger aber als die Pflichtversessenheit,
die der Bursche sogar in den brenzligsten Situationen bewies, war,
dass er dieses Banner auch noch mit einem gewissen Stolz zu tragen
schien. Und dann wiederum war nicht zu übersehen, dass er sich
andererseits nicht so ganz darüber im Klaren darüber war, was genau
er eigentlich von diesem widersprüchlichen Symbol halten sollte und
wie er die Bedeutung dieses Symbols in sein eigenes Denken
aufzunehmen gedachte.
Doch er war nicht der Einzige, den diese Art innere
Zerrissenheit quälte. Selbst in der Nacht unmittelbar vor dem
Angriff auf Camulodunum hatte das Kriegsheer der Bodicea noch eine
deutliche Spaltung aufgewiesen, was die Anwesenheit von Valerius
und dessen Anführerrolle für das gesamte Heer betraf. Der Großteil
der jungen Kriegerinnen und Krieger brachte dem Bruder der Bodicea
für das, was er einst getan hatte, noch immer seinen ungebrochenen
Hass entgegen. Doch es gab auch eine kleine Anzahl von Kriegern,
welche die Hasslieder über Valerius, die sie abends am Feuer zu
singen pflegten, langsam verhallen ließen und sich stattdessen
bemühten, alles, was er sie in der kurzen Zeit nur irgend lehren
konnte, aufmerksam in sich aufzunehmen. Folglich war es auch keine
große Überraschung mehr gewesen, als sich bei der Aufteilung des
Kriegsheeres der Bodicea schließlich entschied, wer sich freiwillig
Valerius’ Führung anschloss und wer nicht.
Einer von denjenigen, die sich am bereitwilligsten
zu ihrem neuen Anführer bekannten, war Snail gewesen. Und er war
auch derjenige, dessen Speere mit größerer Präzision ihr Ziel
trafen als die der meisten anderen. Andererseits war das noch lange
keine Garantie dafür, dass er mitten in einer realen Schlacht
genauso treffsicher war wie im Training. Doch wie bei fast allem,
so kam es auch in diesem Fall auf einen Versuch an.
Und wie immer, so ließ das Kampfgetümmel auch bei
dieser Schlacht irgendwann nach. Weder die Veteranen noch die
Jugendlichen besaßen das Durchhaltevermögen für allzu lange
andauernde Schlachten. Die Kämpfenden standen sich in zwei Linien
geradewegs gegenüber, getrennt allein durch die Gefallenen, die
zwischen ihnen lagen. Die beiden Gruppen waren einander noch nie in
ihrem Leben begegnet, sie waren Fremde füreinander. Und doch
betrachteten sie nun alle zusammen und seltsam geeint die womöglich
letzten Moment ihres jeweiligen Lebens, sahen dem nahen Tod ins
Auge, während um sie herum, in den anderen Teilen der Stadt, Feuer,
Schwerter und Speere wie ein Wirbelsturm in Camulodunum
wüteten.
Alle rangen nach Atem, während Valerius sich rasch
den Schweiß von der Nase wischte und seinen Standartenträger
anwies: »Snail, der da, der auf seinen Schild einen weißen
Widderkopf gepinselt hat. Töte ihn mit deinem Speer!«
Der Bursche war von sehr nachdenklicher Natur,
grübelte fast schon ein wenig zu viel für seine jungen Jahre. Nun
war sein dünnes, weizenbraunes Haar verklebt von der letzten
Feuchtigkeit des Regens, sodass er beinahe so aussah, als bestände
sein ganzes Wesen bloß aus einem schmalen Kopf und diesen riesigen,
entsetzt dreinblickenden Augen. Für einen Moment schloss er die
Lider, und der Träumer in Valerius hörte das knappe Stoßgebet des
Jungen, das dieser im Geiste sprach und das, kaum begonnen, auch
schon wieder verhallte. Der Mann in Valerius dagegen richtete sein
Augenmerk mehr auf den Anflug von Selbstbetrachtung und
Unsicherheit, unter dem der Junge ebenfalls zu schwanken schien,
und diese Beobachtung machte Valerius traurig, denn beides war
hier, mitten auf einem Schlachtfeld, mehr als überflüssig. »Nein,
du musst das tun«, widersprach Snail. »Du musst ihn töten.
Ich verfehle ihn vielleicht.«
»Du wirst ihn nicht verfehlen.« Valerius streckte
die Hand aus. »Gib mir die Standarte, damit du dich ganz auf dein
Ziel konzentrieren kannst. Und beeil dich, bevor er dich womöglich
noch entdeckt.«
»Und bevor ich die Zeit finde, womöglich zu genau
darüber nachzudenken, was ich gerade tue, und dadurch erst recht
danebenwerfe?« Snail schenkte Valerius ein bekümmertes Lächeln.
Valerius entgegnete nichts mehr, sondern drängte das Krähenpferd
stattdessen ein wenig zur Seite, um dem Burschen nicht die Sicht zu
stehlen. Von seiner Linken hörte er Longinus leise einige Befehle
murmeln und sah, wie Connas Halbflügel eine glatte Kehrtwende
vollzog. Kurz darauf hoben sich aus ihren Reihen sirrend drei
Speere in die Luft und zielten auf das linke Ende der
Veteranenreihe. In genau diesem Augenblick drehte der ehemalige
Zenturio, der erst kürzlich wieder das Zeichen seiner früheren
Division auf seinen Schild gemalt hatte, den Kopf und brüllte
seinen Männern abermals einen harschen Befehl zu.
Snails Speer stach in hohem Bogen in Richtung der
Wolkendecke empor, war kaum mehr als ein verschwommener grauer
Streifen vor dem ein wenig heller getönten Grau des Himmels. Einen
Wimpernschlag lang schwebte seine Waffe fast waagerecht in der
Luft, schien geradewegs auf ihr Ziel zuzusteuern. Dann aber brach
die Flugbahn des Speeres ab, er fiel nach rechts und traf somit
nicht den Mann, sondern dessen Schild. Doch was dem Wurf an
Zielgenauigkeit fehlte, das machte er mit der Wucht, die hinter ihm
steckte, wieder wett. Fest biss sich das Eisen in das Rindsleder
und das Birkenholz. Einen Moment lang erbebte der Speer noch unter
der Gewalt des Aufpralls, dann sackte sein hinteres Ende zu Boden
und zog dabei den gesamten Schild mit sich.
Ein von einem Speer durchbohrter Schild ist
gefährlicher, als wenn ein Mann gar keinen Schild trägt, denn ein
solcher Schild lastet nur noch als zusätzliches Gewicht an einem
ohnehin bereits müden Arm, lässt sich nur noch langsamer wieder
anheben - von der schwierigen Handhabung eines solchen Schildes mal
ganz zu schweigen. Jeder, der in seinem Leben bereits mehr als eine
Schlacht überlebt hatte, wusste das. Noch ehe das Vibrieren des
Hefts also aufhörte, hatte der ehemalige Zenturio den Schild auch
schon von sich geschleudert und war vorwärtsgestürmt zu dem sich
vor ihm auftürmenden Haufen von Leichen und weggeworfenen Waffen.
Nur einen winzigen Moment später und ohne den Befehl dazu erhalten
zu haben, folgten ihm insgesamt vier seiner Männer, je zwei zu
jeder Seite, um ihren Anführer zu schützen.
»Vorwärts!«
Longinus und Valerius brüllten ihren Befehl wie mit
einer einzigen Stimme. Und die langen Tage des Trainings trugen
offenbar endlich Früchte. Die Reihe der jungen Krieger, die zu Fuß
kämpften, preschte voran. Sie rannten zu zweit, jeweils mit ihrem
Schildkameraden an ihrer Seite, wobei der Linke stets darauf
achtete, dem Rechten den Rücken zu schützen, damit dieser
ungestraft seinen Schlag gegen den Feind ausführen konnte.
Valerius drängte das Krähenpferd unterdessen immer
weiter zwischen die Veteranen, bis ihm plötzlich wieder Snail
einfiel. Er wagte es, einen raschen Blick zurückzuwerfen. Der Junge
war zu einer unansehnlichen, grünlich erbleichten Silhouette
erstarrt, die übergroßen Augen derweil fest auf Valerius gerichtet,
voller Fragen, die Valerius jedoch nicht klar erkennen
konnte.
»Jetzt komm!« Gegen sämtliche Regeln des
Krieges wandte Valerius dem Feind seinen Rücken zu. Longinus befand
sich bereits im Herzen der Schlacht und ritt stetig näher auf den
Zenturio zu. Valerius konnte Longinus spüren, so wie er auch Corvus
hatte spüren können, sodass sich inmitten des haltlosen Chaos, das
ihn umgab, plötzlich ein Gefühl der Geborgenheit über ihn zu legen
schien. Die Flanke des Halbflügels aber, den er befehligte, war
noch immer ungeschützt und konnte so Opfer unvorhergesehener
Angriffe werden. Valerius musste seine jungen Krieger nun
schleunigst und um jeden Preis wieder schützen.
»Snail! Geh zurück oder komm nach vorn. Aber schlag
da keine Wurzeln!« Er hatte sich fast heiser geschrien, während er
in dem vergangenen halben Monat stets das Gleiche wiederholt hatte.
Nämlich dass der Schlüssel zum Überleben in einer Schlacht darin
lag, immer in Bewegung zu bleiben. Das hatte Breaca ihn bereits
gelehrt, noch ehe auch nur einer von ihnen beiden jemals einen
echten Kampf gesehen hatte, und auch Corvus und Civilis und jeder
andere Kommandeur, der diesen Titel verdiente, hatten stets
gepredigt: Behaltet den Feind im Auge. Ihr müsst wissen, wer
sich hinter euch befindet, müsst wissen, wer sich vor euch
befindet, müsst wissen, wer rechts und wer links von euch postiert
ist. Und bleibt niemals stehen, außer, ihr seid zur Seite hin von
den Schilden eurer Kameraden geschützt und habt im Rücken eine
feste Mauer.
Doch in diesem Augenblick hätte Valerius
wahrscheinlich genauso gut Thrakisch sprechen können. Denn Snail
war noch immer wie gefangen in jener Welt aus Angst und
Zweifeln, die nur er sehen konnte. Wie erblindet
blickte er einfach bloß geradeaus und erwiderte dann: »Ihre
Schilde. Du hattest uns gesagt, dass wir, wenn wir uns nicht sicher
wären, ob wir einen von ihnen töten könnten, immer auf ihre Schilde
zielen sollten. Und genau das habe ich getan.«
»Ja, genau das habe ich euch gesagt. Und genau
daran hast du dich ja auch gehalten. Prima, gut gemacht.« Das
Krähenpferd hatte begonnen, an der Trense zu reißen, es sprang
aufgeregt hin und her und drehte sich hektisch um seine eigene
Achse, denn auch das Tier hatte in gewisser Weise begriffen, wie
unsicher es war, in einer Schlacht einfach auf der Stelle stehen zu
bleiben.
In den Reihen der Kämpfenden hatte der Zenturio
sich unterdessen einen neuen Schild gegriffen. Die vier Männer, die
ihn während dieses riskanten Unterfangens geschützt hatten, standen
nun Rücken an Rücken, sodass ein jeder von ihnen durch den jeweils
anderen gedeckt war. Und in genau dieser Haltung bewegten sie sich
Stück für Stück und wie im Krebsgang zurück in ihre Reihe. Der Rest
der Veteranen kämpfte sich unterdessen nach vorn, um den Kameraden
entgegenzukommen.
Plötzlich zerrissen gellende Schreie die Luft, und
ein jeder dieser Schreie erzählte seine ganz eigene Geschichte.
Drei der Jugendlichen im Zentrum waren verwundet worden, starben
womöglich gerade, und auch Longinus brauchte dringend Hilfe.
»Snail, jetzt entscheide dich«, drängte Valerius.
»Das musst du schon selbst tun, das kann ich dir nicht abnehmen.
Wenn du nicht mehr weiterkannst, zieh dich aus dem Kampf zurück.
Und du brauchst dich dafür auch nicht zu schämen. Denn mit einem
Schwert in der Kehle wärst du uns letztendlich keine große Hilfe
mehr.«
»Breaca ist tot.«
»Was?« Valerius wirbelte herum und ließ den
Blick über den Westen schweifen, von wo aus ihm dichter Rauch
entgegenwehte.
Dünne Finger klammerten sich um sein Handgelenk,
dünn wie Vogelklauen schienen sie ihm die Haut zu zerreißen und
zerrten ihn zurück. Unter Tränen entschuldigte sich der Junge:
»Conna... es tut mir leid. Ihr Name war natürlich Conna... Der
Zenturio hat sie umgebracht. Das ist allein meine Schuld.«
Energisch löste Valerius die mageren Finger von
seinem Arm. Conna. Er versuchte, sich den Namen in sein Gedächtnis
einzubrennen, auf dass er ihn niemals mehr vergessen würde.
»Nein, es ist nicht deine Schuld«, widersprach er
dem Jungen. »Und ich habe dir schon einmal gesagt, dass es für das,
was in einer Schlacht passiert, niemals einen Schuldigen gibt.«
Suche niemals nach einem Schuldigen, während du kämpfst. Und
auch vorher nicht und auch nicht danach. Vor allem aber nicht in
der Hitze einer Schlacht. Gib einfach dein Bestes. Wenn Freunde und
Geliebte sterben, dann gibt es nichts mehr, was du daran noch
ändern könntest. Kämpfe stattdessen einfach um dein eigenes
Überleben, damit du später um die Opfer trauern kannst.
Und auch das hatte Valerius seinen Kriegerschülern
bereits gepredigt, viel zu oft. Und die Jugendlichen des
Kriegsheeres, die sich dafür entschieden hatten, unter seiner
Führung kämpfen zu wollen, hatten ihm auch aufmerksam zugehört.
Stets hatte sich bei diesen Ermahnungen für einen Moment grimmiges
Schweigen über ihre kleine Gruppe gelegt, wenn die jungen Männer
und Frauen glaubten, Valerius bereits verstanden zu haben. Doch
noch während er sprach, hatte er gewusst, dass er mit seinen
Ermahnungen im Grunde bloß seinen Atem verschwendete. Keiner entkam
lebend aus seiner ersten Schlacht, ohne sich nicht doch in einem
gewissen Maße für das, was er getan oder aber versäumt hatte,
schuldig zu fühlen. Die echte Abhärtung kam erst später, wenn die
Zahl derer, die den Tod gefunden hatten, so groß war, dass man sie
schon gar nicht mehr zählen konnte.
Unerwarteterweise stellte Valerius nun fest, dass
es ihm im Herzen wehtat zu wissen, dass dieser entsetzte, zitternde
junge Bursche wohl niemals jenen Punkt erreichen würde, an dem er
die Zahl der Toten nicht mehr zählen könnte.
Doch das Heer der Krieger war nicht das Heer Roms,
Valerius konnte also keine Befehle mehr erteilen, sondern nur noch
Ratschläge geben. Und entsprechend wurde seinen Empfehlungen
zuweilen auch Folge geleistet, zuweilen aber auch nicht. In dem
Versuch, seine gesamte Autorität nun in seine Stimme zu legen,
erklärte er: »Snail, geh zurück hinter die Barrikade. Du musst
überleben. Ich hab schließlich noch einiges mit dir vor.«
Dann aber blieb Valerius keine Zeit mehr, noch
länger auf den Jungen einzureden, in der Hoffnung, dass dieser ihm
endlich zuhörte. Denn sie kämpften hier gegen Männer, deren Beruf
es war zu töten und die das Chaos auf einem Schlachtfeld mit der
gleichen Schnelligkeit und Professionalität zu deuten wussten, wie
sie am Abend bei einem Brettspiel die Augen auf ihrem Würfel
zählten. Und genau diese Männer hatten nun gerade beobachtet, wie
Valerius einen Befehl erteilt hatte. Und Snail wiederum war von
Anfang an als sein Standartenträger zu erkennen gewesen - der
Träger einer Standarte, an die die ehemaligen Legionare sich nur
noch allzu gut erinnerten.
»Valerius!« Irgendjemand brüllte seinen Namen, doch
er erkannte die Stimme nicht wieder.
Dann, einen kurzen Augenblick später, schrie
Longinus in der Sprache der Thraker: »Valerius! Speere!«
Noch immer hielt Valerius die Standarte. Das Heft
fest in der Hand, beugte er sich vornüber, das Gesicht in die
schwarze Mähne und den heißen Schweiß des Krähenpferdes gepresst.
Mit seiner freien Hand hatte er Snail am Genick gepackt und drückte
diesen nun ebenfalls fest gegen den Hals des Tieres.
Er spürte, wie ein feiner, eisiger Luftzug an ihm
vorbeihauchte, hörte den Atem von fliegendem Eisen, das in seiner
Reinheit schließlich von dem hässlichen Geräusch zerreißenden
Fleisches überlagert wurde. Dann vermischte sich Blut mit dem
Schweiß, der an seinem Gesicht entlangrann. Das Krähenpferd stand
so still, als ob es in Stein gemeißelt sei. Allein das Zittern, das
unter Valerius’ Hand durch den Hals des Hengstes lief, verriet, wo
ein Stück unterhalb seiner Mähne der Speer in seinen Hals
eingedrungen war.
Valerius hatte bereits viele Pferde im Krieg
verloren, aber noch nicht so viele, dass er sich daran bereits
gewöhnt hätte. Und besonders dieses Pferd liebte er von ganzem
Herzen. Eine Woge der Panik drohte, ihm die Gewalt über seine
Gedärme zu rauben. Unmittelbar darauf aber folgte auch schon der
zweite Schock, nämlich der Gedanke daran, was ein solcher Verlust
seiner Selbstkontrolle, und dies auch noch mitten auf einem
Schlachtfeld, wohl seinem Ruf antäte. Vorsichtig richtete er sich
wieder auf und ließ den Jungen los.
»Snail, du musst jetzt wieder zurück. Und um Conna
trauern wir dann, wenn... Runter!«
Achtlos ließ Valerius die Standarte in den Schlamm
fallen, denn er wusste nur zu gut, dass der erste Speer, der
eigentlich einem von ihnen beiden gegolten hatte, nur durch Zufall
sein Ziel verfehlt und stattdessen den Hengst getroffen hatte. Im
Übrigen hatten die Götter ihn nicht im Geringsten vorgewarnt vor
dem, was ihm nun offenbar drohte. Weder Nemains leise Stimme war
erklungen noch das Brüllen des Bullen Mithras’. Ein Teil von
Valerius grämte sich über die scheinbare Missachtung, mit der seine
Gottheiten ihn zu strafen schienen. Ein anderer Teil seines
Bewusstseins aber hatte sich schon längst wieder auf den Kampf
konzentriert, und mit energischer Geste riss er sein Schwert aus
dessen Scheide, ließ das Krähenpferd auf der Hinterhand kehrt
machen und schuf sich dadurch Platz. Platz, um mit seinem Schwert
ausholen zu können, um zustechen zu können, um Snail vor dem
Zenturio und dessen vier Leibgarden zu schützen. Und überhaupt -
weshalb, in Mithras’ Namen, waren diese fünf Halunken eigentlich
immer noch am Leben?
Trotz aller Bemühungen allerdings war Valerius
mittlerweile der Ansicht, an Snails Schicksal ohnehin nicht mehr
viel ändern zu können, dass dieser schon bald mit dem Tod dafür
bezahlen müsste, dass er sich ganz einfach fürchtete, dass er noch
zu jung war und vor Kummer wie gelähmt.
Ohnehin gab es für Valerius in den nächsten
Augenblicken sowieso nur das eine Ziel, sich irgendwie im Sattel zu
halten und dadurch zunächst einmal sein eigenes Überleben zu
sichern. Denn das Krähenpferd, das nun ebenfalls vom wahren
Kampfgeist gepackt wurde, explodierte regelrecht in dem Verlangen,
nun alles und jeden um sich herum mit seinen Hufen einfach kurz und
klein zu schlagen.
Es war Jahre her, seit das Tier zuletzt in einer
Schlacht verwundet worden war. Valerius hatte schon ganz vergessen,
wie es sich anfühlte, dieses Pferd zu reiten, wenn der Blutdurst es
gepackt hatte. Es war ein Gefühl, als befände er sich mitten auf
dem Ozean in einem tosenden Unwetter und als würden geradewegs
unter seinem Sattel und in einer riesigen Kabbelung die Wogen
zusammenprallen, es war, als hätte sich unter ihm mit Blitz und
Donnergrollen ein Sturm entfesselt. Das Tier richtete sich auf der
Hinterhand auf und hieb wild mit den Vorderhufen durch die Luft, es
keilte nach allen Seiten aus, es trampelte wütend durch den Schlamm
und biss in alles, was sich ihm in den Weg stellte. Keiner der
Veteranen, die das Tier noch aus jenen Zeiten kannten, als es auf
ihrer Seite gekämpft hatte, traute sich, nun nach dem Krähenpferd
zu schlagen.
Plötzlich verlor einer der Männer das
Gleichgewicht, rutschte mit dem Kopf voran durch den
blutdurchtränkten Schlamm und starb. Sofort hob der Zenturio einen
der am Boden liegenden Speere auf und schleuderte ihn mit ganzer
Kraft von sich. Snail schrie auf.
Valerius versuchte, seinen spontanen Impuls zu
bezähmen und sich nun nicht nach dem Jungen umzusehen. Und dennoch
raubte ihm Snails Schrei für die Dauer eines Herzschlages die
Aufmerksamkeit, sodass er mit dem nächsten Atemzug bereits spürte,
wie dicht an seiner Schulter ein Schwert herabsauste. Allein das
Krähenpferd, das, ohne den Befehl dazu erhalten zu haben,
unvermittelt zur Seite sprang, rettete Valerius’ Leben. Gleich
darauf versuchte ein anderer Veteran, ihn mit einem rückhändigen
Schwerthieb niederzumetzeln, Valerius aber parierte den Angriff und
schlug zurück. Die Wucht hinter diesem Hieb raubte ihm für einen
Augenblick jegliches Gefühl in seinen Fingern. Schließlich tötete
irgendjemand anderer den Mann, gegen den er gerade kämpfte; er
glaubte, dass es Knife gewesen war, war sich aber nicht
sicher.
Das Krähenpferd war unterdessen bereits wieder
herumgewirbelt, um sich einem neuen Angreifer zu stellen, dem
Zenturio. Und im Gegensatz zu seinen Kameraden hatte dieser Veteran
keine Angst vor dem Hengst.
Stattdessen sprang er mit einem Grinsen an dem Tier
vorbei und zielte mit einem neuen Speer auf Valerius’ Oberschenkel.
»Du hättest auf unserer Seite bleiben sollen, du zweifacher
Verräter. Womöglich hätten wir dich sogar am Leben gelassen.«
Mittlerweile hatte das Kampffieber Valerius und
sein Pferd zu einer untrennbaren Einheit zusammengeschweißt. Die
Gedanken des einen mündeten in die Taten des anderen. Gemeinsam
vollführten sie abermals eine Kehrtwende und starrten dem Zenturio
in die Augen. Das Krähenpferd erhob sich auf die Hinterhand. Hastig
wich der Mann zurück und riss seinen Schild empor. Dann wagte er
sich wieder ein Stückchen vorwärts und schlug, gerade, als die Hufe
des Krähenpferdes wieder festen Boden berührten, mit der Kante des
Schildes brutal gegen dessen Vorderbeine.
Der dröhnende Schlag, mit dem Holz auf Knochen
traf, war geradezu Übelkeit erregend. Valerius hatte das Gefühl,
als ob seine eigenen Arme soeben zerschmettert worden wären. Das
Pferd stieß ein dumpfes Röcheln aus und geriet ins Taumeln, stürzte
jedoch nicht. Dann schrie es schrill seinen Zorn und seinen Schmerz
hinaus und spie dabei große, weißliche Speichelbrocken über alle,
die sich gerade in seiner Nähe befanden. Valerius spürte, wie der
rötliche Nebel des echten Kampffiebers langsam seinen Blick zu
verschleiern schien, und rang innerlich darum, nun die Nerven zu
behalten. Denn ein Zuviel an Wut und Zorn konnte einen Mann genauso
schnell das Leben kosten, als wenn er zu wenig Kampfwillen besaß.
Der Zenturio lachte nur und schleuderte Valerius einen weiteren
Speer entgegen, wollte ihn damit offensichtlich noch mehr
anstacheln.
Nur allzu gerne hätte Valerius seinen Gegner nun
gelehrt, ihn nicht derart zu verhöhnen, doch für derlei persönliche
Machtkämpfe war im Moment nicht die Zeit. Überall um Valerius herum
hatten sich mit einem Mal Pferde versammelt, obwohl er vor wenigen
Augenblicken noch der einzige berittene Krieger im Kampf gegen die
Gruppe von Veteranen gewesen war.
Und dann entdeckte er auch Longinus wieder. Sein
Freund lebte und schien noch immer fest und sicher im Sattel zu
sitzen. »Steinschleuderschützen!«, schrie der Thraker. »Hierher!«
Was jedoch aus Valerius’ Sicht überhaupt keinen Sinn ergab, denn
die Steinschleuderer bildeten die Nachhut von Breaca, und die
wiederum befand sich doch irgendwo ganz am anderen Ende der
Stadt.
Dann aber wurde er eines Besseren belehrt und
musste mit eigenen Augen mit ansehen, wie das scheinbar Unmögliche
geschah. Denn schon sauste ein Schleuderstein pfeifend geradewegs
an Valerius’ Gesicht vorbei und tötete den Zenturio. Es war ein
sauberer Schuss genau auf den Nasenrücken, sodass Knochen und
Knorpel sich zu Brei vermischten und der Blick aus den Augen des
Mannes langsam brach. Unmittelbar darauf traf ein zweiter Stein
jenen Mann, der soeben noch die Linke des Zenturios gesichert
hatte. Schließlich ließ Valerius seinem Hengst die Zügel schießen
und erlaubte ihm, den dritten der Männer des Zenturio mit einem
gezielten Tritt seines Vorderhufes zu töten. Den vierten aus der
Leibgarde des Veteranenführers tötete Longinus mit einem
Schwertstoß in den Rücken und schüttelte gerade noch betrübt den
Kopf über eine solch feige Tat, als plötzlich das Durcheinander des
Schlachtfelds in blindes Chaos auszuarten schien. Die Veteranen
flohen, wurden aber gleich darauf verfolgt von einer ganzen Horde
kampferprobter Krieger, von denen wiederum ein jeder so geschickt
mit seinem Speer, seiner Schlinge und seinem Schwert zu töten
verstand, dass sie allesamt längst den Überblick darüber verloren
hatten, wie viele Menschenleben sie schon ausgelöscht hatten. Vor
allem kümmerten diese Krieger sich nicht mehr im Geringsten darum,
ob sie einem Mann noch von Angesicht zu Angesicht in die Augen
gesehen hatten, ehe sie ihn töteten, oder ob sie ihn ganz einfach
von hinten niederstreckten.
Mit einem Mal war die Schlacht vorüber. Und sie
hatte so gut wie keine Opfer gefordert. Mit Ausnahme von jenem
einen verletzten Jungen, der aber, falls er nicht zwischenzeitlich
an seinen Wunden verstorben sein sollte, schon bald ordentlich
versorgt werden würde. Und auch das Pferd würde, sobald Valerius es
wenigstens wieder halbwegs unter Kontrolle gebracht hätte,
selbstverständlich ebenfalls mit der ihm gebührenden Sorgfalt
versorgt werden. Das heißt, falls es seinen Pflegern dies denn
gestatten sollte.
Langsam beruhigte Krähe sich wieder, und Valerius
steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Doch seine Hände
zitterten, unbeholfen hantierte er herum, und es dauerte ein wenig,
ehe er die Waffe endlich in deren Futteral versenkt hatte. Dann
atmete er einmal tief durch, versuchte, wieder zu sich zu finden,
und wagte es schließlich sogar, einen raschen Blick über seine
Umgebung schweifen zu lassen.
Longinus war bei Snail, was bedeutete, dass
Letzterer wohl noch am Leben war. Zwischen den beiden und Valerius
hatte sich derweil ein kleiner, drahtiger Krieger aufgebaut. Quer
über sein Gesicht, von der Nase bis zum Ohr hinüber, verlief eine
flache, breite Brandnarbe, und in seinem Haar trug er eine
einzelne, mit einem feinen Silberdraht geschmückte
Kriegerfeder.
Kaum, dass er Valerius’ Blick aufgefangen hatte,
hob der Neuankömmling kritisch eine Braue. Schließlich verkündete
er: »Bei uns im Westen ist es noch immer Brauch, uns bei denen, die
uns das Leben gerettet haben, zu bedanken.«
Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Madb
ist übrigens auch hier. Und wenn du es schaffst, dich noch daran zu
erinnern, wer ich bin, führe ich dich sogar zu ihr.«
Seine Stimme hatte den melodischen Tonfall der
Stämme des Westens. Und seine Körperhaltung verriet, wie stolz er
darauf war, schon so viele Feinde getötet zu haben, dass er diese
schon gar nicht mehr zählen konnte. Daher war es für Valerius zwar
in der Tat schwer, aber keineswegs unmöglich, sich wieder an jenen
Jungen zu erinnern, der dieser Mann einst gewesen war und der
damals, genauso wie Snail heute, ebenfalls eine Standarte für einen
Mann hatte tragen müssen, dem er nicht vollkommen vertraute. Ganz
anders als Snail jedoch hatte dieser Mann sich dann dennoch mit
einem solchen Heldenmut in die Schlacht gestürzt, dass er von da an
richtiggehend Gefallen fand am Töten. Und besonders Letzteres war
der Grund, weshalb Valerius seine Überraschung darüber, den
drahtigen Kerl hier auf dem Schlachtfeld zu entdecken, schließlich
kaum mehr verbergen konnte.
»Du bist Huw von den Silurern. Fünfter Cousin
mütterlicherseits von Caradoc. Wie könnte ich jemals den besten
Steinschleuderschützen von Mona vergessen?« Valerius spürte, wie
ihm der Mund trocken wurde, und schluckte. »Aber was machst du hier
im Osten, während Suetonius Paulinus zwei komplette Legionen und
vier Kavallerieflügel auf die Zerstörung Monas angesetzt hat? Ist
die Insel etwa schon verloren? Sind wir zu spät, um die Zerstörung
Monas noch zu verhindern?«
»Vielleicht sind wir bereits zu spät, kann schon
sein. Aber das bezweifle ich. Und wir wurden von keinem Geringeren
ausgesandt als von Luain mac Calma persönlich. Er meinte, du
bräuchtest ein paar Krieger, die bereits gelernt hätten, wie man
kämpft, um damit ein Gegengewicht zu dem leider nur allzu jungen
Kriegsheer der Bodicea zu bilden.«
»Tja, und bestimmt werdet ihr mittlerweile erkannt
haben, dass Luain mit seiner Einschätzung völlig richtig lag. Aber
was passiert jetzt auf Mona? Wird Paulinus den Angriff etwa doch
nicht wagen?«
»Als wir aufbrachen, stand der Angriff auf Mona
unmittelbar bevor. Aber mac Calma hat schließlich die Träumer und
die Götter auf seiner Seite. Wozu braucht er da noch uns Krieger,
wenn wir stattdessen hier in Camulodunum die Römer niedermetzeln
können?« Huw ließ den Blick über die rings um ihn herumliegenden
Leichen schweifen. Dann schaute er wieder zu Valerius auf. »Obwohl
es wahrscheinlich besser gewesen wäre, wir wären noch ein wenig
eher hier eingetroffen. Dein verrücktes Pferd hat übrigens eine
stark blutende Wunde am Hals, und der Schlag gegen seine
Vorderbeine hat ihm das Fleisch über den Knochen zerquetscht. Doch
da ich es vorziehe, dass mein Schädel noch für ein Weilchen heil
bleibt, biete ich dir nun nicht an, dir bei der Versorgung deines
Tieres zu helfen. Aber Nydd müsste hier irgendwo in der Nähe sein.
Natürlich hat sein Hass auf dich keineswegs nachgelassen, aber auch
seine Liebe zu deinem Pferd ist noch nicht erloschen. Und er ist
ziemlich talentiert, was das Heilen von Wunden angeht. Vielleicht
hilft er dir ja, wenn du ihn darum bittest.«
»Danke. Falls ich tatsächlich seine Hilfe brauchen
sollte, werde ich ihn selbstverständlich darum bitten«, entgegnete
Valerius gedankenverloren und schaute an dem Krieger vorbei und
genau dort hinüber, wo Longinus Snail gerade von dessen gescheckter
Stute hinunterhalf. Dann sah er ein Stückchen nach rechts, wo eine
Frau mit schiefergrauem Haar und den blassen Augen einer Dohle sich
auf den Hals eines rotbraunen Wallachs stützte und ihn, Valerius,
mit durchbohrendem Blick anstarrte.
Mit heiserer Stimme sagte Valerius: »Madb?« Kurz
darauf erhielt er als Antwort ein knappes Nicken.
Das Krähenpferd hatte sich mittlerweile wieder
weitgehend beruhigt, sodass man es schließlich sogar wagen konnte,
es zu den anderen Tieren hinüberzuführen. Gemeinsam bahnten
Valerius und sein Hengst sich einen Weg durch das wahre Meer an
Kriegern, die sich hier versammelt hatten.
Die Frau mit den Dohlenaugen besaß ein sehr
markantes Gesicht und hatte breite, pflockähnliche Zähne. Grinsend
bleckte sie Valerius ihr Gebiss entgegen. »Es war schön, dein Pferd
mal wieder kämpfen zu sehen. Ich dachte schon, der Hengst wäre dazu
mittlerweile zu alt und du hättest ihn vielleicht schon auf die
Zuchtkoppeln verbannt.«
»Eher würde dieses Tier sich kopfüber in die
nächste Koppelhecke stürzen und sich damit selbst umbringen, als
dass es zuließe, dass irgendwo ein Krieg ohne seine Anwesenheit
stattfände.«
Dann streckte er die Hand aus und umschloss den
Unterarm der Frau in jenem Gruße, wie er bei den Einwohnern
Hibernias üblich war. Das Gefühl, das ihn bei dieser Geste
durchströmte, war eine ungewöhnlich angenehme Empfindung.
Schließlich fuhr er fort: »Madb von Hibernia, das Herz wird mir
warm vor Freude, dich zu sehen, selbst wenn du mal wieder in einem
Krieg kämpfst, der genau genommen nur mein Krieg ist und dich
eigentlich überhaupt nichts angeht. Und, bist auch du auf Luain mac
Calmas Befehl hier, oder hat dich dein eigener Kopf zu uns
geführt?«
Entsetzt starrte sie ihn an. »Wie du sehr wohl
weißt, nehme ich grundsätzlich keine Befehle von einem Mann
entgegen. Aber ich hatte gehört, dass Braint auf dem Weg gen Osten
sei, und da dachte ich mir, dass es doch sicherlich schön wäre,
euch beide mal wieder zu sehen. Ist schließlich schon eine Weile
her, seit ich zuletzt einen Mann habe kämpfen sehen und dabei Musik
in meinem Kopf erklang.«
»Freut mich, wenn dir bei meinem Anblick auch noch
ein musikalischer Genuss zuteil wurde. Mir dagegen dröhnte eine
regelrechte Kakophonie durch den Kopf, ein Wirrwarr an Stimmen von
all den Männern, denen ich früher einmal meinen Respekt gezollt
habe und die mich nun dafür verfluchten, dass ich mich mitten in
einer Schlacht um einen verletzten Jungen sorgte. Aber immerhin
scheint der Bursche noch am Leben zu sein, was gut ist.«
»Du meinst den Jungen auf der braungescheckten
Stute?« Madb ließ den Blick über Valerius’ linke Schulter schweifen
und nickte. »Der wird jetzt für eine Weile erst mal nicht mehr
kämpfen können, aber das ist vielleicht auch das Beste für ihn. Der
ist einfach nicht geschaffen fürs Kämpfen, nein, der nicht. Bei
deinem thrakischen Kavalleristen dagegen liegt die Sache ganz
anders. Ich hätte nicht gedacht, dass der jetzt schon wieder so
weit auf den Beinen ist, um reiten zu können, geschweige denn, auch
noch ein Schwert zu schwingen. Und auch was ihn betrifft, war es
ein echtes Vergnügen, ihm beim Kämpfen zusehen zu dürfen.«
»Danke.« Longinus hatte ihre lobenden Worte gehört,
was aber auch ihre Absicht gewesen war. Er lebte, war zudem auch
noch gänzlich unverletzt und einfach bloß verdreckt von den durch
die Luft spritzenden Gedärmen fremder Männer und dem Blut eines
verwundeten Jungen. Gerade war er damit fertig geworden, Snail eine
Schlinge aus einem zerrissenen Wollumhang um den Hals zu knoten.
Anschließend half er ihm, langsam wieder aufzustehen. Prüfend ließ
Longinus den Blick einmal über die gesamte Länge des Krähenpferdes
schweifen, dann musterte er Valerius. »Wir sind ganz eindeutig aus
der Übung gekommen«, stellte er missbilligend fest.
»Das steht wohl außer Frage. Aber mit jedem
weiteren Kampf wird sich das wieder geben. In jedem Fall sollten
wir uns nun in Bewegung setzen, ehe die Flammen uns erreichen. Ich
will, dass die Verwundeten sich hinter den äußeren Graben
zurückziehen. Der Rest soll mit uns und unserer neuen Kavallerie
kommen und weiter vorrücken.«
Wieder einmal hatte er den lateinischen Ausdruck
für Kavallerie, turma, verwendet. Diese Unart würde er wohl
nie mehr gänzlich ablegen. Grinsend blickte Longinus ihn an und
verdrehte die Augen.
Madb spie seitlich in den Schlamm. »Wenn Braint das
hört«, warnte sie ihn, »macht sie aus deiner Haut eine
Pferdedecke.«
»Das macht sie wahrscheinlich sowieso. Bittet sie
noch immer jede Nacht ihre Götter um die Gnade, mich endlich tot
sehen zu dürfen?«
»Kann schon sein. Ich frag sie nicht, was sie
nachts macht. Aber ich weiß, dass sie zumindest am Tage sehr
gewissenhaft ihre Gebete spricht, laut und so, dass jeder sie hören
kann. Und in diesen Gebeten bittet sie in der Tat immer darum,
endlich an der Seite der Bodicea und deren Tochter Cygfa kämpfen zu
dürfen, jener blondschöpfigen Tochter, die kämpfen soll, als würden
die Götter persönlich ihre Waffe führen. Hätte der Vorsitzende des
Ältestenrats von Mona Braint darum gebeten, wäre sie
selbstverständlich auf der Insel der Götter geblieben und hätte
notfalls auch ihr Leben dafür geopfert. Und trotzdem ist sie
überglücklich, dass sie nun endlich hier sein darf. Sie hat sich
dem Trupp deiner Schwester angeschlossen, der im Westen der Stadt
kämpft, dort, wo die Flammen am höchsten lodern. Im Übrigen umfasst
Breacas Heer nun nicht weniger als fünfhundert Pferde.«
»Fünfhundert?« Wie ein Fisch im Sommer, so machte
auch Valerius’ Herz nun einen freudigen Satz. »Dann haben wir
bereits mehr als einen kompletten Kavallerieflügel zusammen. Und
dieser Flügel ist bestimmt mindestens so stark wie fünf
Kavallerieflügel unseres Feindes.«
Trotz all seiner Begeisterung hatte Valerius mit
dieser Einschätzung sogar beinahe recht. Denn die Krieger, die
ursprünglich für Mona gekämpft hatten, waren die besten Kämpfer,
die die Stämme hatten mustern können, und sie alle waren
aufgewachsen und ausgebildet worden auf jener Insel, die die
Legionen bis jetzt noch nicht hatten einnehmen können.
Valerius drängte das Krähenpferd ein Stückchen zur
Seite, um Platz zu machen, damit Longinus wieder auf sein Tier
steigen konnte. Dann wandte er sich um und ließ den Blick über die
Menge der Krieger schweifen. Er sah einige bekannte Gesichter,
Gesichter, die im Laufe der Schlachten gealtert und von Narben
durchfurcht worden waren, deren Augen weise schauten und die
gelassen, doch hartnäckig Valerius’ neugierigen Blick erwiderten.
Nicht alle von ihnen sahen ihm mit einem grüßenden Lächeln
entgegen. Genau genommen waren die freundlichen Mienen sogar
ziemlich spärlich an der Zahl. Doch immerhin machte auch keiner das
Zeichen zur Abwehr des Bösen oder spuckte in den Wind, um seinem
Blick auszuweichen.
Die meisten von ihnen schauten stattdessen einfach
in Richtung Westen, dorthin, wo gerade die Stadt in Flammen
aufging. Breacas Feuer hatten mittlerweile enorme Ausmaße
angenommen: Eine lang gestreckte Mauer aus Flammen sandte
unaufhörlich dunkle Rauchwolken in den Himmel, und das gesamte
westliche Stadtviertel von Camulodunum schien wie mit einem
Schleier verhüllt.
Valerius erhob die Stimme, um auch den Letzten
seiner Truppe zu erreichen, und verkündete: »Die Veteranen haben
eine Feuerschneise geschlagen, um das Krankenhaus, das Theater und
den Tempel vor den Flammen zu schützen. Die, die noch vom Feind
übrig sind, werden sich also mittlerweile dorthin zurückgezogen
haben. Und vor den Flammen mögen sie ja auch sicher sein - aber
nicht vor uns. Vor der Feuerschneise werden wir also mit der
Bodicea und mit Ardacos zusammentreffen, jenem Krieger, der den
Eceni und der Insel Mona die Bärinnenkrieger geschickt hat. Und
gemeinsam werden wir zerstören, was noch von Roms Hauptstadt in
unserem Lande übrig ist.«
Allgemeines Gemurmel ertönte, und fast schon klang
es, als zollten die Krieger Valerius damit ihre Anerkennung.
Energisch trieb Valerius das Krähenpferd voran. Der Hengst hatte
sich mittlerweile beruhigt, und auch die Wunde an seinem Hals
blutete nicht mehr. Links von Valerius ritt Longinus und lachte
gemeinsam mit Nydd, ganz so, als hätten sie ihre letzte Begegnung
bereits vergessen - damals, auf einem Schlachtfeld, jeder mit einem
Schwert in der Hand und auf gänzlich gegnerischen Seiten. Zu
Valerius’ Rechter sang Madb derweil in rollendem Hibernisch eine
schwungvolle Kriegsweise und ließ ihr Pferd im Rhythmus ihres
Liedes traben.
Ein Stückchen hinter Valerius hatte Huw aus dem
Stamme der Silurer, der beste Steinschleuderer von ganz Mona, die
Standarte mit dem roten Stier aus dem Schlamm aufgehoben und trug
sie nun wieder genauso, wie er es früher schon einmal getan hatte,
damals, in den Bergen, und unter einem wesentlich kräftiger
wehenden Wind als dem jetzigen. Knife von den Eceni, der
bemerkenswert gut gekämpft hatte und dafür später unbedingt eine
Belobigung erhalten musste, befehligte unterdessen die Krieger, die
zu Fuß in die Schlacht zogen, und ließ sie in einer ordentlichen
Formation hinter sich hermarschieren.
Ohne auch nur einem einzigen Widersacher zu
begegnen, ritten Valerius und seine Vertrauten durch jene blutnasse
Straße, die sie zum Zentrum von Camulodunum führte. Mit dem
flatternden Banner des Bullen Mithras’ vor dem Grau von Mona
geleitete er seine Krieger der trüben Morgensonne entgegen, und er
spürte, wie ihm eine Last von den Schultern genommen worden war,
von der er zuvor noch gar nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt
existierte. Er fühlte sich leichter und, erstaunlicherweise, sogar
jünger.
Solange er sich zurückerinnern konnte, war dies das
erste Mal, dass er wirklich glücklich war.