XXXVII
Blank poliertes Metall reflektierte die Sonne,
spiegelte die Reflexion der Sonne, reflektierte die Reflexion der
Reflexion, auf dass immer mehr Sonnen zu entstehen schienen - und
raubte einem damit regelrecht das Augenlicht.
Mitten im Hochsommer und dies auch noch zur
Mittagszeit ritt Corvus gen Süden. Vor ihm marschierten zwei
komplette Infanterielegionen, jeder der Männer trug seine
vollständige Rüstung, und eine wahre Wolke von Fliegen umkreiste
gierig die Schweißtropfen auf seinem Gesicht.
Am liebsten hätte er sich eine Augenbinde angelegt,
um das unerträglich grelle Licht auszusperren. Außerdem wollte er
sich Baumwolle in die Ohren stopfen, um das dumpfe Dröhnen der
beschlagenen Stiefel zu dämpfen, um endlich nicht mehr das
unablässige Scheppern und Klirren der Rüstungen hören zu müssen und
diese verfluchten, schier nicht enden wollenden Marschgesänge der
Kohorte, die wie immer weit jenseits der richtigen Tonlage in den
Tag gegrölt wurden. Er wollte jede einzelne Fliege in der Provinz
von Britannien persönlich töten, um sich dann auf ewig an den
kühlen Wassern von Bergbächen zu laben, die durch schattige Täler
hindurch in einen See plätscherten, der so versteckt lag, dass
allein die feinen Strahlen des Mondes zu ihm vorzudringen
vermochten. Er wollte wieder durch die Meerenge vor Mona schwimmen,
wünschte sich, wieder in der Festung der Zwanzigsten Legion leben
zu dürfen oder auch in Camulodunum, selbst wenn diese Stadt
mittlerweile nur noch aus Schutt und Asche bestand. Jeder Ort auf
dieser Welt wäre ihm jetzt lieber gewesen als diese schattenlose
Straße, auf der vor ihm je sechs Legionare in einer Reihe mit
doppelter Marschgeschwindigkeit durch den Staub stapften, gefolgt
von einem fast ebenso schnellen Gepäckzug, während er selbst
sozusagen den reißzahnbewehrten Schwanz der Schlange zu
symbolisieren hatte, um sicherzustellen, dass die Nachhut am Ende
des Marschtrupps auch tatsächlich effektiv zuschlagen würde, wenn -
nicht: falls - sie angegriffen wurden. Corvus bedauerte es
zutiefst, jemals seine Zustimmung zu dieser Strategie gegeben zu
haben. Und er hasste den Mann, wer auch immer dieser sein mochte,
der dem Gouverneur überhaupt erst von diesem möglichen Vorgehen
erzählt hatte und ihn dann auch noch dazu ermunterte, in genau
dieser Formation durch das Land zu marschieren.
Die Hitzewelle quälte sie alle nun schon den
dritten Tag in Folge. Die Erinnerungen an die Stürme zu Beginn des
Jahres waren gänzlich aus dem Bewusstsein der Männer gewichen, und
auch das Land selbst hielt keinerlei Reminiszenzen an diese kühle
Jahreszeit mehr bereit. Zudem waren die Schwärme von Fliegen eine
derartige Plage, dass diese schon nicht mehr in Worte zu fassen
war. Fast genauso schlimm wie die Fliegen aber war der grobkörnige
Staub, der die Luft regelrecht zu verklumpen schien und sich fest
in die Mähne und das Geschirr von Corvus’ rotbraunem Schlachtross
grub. Doch er rieselte auch über Corvus’ Nacken und seinen Rücken
hinab, sammelte sich um dessen Taille herum und krümelte
schließlich sogar in das Gebiet jenseits der Gürtellinie hinab. Ein
andauerndes Gefühl des Scheuerns war die Folge, und mittlerweile
konnte Corvus sogar bereits das Blut durch die Haut dringen spüren,
wo sein Gürtel das Kettenhemd an den Körper presste. Wohl schon zum
hundertsten Mal während dieses Ritts kontrollierte er die
Unterseite der Satteldecke und redete sich ein, dass seine
Lieblingsstute dadurch immerhin nicht ganz so sehr zu leiden hätte
wie ihr Reiter.
Er trank etwas Wasser aus dem ledernen Schlauch,
goss dann ein wenig davon in seine Hände, rieb sich das Gesicht ab
und beugte sich schließlich vor, um die Stute aufmunternd mit der
nassen Hand zwischen den Ohren zu kraulen. Hastig verscheuchte er
einige Fliegen und redete dem Pferd unterdessen gut zu: »Es ist
schon nach Mittag. Das Schlimmste haben wir hinter uns. Geh einfach
brav weiter, dann wird alles wieder gut.«
Schon seit gut zwei Tagen war das Tier der
Hauptadressat für Corvus’ Reden, genauer gesagt seit jenem Moment,
als die nordwärts strebende kleine Reisegruppe des Gouverneurs auf
die in Richtung Süden stampfenden Legionen getroffen war, welche
wiederum eskortiert wurden von dem noch verbliebenen Rest der
Quinta Gallorum, Corvus’ Flügel.
Das Zusammentreffen wurde beiderseits mit Freude
aufgenommen, und die Wiedereingliederung von Suetonius Paulinus’
persönlicher Reisebegleitung in ihr angestammtes Heer verlief gar
unter lauten Jubelrufen. Allerdings dauerte es nur einen knappen
Tag, bis Corvus schon nicht mehr wusste, was er Sabinius eigentlich
noch erzählen sollte - Sabinius, der Standartenträger, der in
Abwesenheit seines Kommandeurs dessen Kavallerieflügel angeführt
hatte. Alles in allem betrachtet schien die Stute also ein
wesentlich lohnenderer Gesprächspartner zu sein, denn sie
widersprach Corvus nicht, und selbst ihr augenscheinlich
zustimmendes Wiehern ertönte nur höchst selten, wohingegen Sabinius
zu weitschweifigen Antworten neigte und auch dazu, seinem
Befehlshaber offen zu widersprechen. Im Übrigen eskortierte er nun
schon seit rund zwanzig Jahren die kaiserlichen Legionen durch
feindliches Gebiet und wusste von daher allzu genau, wie unendlich
lang ein solcher Tag werden konnte, und dass das Schlimmste -
entgegen Corvus’ Behauptung - höchstwahrscheinlich noch lange nicht
ausgestanden wäre. Der Standartenträger grunzte folglich nur,
verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und versuchte, durch die
flimmernde Hitze hindurch den Kopf der Marschtruppe auszumachen.
»Ihr habt mir noch gar nicht gesagt, wie weit wir eigentlich noch
in den Süden vordringen wollen«, wandte er sich an Corvus. »Denn
wenn die Brücken von Vespasian und Verulamium tatsächlich bereits
beide zerstört sind, gibt es da unten doch im Grunde gar kein Ziel
mehr für uns.«
»Sabinius, ich habe dir nur deshalb noch nicht
erzählt, worauf wir zuhalten, weil ich es selbst nicht weiß. Und
ich glaube, noch nicht einmal Paulinus könnte uns das sagen. Ein
mögliches Ziel könnte das Land westlich der Brücke sein. Vielleicht
findet sich da ja irgendein Weg, wie wir doch noch über den Fluss
gelangen könnten. Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen,
dass wir überhaupt noch so weit kommen werden. Wir marschieren hier
gerade einer feindlichen Armee entgegen, die selbst nach sehr
vorsichtigen Schätzungen bestimmt fünfzehntausend, wenn nicht sogar
an die zwanzigtausend Krieger umfasst. Wir dagegen haben weniger
als siebentausend Mann. An welchem Schauplatz wir auf sie treffen,
dürfte meiner Meinung nach einerlei sein. Fest steht in jedem Fall,
dass wir ihnen begegnen und dass ihre Späher, wenn wir in dieser
Formation weiterwandern, uns bestimmt schon einen halben Tag im
Voraus entdecken werden, ohne dabei auch nur ansatzweise in unsere
Nähe kommen zu müssen. Auf diese Weise angelockt, werden uns die
Krieger also irgendwann einfach gegenübertreten, sodass wir uns
wenigstens nicht auf die Suche nach ihnen zu machen brauchen. So
bekommt Paulinus also doch noch seine letzte, ruhmreiche
Schlacht.«
»Und wir sinken dann allesamt in unseren
ruhmreichen Tod.« Gedankenverloren schlug Sabinius nach einer
Bremse. Anschließend hob er den Blick in den strahlend blauen
Himmel. »Hoffentlich überlebt wenigstens einer, damit der dann eine
Nachricht nach Rom entsenden kann.«
»Paulinus hat einige Brieftauben bei sich, die mit
seinem Bericht über all jene, die wegen ihres Mutes belobigt werden
sollen, sogar bis nach Gallien fliegen werden. Unsere Namen werden
also ganz gewiss in den Annalen des Senats verewigt.«
»Falls die Falken der Träumer unsere Tauben nicht
vom Himmel pflücken und sie auffressen, noch ehe die Tiere es auch
nur in die Nähe von Gallien geschafft haben.«
»Vielen Dank für diesen Einwand. Aber du hast
recht. Immer vorausgesetzt natürlich, die Tauben schaffen es
überhaupt bis nach Gallien.«
Genau dies war der Grund, weshalb Corvus
vorzugsweise zu seinem Pferd sprach - es war ganz einfach weniger
deprimierend.
Schweigen breitete sich aus zwischen Sabinius und
Corvus. Die vor ihnen herstapfenden noch verbliebenen vier Kohorten
der zusammengeschrumpften Zwanzigsten Legion stimmten ein neues
Marschlied an. Ihre Truppe umfasste noch nicht einmal mehr
zweitausend Mann, und diese waren zudem alles Veteranen, die schon
so manchen Feldzug durchlitten hatten. Die jungen oder zumindest
noch nicht ganz so betagten Legionare waren bereits ausgesiebt -
die Träumer von Mona hatten diese entweder kurzerhand in der
Meerenge ertränkt oder sie mit Hilfe von Krankheit und Albträumen
vernichtet. Folglich gehörten alle, die jetzt noch lebten, zu den
Besten und Leistungsfähigsten, die die Legion zu bieten hatte.
Bedauerlicherweise aber stimmten diese Männer schon seit gut zwei
Jahrzehnten immer wieder die gleichen, althergebrachten Melodien
und Rhythmen an - wenngleich sie diese immerhin Winter für Winter
mit stets neu erdichteten Strophen unterlegten.
Das neue Lied stimmten zunächst nur sehr wenige
Kehlen an. Es dauerte einen Moment, bis diejenigen, die mit dem
Text vertraut waren, diesen bis in die hintersten Reihen der
Kolonne vermittelt hatten. Dann aber ging alles überraschend
schnell, und in nur wenigen Augenblicken hatten sämtliche knapp
zweitausend Mann in den Gesang mit eingestimmt und brüllten aus
Leibeskräften, um ihren Gesangsgegner - die vor ihnen marschierende
Vierzehnte Legion - zu überschallen.
Entgegen besseres Wissen horchte Corvus auf die
zunehmend sinnbildenden Liedfetzen, die ihm durch die dichten
Staubwolken entgegenhallten. Es war ein komplizierter,
fortgereihter Reim, in dem sowohl die Hitze als auch der Staub
ebenso wie die aufständischen Wilden ihre Erwähnung fanden, was den
Legionaren schließlich aber durch einen einzigen Blick in die
großen braunen Augen eines Jungen aus Alexandrien wieder vergolten
würde.
Selbst ein Mann wie Corvus, den sein fast dreißig
Jahre währender Dienst in den Legionen bereits zu einem wahren
Zyniker geformt hatte, musste zugegeben, dass dies ein äußerst
geschickt strukturiertes Lied war, und ein ehrlich amüsiertes
Grinsen breitete sich über sein Gesicht, während er der Darbietung
erstmals in ihrer vollen Länge lauschte. Sogar nach der zweiten und
dritten Wiederholung lächelte er noch. Dann aber, nachdem ihm zum
zehnten oder zwanzigsten Mal der gleiche Text entgegenschallte,
sehnte er sich abermals nach ein wenig Baumwolle zum Schutz für
seine Ohren. In Ermangelung eines solchen Lärmschutzes ließ er
seine Gedanken irgendwann einfach fortschweifen bis hin nach
Alexandrien, wo es zurzeit gewiss noch heißer war als in jenem
Land, durch das Corvus gerade ritt. Und staubiger wäre es dort
auch, und mit Sicherheit lauerten dort mehr tödliche Intrigen und
Aufständische auf jene, die versuchten, das nicht zu Regierende zu
regieren, als hier in Britannien.
Im Übrigen jedoch ließen sich, zumindest nach
Corvus’ Erfahrung, derlei Gefahren und Entbehrungen nicht so
einfach durch einen Blick in die großen braunen Augen eines -
irgendeines - Jungen wieder wettmachen. Wenngleich es da natürlich
auch in Corvus’ Erinnerung einen gewissen Mann mit braunen Augen
gegeben hatte. Und dachte Corvus über diesen Mann etwas genauer
nach, so kam er zu der Erkenntnis, dass dieser und alles, was er
Corvus geschenkt hatte, sogar einen Großteil von Corvus’ Lebensweg
mitbestimmt hatte, sodass man das Endergebnis schließlich womöglich
doch als eine Art Vergeltung für die erlittenen Qualen bezeichnen
könnte. Zumindest, wenn man die ganze Entwicklung unbedingt aus
einem solchen theatralischen Blickwinkel betrachten wollte.
In Corvus’ Vorstellung flog eine kleine bronzene
Statue aus seinem Marschgepäck auf und erhob sich mit sanften
Flügelschlägen über das fast schon an eine Fata Morgana erinnernde
Bild, welches die marschierenden Männer von oben betrachtet
abgaben. Das eine, aus schwarzem Gagat gefertigte Auge des Horus
schien Corvus zuzublinzeln und verwandelte sich dann in das Auge
eines Alexandriners, dessen Blick stets voller Weisheit und
Fürsorge gewesen war und der viel zu früh hatte sterben müssen. Der
Vogel des Horus stieg hoch in die Lüfte, bis von ganz oben
plötzlich die Stimme jenes Alexandriners herabschallte: Was
nützt es einem Mann, wenn er versucht, den Göttern gleich zweier
verschiedener Welten zu dienen?
So hatte er schon immer gesprochen, Corvus’
einstiger Vertrauter, hatte einen in seiner leicht obskuren
Ausdrucksweise stets vor neue Rätsel gestellt, mit einer Stimme,
die so glatt war wie Quecksilber und süß wie Ambrosia. Die
Antworten auf seine Fragen ließen sich im Übrigen nie dort finden,
wo man sie als Erstes vermutet hätte.
Fest entschlossen, nun nicht in Tränen
auszubrechen, ließ Corvus seine Gedanken weiterschweifen, bis diese
irgendwann wieder bei jenem schwarzäugigen, ernsten und
nachdenklichen Jungen aus dem Stamme der Eceni anlangten. Corvus
dachte an den qualvollen Weg, den dieser Junge hatte zurücklegen
müssen, um schließlich den Rang eines Offiziers in der römischen
Kavallerie bekleiden zu dürfen, erinnerte sich zugleich aber auch
an die Wildheit, mit der dieser zu kämpfen pflegte und für die man
ihn auf beiden Seiten des in Britannien wütenden Krieges fürchtete.
Schließlich rief man ihn in Rom als Verräter aus, weil er den
Fehler begangen hatte, sich mit Eid und Ehre an einen Kaiser zu
binden, der schon wenige Tage später sterben sollte.
Corvus dachte an den Mann, zu dem dieser Junge sich
schließlich entwickelt hatte, und an den Anblick, den dieser
geboten hatte an jenem bewussten Tag, als er auf seinem
schwarz-weiß gescheckten Hengst thronte mit dem Prokurator von ganz
Britannien zu dessen Hufen. Blanke Mordlust war in diesem Moment in
den Augen des einstigen Eceni aufgeflammt, und in seinem Herzen
hatte eine seltsame, nie zuvor an ihm wahrgenommene Glut
geschwelt.
An sein Schlachtross gewandt, murmelte Corvus:
»Aber Valerius hat sich doch Mithras, dem Stiermörder, verschworen.
Und auch wenn er die Welt, in der er Mithras begegnete, weit hinter
sich zurückgelassen hat, so dient er doch nur diesem einen Gott.
Die Götter der Eceni würden Valerius also ohnehin nicht als ihren
Diener annehmen.«
Aber warum denn nicht?
Seine Stute legte noch genau fünf Schritte zurück,
während der Corvus in seiner stillen Träumerei verharrte, als seine
Welt mit einem Mal so jählings in Stücke zerbrach wie ein Glas, das
gegen eine weiße marmorne Wand geschleudert wurde. »Sabinius! Gib
Alarm, und zwar sowohl an die Truppen vor uns als auch hinter
uns!«
Corvus erkannte seine eigene Stimme kaum wieder.
Scheinbar aus dem Nichts hatte er plötzlich wieder zu jener
scharfen Artikulation und Klarheit gefunden, wie sie ihm
normalerweise nur am frühen Morgen zu eigen waren, ebenso, wie er
plötzlich wieder von jener sicheren Gewissheit geleitet wurde, mit
der er sonst lediglich auf dem Höhepunkt einer Schlacht
agierte.
Sabinius’ Standarte neigte sich zweimal nach vorn
und zweimal nach hinten. Ein Trompeter der Infanterie nahm das
Signal auf und ließ es in Richtung der Spitze des Zuges durch die
Reihen erschallen. Ein Zweiter gab die Ansage in einer leicht
versetzten Tonlage wieder zurück. Und jeder der siebentausend
Männer, der Gouverneur mit eingeschlossen, wusste in diesem
Augenblick, von wem der Befehl kam und wer dafür bestraft werden
würde, sollte sich das alles schließlich als ein fataler Fehlalarm
herausstellen.
Corvus schaute sich um. Das Trugbild, das er soeben
noch gesehen hatte, war wieder verschwunden, und an seiner statt
sah er nun abermals das Heer von Legionaren.
Schon verhallte der Gesang, die Männer rückten
ihre Tornister zur Seite, lösten die römischen Kurzschwerter und
hoben die Füße fortan mit neu gewonnener Elastizität und wieder
deutlich höher als noch wenige Augenblicke zuvor. Schweigen hatte
sich über die Kolonnen gesenkt, undurchdringlich wie ein
Schild.
In Corvus’ Nacken kribbelte es unbehaglich.
Schweißnass klammerte er die Hände um die Zügel und sah sich mit
einem Mal wie mit vollkommen verändertem Bewusstsein um. Die Straße
verlief auf einem kleinen Wall, so, wie alle von Rom angelegten
Verkehrswege. Das rechts und links daran angrenzende Land lag brach
über eine Entfernung von etwa einem Speerwurf, hätte darüber hinaus
aber noch über weitere drei Speerwurflängen bis auf den nackten
Torfboden gerodet werden sollen. Früher einmal mochte dies auch der
Fall gewesen sein, denn zweifellos waren wenigstens linkerhand die
Bäume bis an die in einiger Entfernung ansteigenden Hügel hin
gefällt worden. Im vergangenen Jahr jedoch waren die Männer der
Legionen mit anderen Aufgaben beschäftigt gewesen als mit der
Sicherung der Verkehrswege. Das Land hatte sich also bereits wieder
in ein wahres Durcheinander aus frisch nachgewachsenem Grün
verwandelt, welches eine so große Fläche bedeckte, dass sich darin
nicht nur die halbe Marschtruppe, sondern mit Leichtigkeit auch
noch einmal so viele Krieger hätten verbergen können.
Doch das Umland sah nicht zu beiden Seiten gleich
aus. Links erhob die Marsch sich sanft bis zu einer kleinen, mit
dichtem Gebüsch bewachsenen Hügelkuppe. Rechterhand fiel das
Gelände ungleich steiler ab, und man hatte die Bäume bis fast
unmittelbar an die Straße heran stehen lassen. Die Ingenieure waren
offenbar der Ansicht gewesen, dass die Krieger nicht hügelaufwärts
angreifen würden.
Corvus sah dies im Übrigen genauso. Die Gefahr
konnte also nur von links kommen. Angestrengt ließ er den Blick
über die Nesselgewächse schweifen und die blühenden Disteln,
musterte das mit grünen Beeren bestückte Dorngestrüpp und die
Holunderbüsche, und sah doch nichts. Dafür aber spürte er umso
eindringlicher den Hass und die Erregung, die ihm entgegenschlugen,
sowie die Bereitschaft, jeden Augenblick anzugreifen. Corvus zog
sein Schwert und verlagerte den Schild von seiner Schulter hinab an
seinen Unterarm.
Sabinius tat es ihm nach: »Valerius?«, fragte
er.
»Ich glaube nicht. Ich denke, ich würde es wissen,
wenn er hier wäre...« Corvus schüttelte den Kopf. »Ja, ganz
bestimmt würde ich es wissen. Valerius ist nicht hier. Und trotzdem
ist da jemand... sehr viele sogar. Sie beobachten uns,
warten...«
Ihre Blicke schienen Corvus regelrecht zu
durchbohren. Seine Eingeweide krampften sich zusammen, und fast
dachte er, sich übergeben zu müssen, aber dieses Gefühl beschlich
ihn eigentlich immer, wenn er in einen Hinterhalt ritt.
Sabinius spie auf die Straße. »Sie werden
versuchen, uns von hinten nach vorne Reihe für Reihe zu
massakrieren. Genauso, wie sie es auch mit der Neunten Legion
angestellt haben.«
»Ich weiß. Aber unser Anführer ist schließlich kein
Idiot. Und die Schlange, zu der er uns formiert hat, verbirgt in
ihrem Schwanz einen Stachel, wie ihn die Wilden noch nicht
kennengelernt haben.«
In gewisser Weise war es eine regelrechte
Erleichterung, endlich wieder aus dem Marschrhythmus ausbrechen und
handeln zu dürfen. Corvus’ rotbraune Stute vollführte eine perfekte
Drehung auf der Hinterhand und tänzelte anschließend kampfbereit
auf der Stelle. Laut genug, damit auch die Männer in seiner näheren
Umgebung ihn hören konnten, sagte Corvus zu Sabinius: »Du hast von
nun an das Kommando über die ersten beiden Truppen. Und verteidigt
auf alle Fälle das Gepäck und die Lasttiere, ganz egal, was es auch
kosten mag. Denn ich habe nicht vor, die heutige Nacht unter freiem
Himmel zu verbringen, selbst wenn dir das vielleicht gefallen
würde. Ich werde jetzt ans hintere Ende reiten, um dort Ursus und
Flavius zu unterstützen.«
Auch Flavius und Ursus waren bereit zum Kampf.
Letzterer hatte sogar bereits die unmittelbar neben ihm reitenden
zwei Dutzend Männer als Flankenreiter abkommandiert. In
Zweierpaaren hatten die meisten von ihnen sich links des Heeres
formiert, wobei sie sich versetzt angeordnet hatten, sodass nur
jeder Zweite unmittelbar an der Frontlinie ritt, sein Schildkamerad
aber ein Stückchen zurückversetzt folgte. Auf diese Weise schützten
die an der Innenkante Aufgereihten die Seiten und Rücken ihrer
Partner, während die außen reitenden Legionare jeweils die andere
Seite und die Front ihrer Kameraden verteidigten.
Flavius hatte das Kommando über die Bogenschützen
übernommen. Seit dem letzten Herbst hatte die Quinta Gallorum ein
Dutzend berittener Bogenschützen aus Skythien in ihre Reihen
aufgenommen, wenngleich sie dieser Luxus einen geradezu
wahnwitzigen Betrag kostete. Außerdem kleideten die Skythen sich
nur in Seide, was dazu führte, dass sie sich fast täglich über die
Kälte beschwerten. Natürlich beklagten sie auch den Matsch, und
immer wieder musste das gesamte Heer auf sie warten. Nicht zuletzt
bekamen sie von dem nur für sie tätigen Koch auch noch heißes,
gewürztes Rindfleisch serviert, Oliven und vorzüglichen Wein. Und
sie trainierten nur im Verborgenen, sodass während ihrer Übungen
überall um sie herum Legionare darauf achten mussten, dass sich ja
keine feindlichen Späher an sie anschlichen. Nun aber war der
Augenblick gekommen, da man ihre Dienste endlich einmal in Anspruch
nehmen könnte, um sie gegen einen vollkommen unvorbereiteten Feind
einzusetzen. Jetzt zeigte sich, dass die Unsummen von Geld und die
Hätscheleien es also doch wert gewesen waren, und nicht ein
Einziger unter den Legionaren missgönnte den Bogenschützen auch nur
eine Olive.
Flavius, als der Verantwortliche für das Wohl und
Wehe der skythischen Bogenschützen, hatte eine geradezu persönliche
Zuneigung für diese fremdländischen Männer entwickelt, was wohl
jenem Gefühl glich, das auch der atrebatische Hundepfleger für die
blauhäutigen Hunde des Gouverneurs empfand. Zumal sowohl der
Hundeführer als auch Flavius ihre Schützlinge aus exakt demselben
Grund liebten: Sie machten ihre Beschützer zu jemand Besonderem.
Flavius hatte sich sogar die Zeit genommen, ein wenig die Sprache
der Skythen zu lernen, was deutlich mehr war, als irgendeiner der
anderen Soldaten unternommen hatte, um mit den Fremden ins Gespräch
zu kommen. Und klar wie eine Glocke brüllte er ihnen nun seine
Befehle entgegen.
Genauso wie die Hunde des Gouverneurs, so sehnten
sich auch die Reiterbogenschützen danach, endlich aus dem Trott des
Marsches ausbrechen zu dürfen und zum Angriff überzugehen. Kaum
dass Flavius’ erster Befehl ertönte, spannten sie die Sehnen an
ihren kleinen, doch meisterhaft geschwungenen Bogen und wählten
sich ihre Pfeile aus den Köchern an den Schultern ihrer Tiere.
Leise und unauffällig legten sie ihre Pfeile auf die Kerben, sodass
möglichst keiner der lauernden Krieger von ihren Vorbereitungen
erfuhr.
Der Rest der Truppe ritt in gemäßigtem Tempo
einfach weiter. Keiner wandte sich um oder deutete gar ins Gebüsch,
und man tat auch sonst nichts, das die Aufmerksamkeit der Feinde
hätte auf sie ziehen können. Ihre Anweisungen, was derlei
Situationen betraf, waren absolut unzweideutig. Geschützt wurden
sie zu beiden Seiten von den Flankenkavalleristen, die die Order
erhalten hatten, notfalls ihr Leben zu lassen, um damit ihr Heer zu
schützen.
Gemäß dem Befehl, den er soeben an die Legionare
ausgegeben hatte, ritt Corvus nun zügig bis ganz ans Ende des
Zuges, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzuschauen. Flavius
salutierte nachlässig und entbot Corvus damit weniger den
vorgeschriebenen Gruß, sondern mehr eine freundschaftliche Geste,
während Ursus ihm lediglich knapp zunickte. Ihn bewegte die gleiche
Frage wie auch Sabinius, nur dass Ursus sie mit noch weniger
Feingefühl hervorbrachte: »Ist es Valerius? Denn falls er es ist,
dann weiß er zumindest, was wir mit ihm anstellen werden, und vor
allem auch, wie wir es mit ihm anstellen werden.«
»Nein, es ist nicht Valerius. Der ist nicht hier.
Und trotzdem könnte er es gewesen sein, der den letzten halben
Monat damit zugebracht hat, jene zu trainieren, die nun hier auf
uns lauern.«
»Was sollen wir also tun?«
»Sie niedermetzeln«, entgegnete Corvus mit
grimmiger Miene. »Und beten, dass Valerius nichts von den
Bogenschützen weiß. Die Schützen sollen sich strikt auf die linke
Seite konzentrieren, denn von dort aus droht die ärgste
Gefahr.«
»Das ist Corvus, jener Mann, den Valerius auf den
Hügeln über Lugdunum gesehen hat. Er ist der Anführer der
Kavallerie. Und er ist ein Freund der Bodicea.«
»Er war auch einst der Seelenfreund von Valerius,
und fast alle auf Mona kennen seinen Namen.«
Cunomar lag an der Seite von Braint in einem
Dickicht aus etwa bis auf Scheitelhöhe reichenden Nesseln. Einen
halben Speerwurf von ihnen entfernt verlief die Straße. Selbst als
sie den Angriff auf die Neunte Legion lanciert hatten, war Cunomar
dem Feind nicht so nahe gewesen wie jetzt. Er konnte sehen, wie der
Schweiß den Männern in kleinen Bächen über ihre Gesichter lief, wie
er schwarzen Rinnsalen gleich über die Hälse der Pferde tropfte. Er
sah die Sandschicht, die Fliegen und die dumpf blickenden Augen von
Männern, die schon seit Tagen in forschem Marschtempo durchs Land
eilten und noch zahlreiche weitere solcher Tage vor sich hatten. Er
hörte stampfende Füße und die geradezu hirnverbrannt klingenden
Marschlieder und bemühte sich angestrengt, nicht allzu genau
hinzuhören, sondern sich stattdessen auf etwas anderes zu
konzentrieren, sodass der plötzliche Trompetenstoß ihn entsetzt
auffahren ließ. Er fluchte leise und presste sich wieder an den
Erdboden.
Braint war nicht erschrocken zusammengezuckt,
selbst dann nicht, als Corvus seine rotbraune Stute seitlich
herumwirbeln ließ und deren Hufe dabei fast Braints Gesicht berührt
hätten. Von sämtlichen der mit Kalkfarbe bemalten und mit grauem
Fett eingeschmierten Bärinnenkrieger unter Cunomars Führung war sie
die Einzige, die keine Kriegsbemalung angelegt hatte und auch fast
keinen Schmuck trug. Stattdessen hatte sie nur eine einzelne, mit
einem schmalen Band umwickelte Feder in ihr Haar geknotet. Die
Feder stammte aus dem Bürzel eines Wanderfalken. Zudem trug sie an
einer Kordel aus Pferdeleder zwei Eckzähne von einer Wildkatze um
den Hals. Ihr Haar hatte sie mit Staub und Schlamm nach oben
gestrichen, sodass es aussah wie ein umgedrehter Torfsoden. Was den
Rest ihres Körpers betraf, so war ihre Haut nach einem Sommer
voller Sonne und Wind von einer kräftigen Bräune überzogen und ganz
matt von dem Staub, den die marschierenden Männer aufwirbelten. Und
schon lange, ehe die erste Truppe der ersten Kohorte der ersten
Zenturie der Vierzehnten Legion vorbeigestampft war, hatte Braint
sich in nicht mehr als einen von vielen Schatten inmitten des
Dickichts von Brennnesseln verwandelt.
Schweigend und reglos lag sie da, schien die
Fliegen gar nicht wahrzunehmen, und nicht ein einziges Lächeln
hatte Cunomar über ihr Gesicht huschen sehen - abgesehen von jenem
Moment, als er verkündet hatte, die Legion schon ein wenig eher,
also vor dem Dazustoßen der anderen Krieger, angreifen zu
wollen.
Er erinnerte sich wieder an die Geschichten, die
seine Mutter ihm von Braint erzählt hatte, wie diese während ihrer
Kindheit auf Mona gewesen wäre und wie sie sich später dann während
der Invasionsschlachten gezeigt habe. Zudem hatte Breaca ihm von
Braints Kummer über den Tod ihres Cousins erzählt und die neu
gewonnene Lebensenergie, als sie die Phase der Trauer schließlich
überwunden hatte. Braint war zu einer solch furchtlosen Frau
herangewachsen, dass sie sogar eine komplette Truppe der Gallischen
Kavallerie in den Tod gelockt hatte, indem sie ihren Körper als
Köder einsetzte.
Das innere Feuer, das Braint zu einer solchen Tat
angetrieben haben mochte, war noch immer in ihr zu erkennen, doch
seine Hitze hatte auch den Kummer und die Fähigkeit, sich zu
freuen, verbrannt, sodass die Kriegerin sich schließlich zu einem
Menschen entwickelt hatte, der so unbeugsam war wie Eisen. In jedem
Fall aber war sie ganz zweifellos eine gute Kämpferin, vielleicht
sogar eine hervorragende. Langsam kam Cunomar zu der Erkenntnis,
dass Braint somit - von den Mitgliedern seiner eigenen Familie
einmal abgesehen - womöglich die beste Kriegerin war, der er je
begegnet war.
Ohne sich dabei zu regen, sagte sie nun von
Cunomars Linker her: »Mac Calma hatte recht. Sie haben
Bogenschützen dabei. Sieh doch.«
Vier komplette Reihen von Kavalleristen ritten an
ihnen vorbei, und aufmerksam musterte Cunomar die Männer, sah
jedoch nichts. Dann erhaschte er einen flüchtigen Blick auf das mit
purpurroten Federn bewehrte Ende eines Pfeilschafts, erkannte
schließlich den gesamten Pfeil und auch den Bogen sowie den
dunkelhäutigen Mann mit der Hakennase, in dessen Händen Pfeil und
Bogen ruhten. Nun, da Cunomar den ersten der Bogenschützen entdeckt
hatte, war es leichter, auch die anderen auszumachen. »Zwölf«,
sagte er. »Sie reiten also tatsächlich alle in diesem einen
Zug.«
Braint hatte ihm bereits am Abend zuvor, als die
Feuer der Legionen noch nicht mehr gewesen waren als einige heiße
Punkte am Horizont, von der im Verborgenen lauernden Gefahr
berichtet. Ihr eigenes Feuer bestand aus lediglich drei schwach
glühenden Kohlen in einer kleinen Bodensenke. Dicht hatte Braint
sich über die bescheidene Glut gebeugt, sodass Cunomar ihr Gesicht
rötlich aufleuchten sah, und ihm anschließend erklärt: »Luain mac
Calma hat drei Informanten unter den silurischen Spähern im
Dienste der Legionen. Aber sie berichten ihm nur
dann etwas, wenn sich ganz besondere, neue Umstände ergeben, und
auch das wird Luain nur über einen Mittelsmann weitergegeben.
Sollte uns also tatsächlich die unverfälschte Wahrheit erreicht
haben, dann haben sie ein Dutzend dunkelhäutiger Bogenschützen
erspäht, die sowohl eine Taube vom Himmel schießen können als auch
den sie verfolgenden Falken, um sich dann blitzschnell umzudrehen
und sowohl einen Hasen als auch den ihn jagenden Hund zu töten,
selbst wenn beide in komplett unterschiedliche Richtungen streben.
Die Bogenschützen beherrschen all dies nicht nur im Stehen, sondern
auch im Sitzen oder auf dem Rücken eines Pferdes. Und sie treffen
ihr Ziel in jeder nur erdenklichen Richtung.«
»Wie weit können sie denn schießen?«, hatte Cunomar
Braint daraufhin gefragt.
»Zwei Speerwurflängen, wenn sie die anvisierte
Zielmarke exakt treffen wollen. Und drei Speerwurflängen, wenn sie
auf ein Ziel anlegen, das so groß ist wie ein Krieger.«
»Dann brauchen wir also mehr Krieger, als sie
Pfeile in ihren Köchern haben. Sonst sind wir erledigt, und die
Krieger sind umsonst gestorben.«
»Falsch. Denn mac Calma hat uns zusätzlich zu
seiner Nachricht auch fünf Steinschleuderschützen gesandt. Alles,
was wir also tun müssen, ist, diese Steinschleuderschützen am Leben
zu halten, während sie wiederum die Bogenschützen attackieren. Was
meinst du, ob deine Bärinnenkrieger das wohl schaffen
könnten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Cunomar. »Gegen die
Kavallerie sind wir ganz klar im Nachteil. Wir können zwar auf sie
losstürmen und den Pferden die Fersensehnen durchschneiden, aber
das kostet uns zwangsläufig auch etliche Kriegerleben. Dann könnten
wir natürlich noch Speere schleudern, doch ich denke, dass die
Bogenschützen trotzdem schneller sein werden als wir. Und wir
könnten versuchen, sie einfach zu überrumpeln, jedoch stellt sich
auch dort das Problem, dass wir nicht genügend Krieger sind, um sie
am Ende tatsächlich allesamt niederzustrecken. Und wenn wir sie
während der Nacht angreifen, müssten wir erst einmal ihre
Schutzwälle überwinden. Außerdem haben die doch spätestens alle
zwei Schritte einen ihrer Wachposten aufgestellt, die zudem noch
achtmal in einer einzigen Nacht ausgetauscht werden und die ganze
Zeit über in höchster Alarmbereitschaft sind. Also, welches
Vorgehen würdest du nun vorschlagen?«
Endlich wandte Braint ihr Gesicht von den Kohlen ab
und schaute Cunomar an. Lange sah sie ihm einfach nur in die Augen.
Ihr Blick war kühl und leidenschaftslos, und die einzige Wärme, die
noch darin zu schimmern schien, stammte von den Kohlen. Es war, als
ob ein Hund einen mit seinem unverwandten Blick anstarrte, eine
Situation, die Cunomar noch nie gefallen hatte. Irgendwann dann
entgegnete sie: »Ich schlage vor, dass du die Bärengöttin um
Unterstützung bittest und dann einfach dem folgst, was sie dir
vorschlägt.«
Genau das tat Cunomar auch, er fragte die
Bärengöttin. Allerdings war die Antwort keineswegs eindeutig.
Sobald der gehörnte Mond am Himmel aufstieg, hatte Cunomar ihr zu
Ehren seinen Tanz begonnen, hatte getanzt, bis er vollkommen
erschöpft war und bis der sanfte Rhythmus von auf die Erde
trommelnden Händen - so dicht am Feind hatten sie es nicht gewagt,
die Schädeltrommeln zu verwenden - ihn aus seinem Körper hob und in
die grimmige Obhut jener Göttin übergab, der er sich mit Leib und
Seele verschworen hatte.
Cunomar hatte ihren heißen, nach Fleisch stinkenden
Atem gerochen, hatte gespürt, wie ihr Fell über sein Gesicht
streifte, und dann hatte er plötzlich gesehen, wie eintausend Bären
gegen eintausend Kavalleriepferde antraten, wie sie die Tiere der
Legionare förmlich zerrissen und letztlich doch nur drei bei diesem
Überfall tatsächlich töteten.
Irgendwo in all dem Chaos starb ein Hirschkalb
zweimal, und eine in sich verschlungene Schlange schlug nach
Cunomars Hinterkopf, sodass er die feinen Löcher spüren konnte, die
ihre Zähne ihm zugefügt hatten.
Später dann hatte Cunomar all dies jenen Kriegern
erzählt, die für ihn auf die Erde getrommelt hatten, in der
Hoffnung, dass wenigstens einer von ihnen einen gewissen Sinn aus
dieser Vision gewinnen könne.
Es war schließlich Ulla gewesen, die verkündete:
»Die Steinschleuderschützen brauchen nur einen kurzen Augenblick.
Sie brauchen lediglich genügend Zeit, um die Bogenschützen
anvisieren und sie töten zu können. Wenn Braint also die
Steinschleuderer anführt, könnten wir so lange für deren Schutz
sorgen. Außerdem steht uns auch noch der gehörnte Gott der Jagd zur
Seite, um uns in unserem Vorhaben zu führen. Und schließlich haben
wir die halbe Nacht vor uns, um die Träume der Bärengöttin in die
Realität umzusetzen.«
Dennoch war Cunomar sich auch nach Ullas
Zusammenfassung der Lage noch nicht ganz sicher, ob dieses Vorgehen
tatsächlich das richtige war. Noch nicht einmal jetzt war er sich
endgültig darüber im Klaren. Er wollte Ruhm und den Tod Roms, nicht
jedoch die totale Auslöschung der Bärinnenkrieger, bloß weil er als
Anführer der Bärinnenkrieger seine wichtigste Pflicht
vernachlässigt hatte, die da lautete, das Leben seiner Krieger zu
schützen.
Doch die Zeit zum Zweifeln war nun verstrichen. Das
Ende der Kolonne war nur noch acht Pferdelängen entfernt, und die
Außenreihe der Legionare ritt so dicht an seinem Kopf vorüber, dass
er im Grunde nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um die Hufe
ihrer Tiere zu berühren.
Cunomar bot der Bärengöttin in diesem Augenblick
nicht weniger dar als seine Seele. Zudem verinnerlichte er noch
einmal den Gedanken, dass das ganze Leben letzten Endes bloß eine
Art Übung war, deren Lehren man so gründlich in sich aufnehmen
sollte, wie man nur irgend konnte. Und dies auch dann, wenn eine
besonders hingebungsvolle Verinnerlichung dieser Lehren bedeutete,
dass man starb - ja, sogar besonders dann, wenn man am Ende
starb.
»Auf geht’s«, flüsterte er und langte nach dem Heft
des Speeres, der quer vor ihm auf dem Boden lag.
»Da! In den Brennnesseln!«, schrie Corvus.
»Irgendetwas hat sich da gerade bewegt!«
Alle zwölf Bogenschützen feuerten ihre Pfeile ab.
Sirrend durchschnitten sie die Luft, während in einer hastigen
Bewegung Seide über Seide glitt. Schwer schlugen die Pfeile in
Fleisch und Knochen.
Irgendjemand, oder irgendetwas, starb unter
Zuckungen. Das Klirren der Rüstungen und das Stampfen der Füße
schien zu verhallen, der Marschlärm entschwand aus Corvus’
Wahrnehmung, Stille breitete sich aus in seinem Kopf. Nur zwei
skythische Worte drangen noch hindurch - Flavius gratulierte den
Bogenschützen.
Dann erweiterte sich Corvus’ Wahrnehmung wieder,
und er blickte Ursus an. »Gütige Götter«, stöhnte dieser mit
heiserer Stimme. »Das war aber knapp. Von der Stelle aus, wo sie
lagen, hätten sie ja beinahe die Pferde berühren können.«
Corvus musste erst einmal schlucken, ehe er etwas
erwidern konnte. »Falls wir nicht gerade bloß ein dösendes
Wildschwein erschossen haben.«
»Aber Wildscheine liegen doch nicht einfach so
irgendwo herum und schlafen, während zwei Legionen geradewegs an
ihnen vorbeimarschieren.« Ursus wartete. Und wartete. Schließlich
hakte er nach: »Oder etwa doch?«
»Vielleicht schon. Zumindest, wenn die Träumer sie
zuvor mit den entsprechenden Pflanzen gefüttert haben. Irgendetwas
stimmt hier nicht. Ich glaube... Vorwärts! Schirmt die
Bogenschützen ab!«
Der Stein sauste geradewegs an seinem Gesicht
vorbei. Eindringlich spürte er den leichten Luftzug. In jenem
winzigen Augenblick, in dem das Geschehen der Welt sich plötzlich
zu verlangsamen schien, glaubte Corvus, sogar die schwarze Farbe
gesehen zu haben, die den Stein umhüllte. Nur zu deutlich wurde ihm
das Ausmaß der Bedrohung bewusst, und selbst seine Seele schien vor
lauter Furcht zusammenzuzucken.
Ein Bogenschütze starb. Ein zweiter wurde an der
Schulter getroffen.
»Rechts! Sie lauern rechts!«
Corvus brüllte aus Leibeskräften. Mit klarem Schall
gab ein Hornbläser das Signal weiter an den Rest der Truppe und die
vor ihnen marschierende Infanterie. Es war ein Akt beispiellosen
Mutes, denn allein durch dieses Signal machte er sich selbst
bereits zum nächsten Ziel und musste denn auch fast unmittelbar
darauf, getroffen von einem Speer und nicht etwa von einem Stein,
sein Leben lassen, im selben Moment, als auch der dritte der
Bogenschützen starb.
Corvus blieb gerade noch genügend Zeit, um den
Namen des Mannes zu rufen und das Versprechen, ihn zu ehren, in der
Hoffnung, dass seine scheidende Seele und die Männer seiner
Zeltgemeinschaft dies noch hören könnten und dass wenigstens einer
dieser Männer überleben würde und sich an seinen mutigen Kameraden
erinnerte. Dann jedoch brach das blanke Chaos aus. Entlang des
gesamten, von Corvus überblickbaren Marschtrupps gingen mit
schrillem Kampfgeheul die Bärinnenkrieger auf die Legionare los,
die Pferde wieherten, Kämpfer brüllten, Frauen kreischten. Ein
einzelner Mann hatte nicht die geringste Chance, sich stimmlich
gegen diese Kakophonie zu behaupten, und allein die Signale der
Trompeten und Standarten vermochten es, noch eine gewisse Disziplin
und Ordnung aufrechtzuerhalten.
Corvus tötete eine Frau mit rotem Haar und brauner
Haut, hielt jedoch nicht inne, um zu sehen, ob er sie kannte, denn
unmittelbar darauf musste er sich unter einem heransausenden Stein
wegducken und zugleich seinen Schild über Ursus halten, der
wiederum seinen eigenen Schild über Corvus hielt. Beide hieben mit
ihren Schwertern verzweifelt um sich, trafen Fleisch und Knochen,
schmeckten Blut, das nicht ihr eigenes war, und das Geschehen der
Welt schrumpfte zusammen auf jenen schier unendlichen Augenblick,
in dem es nurmehr darum ging, das eigene Überleben zu sichern -
sofern man mal davon absah, dass sie zudem auch noch die Infanterie
zu verteidigen hatten und Corvus sich folglich neben dem Kampf um
seine eigene Haut auch noch um den Schutz der Fußsoldaten Gedanken
machen musste.
Mittlerweile fielen die Krieger sowohl von links
als auch von rechts über sie her. Hastig blickte Corvus sich um und
sah einen Trompeter ganz in der Nähe der noch lebenden
Bogenschützen, die, verborgen hinter einem menschlichen
Schutzschild aus Kavalleriesoldaten, angestrengt ihre Pfeile
verschossen. Im Übrigen war jeder Schuss dieser Schützen zugleich
auch ein Treffer, sodass sie sich Schuss für Schuss das Gold und
die Mühen und zuweilen auch die Langeweile, die sie die Truppe
gekostet hatten, redlich verdienten.
»Der Trompeter...«, sprach Corvus mit überdeutlich
akzentuierten Lippenbewegungen an Ursus gewandt. Dieser nickte.
Gemeinsam kämpften sie sich immer näher auf den Mann zu, bis dieser
sie erkannte und sich seinerseits auch auf sie zubewegte, sodass
sie schließlich inmitten von Tod und Blut auf einer Art kleinen
Insel, auf der noch vergleichsweise Ruhe herrschte,
zusammentrafen.
»Gib das Signal zum Schlag der
Doppelschlange.«
Der Mann starrte Corvus einen kurzen Moment lang
an, dann grinste er und stieß in seine Trompete. Klar und hoch wie
eine Lerche schwebten die Töne über die kämpfenden Männer hinweg.
Sie hatten die auf diesen Befehl folgende Angriffstaktik so oft
eingeübt und wiederholt, bis Legionare und Pferde gleichermaßen
verinnerlicht hatten, was sie auf dieses Signal hin zu tun hatten.
Selbst ein Pferd, dessen Reiter bereits gestorben war oder aber die
Kontrolle über seinen eigenen Körper verloren hatte, würde nun
seinem Drill folgen.
Genauso wie der Rest der Tiere, wusste also auch
die rotbraune Stute, was von ihr verlangt wurde. Corvus spürte, wie
sie die Muskeln noch fester anspannte und tief die Luft in ihre
Lungen sog. Dann entdeckte sie vor sich eine Lücke und stürmte mit
einem gewaltigen Satz mitten hindurch. Corvus beugte sich weit im
Sattel vor und drückte sich flach gegen ihren Hals, während er in
der einen Hand sein Schwert hielt und in der anderen seinen Schild,
den er wiederum halb über den Körper des Pferdes breitete und halb
über seinen eigenen, im Vertrauen darauf, dass das Tier ihn gewiss
schon irgendwie aus dem ärgsten Kampfgetümmel hinaustragen
würde.
Ursus folgte dicht hinter ihm, ebenso wie der
Trompeter und eine stetig größer werdende Schar von Corvus’
Männern. Kaum dass er der kämpfenden Menge entkommen war, zog er
das Pferd auch schon herum und spürte den Ruck und die
Erschütterung, als die Stute von der Straße sprang und in einem
großen Bogen davongaloppierte, um die angreifenden Krieger von
hinten zu attackieren. Ursus löste sich unterdessen von Corvus’
Führung und ritt genau in die entgegengesetzte Richtung, nämlich
rechts herum. Jeder zweite der Kavalleristen folgte Ursus, die
anderen Corvus.
Einen Augenblick lang hatte Corvus keine weitere
Verpflichtung, als einfach nur zu reiten. Und genau das tat er auch
und ignorierte die leise, feine Stimme, die aus seinem
Unterbewusstsein zu ihm sprach und die wissen wollte, was das wohl
gewesen sein mochte, das die Bogenschützen als ihr erstes Opfer
erlegt hatten. Womöglich war es doch kein schlafendes Wildschwein
gewesen. Corvus hoffte von ganzem Herzen, dass es nicht ein
gewisser, ihm wohlbekannter Mann gewesen war.
Links der Straße befanden sich weniger Krieger als
auf der rechten Seite. Zudem hatten diese noch keinerlei Erfahrung
im Kampf gegen die Pferde der Kavallerie und starben somit ohne
irgendeine erwähnenswerte Gegenwehr. Da entdeckte Corvus, wie sich
in dem Dickicht zu seiner Linken etwas zu bewegen schien, und
dirigierte sein Pferd geradewegs darauf zu. Der Trompeter folgte,
während er abermals über das hinter ihm kämpfende Heer seine
silbrigen, lerchenhellen Töne erschallen ließ. Und auch Flavius und
zwei seiner Bogenschützen scherten aus der Kampfformation aus und
galoppierten hinter Corvus her.
Kraftvoll hatte Cunomar dem Hirschkalb sein Messer
in die Brust gestoßen. Es starb. Jedoch nur einmal.
Die Wunde, die das Messer hinterlassen hatte, war
recht klein, sodass sie sich leicht mit getrocknetem Gras und Moos
hatte stopfen lassen, damit die vorüberstampfenden Pferde nicht
etwa durch den Geruch nach frischem Blut vorgewarnt würden.
Anschließend hatte Cunomar mit einigen Sehnenstücken sowohl den
Anus als auch die Vorhaut des Tieres zugenäht, damit auch aus
diesen Körperöffnungen keinerlei verräterische Flüssigkeiten und
Gerüche austreten konnten. Dann hatte er dem Tier noch die
Vorderläufe gebrochen und diese immer wieder vor- und
zurückgebogen, bis sie sich trotz der Totenstarre, die irgendwann
den Rest des Leibes ergriff, noch bewegen ließen. Braint hatte
unterdessen genügend Birkenrinde aufgestöbert und sie zu Seilen
verflochten, die lang und stark genug waren, um damit bis an das
Hirschkalb heranzureichen und dennoch nicht zu zerreißen.
Es hatte die halbe Nacht über gedauert, das
Hirschkalb an der vorgesehenen Stelle anzupflocken, ohne dabei die
Brennnesseln zu zertrampeln. Der Himmel war also schon wieder
heller geworden, und mit fast schon grellem Rot war die Sonne
heraufgestiegen, als Cunomar und Braint endlich von ihrem Werk
abließen und die Birkenrindenkordeln durch zuvor ausgearbeitete und
von eventuellen Steinen befreite Schneisen zogen, sodass die Seile
nicht schließlich doch noch durch irgendein Hindernis blockiert
oder gar zerschnitten werden könnten. Ihnen war gerade noch
genügend Zeit geblieben, um einen einzigen Test durchzuführen, bei
dem Braint auf der Straße stand und Cunomar in dem ein gutes Stück
entfernten Holunderdickicht lag. Braint hatte kontrolliert, ob man
Cunomar sehen könne, wenn er an seinem Ende des Speerheftes zog,
und ob die Bewegung der Vorderläufe des toten Hirschkalbs
ausreichen würde, um die Aufmerksamkeit der vorbeireitenden
Kavalleristen zu erregen.
So vieles hatte am Gelingen dieser List gehangen.
So vieles von ihrem Plan war bereits geglückt. Und so vieles schien
beinahe zu misslingen.
Corvus ritt geradewegs auf sie zu. Braint erhob
sich in die Hocke. Ohne jegliche Hast nahm sie einen Stein aus
ihrem Gürtelsack und legte ihn in ihre Schleuder. Bis zu diesem
Augenblick war Cunomar gar nicht bewusst gewesen, dass Braint auch
mit dieser Waffe umzugehen wusste. Er bedauerte, dass er selbst nie
den Umgang damit erlernt hatte. Aus irgendeinem Grund, der ihm
selbst nicht ganz klar war, flüsterte er: »Corvus liebt Valerius,
und Valerius liebt ihn.«
Ein schwaches Lächeln huschte über Braints Lippen.
»Ich weiß.«
Die Reiter waren mittlerweile so dicht vor ihnen,
dass Braint und Cunomar bereits die Pferde riechen konnten.
Plötzlich stand Braint auf und riss den Arm zurück.
Aber nicht nur sie, sondern auch ein
dunkelhäutiger, in rote Seide gekleideter Mann reagierte mit dieser
sicheren, unbeirrbaren Schnelligkeit.
Cunomar dagegen erstarrte vor Schreck und vermochte
lediglich zu brüllen: »Bogenschützen! Er hat zwei von den
Bogenschützen bei sich!«
Für den Rest seines Lebens, ganz gleich, wie lang
oder wie kurz dies auch noch währen mochte, würde Cunomar nicht
mehr jenen schmerzvollen Ausdruck auf Braints Gesicht vergessen,
als sie von den drei möglichen Zielen eines auswählte, es
anvisierte und dann mit geradezu verblüffender Präzision den Stein
losschleuderte. Niemals würde er den inbrünstigen Hass vergessen,
mit dem Braint diesen Stein aussandte, ganz so, als ob sie mit dem
Tode des gefährlichsten dieser Männer zugleich jene schädigen
könnte, denen ihr ganzer Hass galt.
Sie starb, ohne zu erfahren, ob ihr Vorhaben
geglückt war.
Stets würde Cunomar sich an diesen höchst
unpersönlichen Tod erinnern, der in der Gestalt von drei Pfeilen
Besitz von Braint ergriffen hatte. Drei Pfeile, die mit einer
solchen Geschwindigkeit herangesaust kamen, dass sie allesamt einem
einzigen Bogenschuss zu entstammen schienen. Braints scheidender
Seele blieb keine Zeit mehr, noch einen letzten Atemzug lang im
Diesseits zu verweilen oder gar noch einmal über das Leben
nachzudenken, das sie gelebt hatte.
Braint lebte, und mit dem nächsten Wimpernschlag
war sie auch schon tot, und der einzige Grund, weshalb es Cunomar
nicht genauso erging, war der, dass zwischenzeitlich auch Ulla
einen ihrer Speere geschleudert hatte und von der anderen Seite
noch drei weitere Bärinnenkrieger herangestürmt kamen. Zwar war
keiner von den dreien ein Steinschleuderschütze, doch einer von
ihnen hatte Glück und stieß den noch verbliebenen Bogenschützen
einfach von dessen Pferd.
Kaum dass sie begonnen hatte, war die unmittelbare
Bedrohung also auch schon wieder vorüber. Cunomar blieb somit ein
wenig Zeit, im Geiste erst einmal nach der Bärengöttin zu tasten.
Doch er konnte sie nicht erreichen. Dann zerrte er seinen Speer aus
den Schlingen aus Birkenrinde, sprang aus dem Holunderdickicht
hervor und kämpfte, versuchte einfach, noch nicht sterben zu
müssen. Vor allem aber bemühte er sich, noch nicht darüber
nachzudenken, wie er Cygfa die Nachricht von Braints Tod
überbringen sollte.
Ganz am Rande seines Blickfelds entdeckte Cunomar
eine flüchtige Bewegung. In einem Augenblick des von der
Bärengöttin inspirierten Wahnsinns schleuderte er seinen Speer in
genau diese Richtung.
Corvus sah, wie mittlerweile schon der zweite Stein
in dieser Schlacht unmittelbar an seinem Gesicht vorübersauste. Ob
auch dieser Stein schwarz angemalt war, um damit seine Seele in
eine noch vollkommenere Vernichtung zu schicken, danach brauchte er
schon gar nicht mehr zu schauen, denn er spürte bereits den Hass,
der in diesem Geschoss eingebettet lag. Unmittelbar darauf hörte
er, wie der Stein mit einem dumpfen Knall sein Ziel traf, hörte,
wie ein Mann zu Boden sackte, und drängte die rotbraune Stute
ruckartig zur Seite, für den Fall, dass noch mehr Steinschleuderer
im Dickicht lauerten. Anschließend schwang er sein Schwert gegen
einen Krieger, der auf ihn zustürmte.
Doch er verfehlte den jungen Mann, hieb noch einmal
nach ihm, verfehlte ihn abermals. Mit einem Mal sprang Breacas Sohn
aus seiner Deckung heraus, und von dem Augenblick an wusste Corvus,
dass man ihn erkannt hatte. Ein Speer flog an ihm vorbei, richtete
jedoch keinerlei Schaden an. Unbeirrt drängte Corvus die rotbraune
Stute weiter in den wahren Mahlstrom an Kriegern hinein.
Corvus besaß mehr Männer als die Wilden und hatte
auch mehr Pferde zur Verfügung, zudem hatten seine Legionare - bei
aller Bescheidenheit - auch einen deutlich strengeren Drill
erfahren als auch nur irgendeiner der Krieger der Eingeborenen.
Andererseits hatte es in der Vergangenheit natürlich bereits
Schlachten gegeben, bei denen die Gegner noch weniger an der Zahl
gewesen waren und noch schlechter trainiert, und dennoch waren
diese entgegen aller Voraussicht aus dem Kampf gegen die Legionen
als Sieger hervorgegangen. Zumal Pferde in einer Schlacht gegen
Infanteristen nur dann einen Sinn ergaben, wenn die Kämpfer auf dem
Boden Pferde nicht gewohnt waren und Angst vor ihnen hatten.
Die Eceni jedoch, gegen die Corvus nun kämpfte,
lebten geradezu auf dem Rücken ihrer Pferde, starben häufig sogar
auf ihnen und konnten meist schon reiten, noch bevor sie überhaupt
richtig laufen gelernt hatten. Noch anstrengender als der Kampf
gegen die Eceni aber war der Kampf gegen die Bärinnenkrieger unter
ihnen. Denn diesen war es vollkommen gleichgültig, ob sie den Kampf
überlebten. Sie interessierten sich allein dafür, ob es ihnen
vergönnt war, im Tode in die Umarmung der Bärengöttin zu sinken,
und natürlich für die Frage, ob sie ihr Leben auch stets mit der
ihr gebührenden Hingabe gelebt hatten und dafür in ihrem Dasein
nach dem Tode die entsprechenden Ehren empfangen dürften.
Wie zum Beweis für diese Lebenseinstellung unter
den Bärinnenkriegern brach der Sohn der Bodicea durch die Reihe von
Wachen, die sich rund um die Bogenschützen geschlossen hatte, und
rammte einem der Pferde sein Messer mitten in die Brust. Corvus
beobachtete, wie Cunomar dann auf den Rücken des niederstürzenden
Tieres sprang und dessen Reiter in einem Zuge mit sich zu Boden
riss. Die Klinge seines Dolches funkelte leuchtend rot, und sein
Gesicht war verzerrt zu einer brüllenden Maske aus Triumph und
Schmerz, aus der eine Wildheit hervorblitzte, dass kein Mensch, der
auch nur noch halbwegs bei Verstand war, sich einem solchen Krieger
entgegenstellen würde. Zumal auch kein Offizier irgendetwas in der
Art verlangen würde von jenen, die ihm immerhin nicht weniger
anvertraut hatten als ihr Leben.
Nichtsdestotrotz aber gab es einen Weg, wie man es
mit einem solchen Krieger aufnehmen konnte - zumindest, wenn einem
Männer zur Verfügung standen, die bis zur Perfektion gedrillt
worden waren und die ihrem Kommandeur bedingungslos
vertrauten.
»Linie!«, brüllte Corvus dem Trompeter zu. »Gib das
Signal zum Bilden einer Angriffslinie! Hier hinten. Sie sollen sich
um mich herum gruppieren!«
Ein silberner, lerchenheller Ton schallte in
luftiger Höhe über das Blutbad hinweg - und verstummte.
Wie ein vertrocknetes Blatt krümmte der Trompeter
sich zusammen und presste die Hand auf seine rechte Schulter, aus
der ein Messer hervorstach, das einer der Krieger soeben gegen ihn
geschleudert hatte. Die Trompete baumelte von dem um seinen
Unterarm geschlungenen Lederriemen herab. Ein weiteres Mal hackte
Corvus nach der kreischenden Todesfee, die es auf ihn abgesehen
hatte - zumindest glaubte er, dass es sich bei diesem Wesen um eine
Frau handelte, hielt jedoch nicht inne, um genauer hinzuschauen -,
und drängte sein rotbraunes Streitross dann vorwärts neben den
verletzten Legionar. Mit seinem Schwert durchschnitt er die
Trompetenkordel, dankbar, dass er dessen Klinge stets schärfer
schliff, als eigentlich nötig war, und dass auch die verschiedenen
Todesstöße, die er im Laufe dieses Tages bereits mit seinem Schwert
verteilt hatte, dessen Schneide noch nicht hatten stumpf werden
lassen. Vor allem war er froh, dass auch er, Corvus, gelernt hatte,
wie man einer solchen Trompete die richtigen Töne entlockte, um
dann die entsprechenden Signale zu setzen.
Ohnehin aber hatte gut die Hälfte seiner Männer
bereits den Befehl gehört, den er nur wenige Augenblicke zuvor noch
dem Trompeter zugebrüllt hatte. In Paaren scharten sie sich bereits
um ihn, dann zu dritt, zu sechst und schließlich gar zu acht, um zu
Corvus’ beiden Seiten jene Linie zu formieren, in der sie
regelrecht über das Land hinwegfegen und sämtliche Widersacher, die
glaubten, es mit den Legionaren aufnehmen zu können, in Grund und
Boden trampeln würden.
Hastig befeuchtete Corvus sich die Lippen, hob die
erstaunlich schwere und gleißend hell glänzende Trompete an den
Mund, atmete tief ein und ließ gerade den ersten, noch leicht
zittrigen Ton erklingen - als plötzlich das deutlich lautere und
forschere Signal von gleich zehn Hörnern von der Spitze des Zuges
herüberschallte, die Corvus’ einzelne Note in ihrem einstimmigen
Geschmettere gnadenlos ertränkten.
»Nein! Die Götter sollen euch verdammen,
nein...«
Er hätte weinen mögen. Sein Trompetenstoß war
vollkommen umsonst gewesen. Dennoch hatten sich seine Legionare
bereits um ihn versammelt, nur sechs kämpften noch darum, sich den
anderen ebenfalls anschließen zu können, einer von ihnen verwundet,
zwei weitere jeweils rechts und links von Kriegern attackiert und
ohne die Aussicht, noch sonderlich lange am Leben zu bleiben. Trotz
alledem aber hatten sich nun immerhin achtzehn Männer um Corvus
formiert, und gemeinsam hätten sie sämtliche Krieger, die parallel
zu der Marschkolonne über den breiten, flachen Landstreifen
rannten, einfach niederwalzen können.
»Wir könnten es immer noch schaffen.«
Corvus schaute nach links. Dort befand sich
Flavius, die Wangen gerötet atmete er keuchend, während er
innerlich auf einer Woge des Triumphes zu reiten schien. Ihre
Blicke begegneten sich. Flavius grinste, und aller Hass auf seinen
Kommandeur war aus seinen Augen gewichen. »Wir haben das Hornsignal
ganz einfach nicht gehört«, erklärte er. »Die Hornbläser sind viel
zu weit vorn. Wir können nur Euch hören. Also, befehlt uns
anzugreifen.«
Alle achtzehn Männer wären willens gewesen, diese
Lüge nun zu unterstützen. Und auch im Nachhinein hätte nicht einer
von ihnen Corvus verraten. Selbst der Gouverneur hätte eingestehen
müssen, dass in einer Schlacht nicht immer alle Signale von allen
gehört werden konnten. Und sogar der zum Gott erhobene Caesar hatte
es einst während eines Kampfes nicht geschafft, seine Männer
zurückzurufen, sodass er ihnen schließlich, als er sah, dass sie
gegen seinen Befehl noch immer mit aller Inbrunst um den Sieg
rangen, noch ein zweites Signal hinterhergeschickt hatte, und zwar
jenen Hornstoß, mit dem die Männer sich untereinander Glück
wünschten. Wie also könnte ein General eingedenk eines solchen
Präzedenzfalls Männer bestrafen, die entgegen seinem Rückzugsbefehl
gekämpft und gesiegt hatten?
Abermals hob Corvus die Trompete an die Lippen. Das
Signal zur Formation einer geschlossenen Reihe brauchte er schon
gar nicht mehr zu geben, denn alle hatten bereits ihre
entsprechenden Plätze eingenommen. Gedrillt bis zur Perfektion
vollführte die Achse aus Legionaren eine halbe Drehung um ihren
Mittelpunkt herum, den in diesem Fall Corvus darstellte, ganz
ähnlich den beiden Speichen eines Rads. Schließlich blickten alle
Männer in Richtung Süden, sodass sie nun theoretisch einfach
parallel zur Straße über das Land hätten hinwegpreschen können. Die
Krieger begannen bereits, die Flucht zu ergreifen. Zudem waren in
der Zwischenzeit zwei weitere von ihnen gefallen. Und der Sohn der
Bodicea schrie und brüllte und erreichte doch niemanden...
Erneut erschallten die Hörner, diesmal lauter als
zuvor. Dann gab auch noch das große Bullenhorn der persönlichen
Kavallerie des Gouverneurs, das so schwer war, dass zwei Männer
nötig waren, um es zu tragen, einen einzelnen, langen und geradezu
die Erde erschütternden Ton von sich. Energisch wurden die
Standarten sowohl der beiden Legionen als auch der Quinta Gallorum
gewirbelt.
»Nein, seid verdammt! Nicht jetzt!« Corvus
schleuderte die Trompete auf den Boden. Durch die Wucht des
Aufpralls sprang sie wieder ein Stückchen von der Erde empor,
woraufhin Corvus’ Stute erschrocken zurückwich und er ihr einen
energischen Tritt mit den Fersen versetzte - eine unentschuldbare
Misshandlung dieses so treuen Tieres. Mit geradezu steinernen
Mienen gruppierten seine Männer sich um ihren Kommandeur. Dieser
war geradezu rasend vor Wut und mental so tief in seinen Zorn
eingetaucht, dass er nicht mehr in der Lage war, sich gegen die
Steinschleuderschützen und Speerwerfer zu verteidigen, welche die
Legionare natürlich noch immer attackierten. Corvus’ Männer aber
schützten ihn.
Abermals stieß er einen lästerlichen Fluch aus,
schloss kurz die Augen, schluckte und gewann dann endlich wieder
die Kontrolle über sich selbst zurück. Niemals zuvor in seinem
Leben hatte Corvus während einer Schlacht vor Zorn den Verstand
verloren. Nun jedoch war ihm genau das passiert. Erschöpft ließ er
sein Schlachtross wieder wenden, bedeutete mit hektischem Fuchteln,
dass man ihm eine Standarte reichen solle, und führte seine Männer
schließlich mit einer Bitterkeit im Gemüt, die ihn noch den
gesamten schnellen und harten Ritt zurück zum Hauptzug begleiten
sollte, fort von dem Sieg und zurück zu ihrem Gouverneur, um dort
die Nachhut der mittlerweile im Laufschritt flüchtenden Legionen
abzuschirmen - wo immer diese Flucht nun auch hinführen
mochte.
»Sie sind weg«, keuchte Ulla. »Warum?«
»Die Hornbläser des Gouverneurs haben sie
zurückgerufen, und zwar mit einem derart eindringlichen Signal,
dass sie es einfach nicht ignorieren konnten. Was genau der Grund
dafür gewesen war... nun, darüber lässt sich wohl nur mutmaßen.
Vielleicht ist Valerius schon eher angekommen und hat die Spitze
des Zuges angegriffen. Zudem sehen sie in ihm womöglich eine
größere Bedrohung als in uns und trauen sich eine Konfrontation mit
ihm nur im Schutze ihrer leistungsfähigeren Truppen zu. Zu Fuß
jedenfalls können wir sie nicht mehr einholen. Und das wissen
sie.«
Cunomar kniete neben Braints Leiche. Sein eigener
Körper war regelrecht übersät mit Schnittwunden, und die eine
Körperhälfte war komplett mit bläulichen Blutergüssen überzogen -
ein Pferd war auf ihn gestürzt. Dennoch spürte Cunomar nicht das
Geringste. Stattdessen beugte er sich über Braint, legte eine Hand
an ihre Kehle und tastete nach ihrem Puls, ganz so, ob sie
vielleicht doch noch am Leben sei, eine Hoffnung, die geradezu
lächerlich war. Trotzdem konnte Cunomar einfach nicht anders.
Die Pfeile waren vorn in ihre Brust eingedrungen
und an ihrem Rücken wieder ausgetreten. Allein die purpurroten und
schwarzen Federn an ihren Enden hatten verhindert, dass die
Geschosse Braints Körper gänzlich wieder verlassen hatten. Folglich
lag die einstige Kriegerin auch nicht flach auf dem Boden, sondern
gefangen wie in einem unerträglichen Schmerz bog ihr Brustkorb sich
dem Himmel entgegen.
Noch hatte die Leichenstarre nicht eingesetzt.
Vorsichtig zog Cunomar Braint hoch und lehnte sie gegen sein Knie.
Dann brach er die aus ihrem Rücken herausragenden Pfeilschäfte ab
und ließ Braint langsam und ganz so, als wolle er sie zum Schlafen
betten, wieder zurücksinken. Mit den Daumen schloss er ihre Augen
und ließ seine Finger für einen Moment auf ihren Lidern liegen, auf
dass seine einstige Kameradin nicht mehr mit diesem seltsam starren
Blick in den Abendhimmel schaute. Wie betäubt erklärte er: »Sie war
die Ranghöchste Kriegerin von Mona. Wir sollten sie also mit uns
nehmen. Jene, die sie angeführt hat, werden um sie trauern
wollen.«
»Und auch Cygfa wird um sie trauern wollen«,
stimmte Ulla zu.
»Falls Cygfa überhaupt wieder zurückkehrt. Sie ist
mit der Bodicea ausgezogen, und seitdem haben wir nichts mehr von
den beiden gehört. Vielleicht werden sie also nie mehr
wiederkommen.« Gänzlich unerbeten stieg plötzlich dieser Gedanke
aus den konturlosen Ängsten in Cunomars Hinterkopf auf, und noch
ehe er sich selbst hatte bezähmen können, waren die Worte auch
schon über seine Lippen gekommen.
Entsetzt betrachtete Ulla ihn, öffnete den Mund,
schloss ihn dann aber wieder. »Aber natürlich wird Cygfa
wiederkommen«, entgegnete sie, »und auch die Bodicea wird
wiederkehren, und dann haben wir die Legionen doch schon so gut wie
eingekesselt. Aber dass Valerius vorn auf der Straße aufgetaucht
ist - also, darauf wiederum würde ich nicht hoffen. Denn wenn er
dort wäre, hätte er uns mit seinen Spähern schon längst eine
Nachricht übersandt. Die Legionen rennen also nicht einer Schlacht
entgegen, sondern sie flüchten sich in Sicherheit, irgendwohin, wo
sie sich besser verteidigen können als hier auf einer ungeschützt
durch das Land verlaufenden Straße. Alles, was wir nun also tun
müssen, ist, auf Valerius zu warten und darauf, dass er seine
vereidigten Speerkämpfer mitbringt, und dann haben wir die Römer
doch schon so gut wie eingekesselt - wie Schafe in einer Talenge.
Morgen werden wir noch einmal, und zwar mit dem gesamten
Kriegsheer, gegen die Römer vorrücken, und bis zum Abend haben wir
das Land von zwei weiteren Legionen gesäubert.«
Morgen...
Vollkommen unangekündigt kehrte der alte Albtraum
zu Cunomar zurück, jener Traum von dem Bären, der, gefangen in
seiner eigenen Höhle, nur darauf lauerte, den ersten stolpernden
Narren, der sich ihm näherte, in Stücke zu reißen. Dieses Mal stand
für Cunomar außer Frage, dass die Bärengöttin ihm diesen Traum
geschickt hatte, gemeinsam mit all dessen unheilvollen
Vorzeichen.
Voller Angst, nun auch noch diese schreckliche
Vorahnung laut auszusprechen, zwang Cunomar sich zu einem dürren
Lächeln und sagte an Ulla gewandt: »Bis morgen ist es noch viel zu
lange hin, um sich jetzt schon Gedanken darüber zu machen. Als
Erstes müssen wir die Verwundeten zurück zum Treffpunkt bringen und
hoffen, dass auch Valerius mittlerweile dort angelangt ist. Denn
bei Valerius ist auch Theophilus, der sich um die Verletzungen
kümmern könnte. Und wenn das erledigt ist, müssen wir einen
Scheiterhaufen für Braint errichten, damit noch einmal jedem vor
Augen geführt wird, was für eine bedeutende Kriegerin sie war.
Willst du mir helfen, sie zu tragen?«
Sanft legte Ulla den Daumen auf Cunomars Mund und
strich das aufgesetzte Lächeln von seinen Lippen. Ihr Blick schien
die verschiedenen Masken, die er über sein Gesicht gebreitet hatte,
eine nach der anderen wieder fortzureißen. »Selbstverständlich. Ich
helfe dir doch immer. Dass du überhaupt noch meinst, danach fragen
zu müssen...«