IX
Ganz allein saß Bellos, der Blinde, im Großen
Versammlungshaus auf Mona. Er war neben die leere Feuerstelle
gerückt und hielt Wache, lauschte, tastete nach Anzeichen dafür,
dass die Legionen Roms im Anmarsch waren.
Die Kälte schärfte seine Sinne, bewahrte ihn davor
einzunicken. Selbst die nur allzu vertrauten Gerüche der
erloschenen Herdfeuer, von Torf und Reet und die Erinnerungen an
den ereignisreichen Aufbruch der Krieger und Träumer vermochten ihn
angesichts der harschen Kühle in dem alten Rundhaus nicht mehr
einzulullen. So viele Männer und Frauen hatten einst hier in diesem
Haus und in der unmittelbar daran angrenzenden Siedlung gelebt. So
viele Kinder waren hier geboren worden, so viele der Alten und auch
Jüngeren waren gestorben - genau hier, wo Bellos nun saß. Und jeder
von ihnen hatte ein kleines Zeichen in die Dachbalken des Hauses
geritzt, jeder hatte damit eine kleine Erinnerung an seine ganz
persönlichen Gedanken und Erlebnisse zurückgelassen. Und es waren
keineswegs böse Gedanken gewesen oder traurige Erlebnisse, und
dennoch erschwerten sie es Bellos, seine Aufmerksamkeit voll und
ganz auf seine Aufgabe als Wächter des Großen Versammlungshauses zu
konzentrieren.
Drei lange Jahre hatte er sich allein auf diese
Verantwortung vorbereitet. Und wenngleich es ihm als Blindem
natürlich schwer fiel, den Wachdienst zu versehen, so war es doch
keineswegs unmöglich. Blicklos hatte er die Augen auf jene Stelle
gerichtet, wo einst das Feuer geprasselt hatte, während er
angestrengt versuchte, seine Wahrnehmung über die Grenzen der
Siedlung hinaus auszudehnen. Er versuchte, allein mit Hilfe seiner
Intuition die Ufer der Insel der Götter zu erspüren und sogar noch
weiter hinauszulangen, über das trügerische Wasser der Meerenge
hinweg. Bis er im Geiste schließlich das Festland und die Mauer aus
Eisen und Schweiß und zermarterten Pferden erreichte, die
Gedankenwälle jener gelangweilten, verängstigten, und zugleich doch
von Hoffnung beflügelten und zornig entschlossenen Männer, die es
gewagt hatten, in den Bergen am entgegengesetzten Ufer ihre Zelte
aufzuschlagen, und die nun schliefen.
Die Last der Verantwortung verlieh Bellos eine
innere Sicherheit, die ihm normalerweise nicht zu eigen war. In den
ersten Tagen, nachdem er erblindet war, also vor etwa drei Jahren,
hatte er noch tagtäglich zu jedem ihm bekannten Gott gebetet und
darum gefleht, endlich wieder sehen zu dürfen. Egal, ob er auf
seiner Lagerstatt geruht oder aber einige vorsichtige Schritte
gewagt hatte oder ob er unter den aufmerksamen Blicken Luain mac
Calmas, dem Vorsitzenden des Ältestenrats von Mona, mit hohen
Sprüngen und voller Angst vor einem weiteren Sturz versucht hatte
zu rennen, so hatte er doch immer geglaubt, dass er eines Tages
wieder geheilt würde. Denn mac Calmas heilerische Fähigkeiten waren
geradezu legendär, und der Schlag auf den Kopf, der Bellos seine
Sehkraft geraubt hatte, war im Grunde auch nur ein leichter
gewesen, kaum genug, um einen ordentlichen Brummschädel zu
verursachen. Es schien also nur wenig Anlass zu der Sorge zu
bestehen, dass er sein Augenlicht womöglich für immer verloren
haben könnte.
Erst später, als er sich diese Zeit wieder ins
Gedächtnis zurückrief, konnte er jenen einen, winzigen Moment
erspüren, als die Aufgüsse, die man ihm damals zu trinken gegeben
hatte, plötzlich nicht mehr ganz so bitter geschmeckt hatten wie
zuvor, und als die Geschichten, die Luain mac Calma am Feuer
gesungen hatte, mit einem Mal nicht mehr von den goldhaarigen,
belgischen jungen Männern und Frauen handelten, die mutig gegen
ihre Feinde ritten, um diese in siegreichen Schlachten zu schlagen,
sondern von den Sagen über die blinden Träumer der Ahnen abgelöst
worden waren. Mac Calma hatte von jenen lange verstorbenen Träumern
berichtet, die über Jahre hinweg die größten Mühen auf sich
genommen, ja, sogar regelrecht gelitten hatten, um zu erlernen, die
andere Welt zu beschreiten, und die damit schließlich zu Helden
geworden waren und ihr Volk vor der Vernichtung gerettet
hatten.
Damals, in den Tagen der Ahnen, waren die
hellseherisch begabten Nachkommen schon als kleine Kinder aus der
Masse der nur durchschnittlich talentierten ausgewählt worden, und
man hatte sich bemüht, ihnen noch in jungen Jahren sämtliche Wunder
beider Welten, sowohl der diesseitigen als auch der jenseitigen, zu
zeigen und zu erläutern - um die Jungen und Mädchen dann mit heißen
Eisen zu blenden und diese wunderbaren Erlebnisse für immer in
ihrem Inneren einzuschließen. Die erzwungene Einkerkerung ihrer
Wahrnehmung in die kleinste aller Welten, nämlich die ganz
persönlichen Erinnerungen, sollte die Intuition der Kinder schärfen
und sie lehren, zukünftige Ereignisse noch präziser zu
erahnen.
Luain mac Calma, das war Bellos in jenen Tagen nur
allzu deutlich bewusst geworden, würde niemals einen seiner
Schützlinge wissentlich blenden, egal, wie ausgeprägt dessen
hellseherische Fähigkeiten auch sein mochten. Wenn aber ein junger
Mensch zu mac Calma kam, der sein Augenlicht bereits durch einen
Unfall verloren hatte, und wenn Luain dann glaubte, dass dieser
Jugendliche eine Gabe besaß, die alles bisher Erforschte noch weit
zu übersteigen schien, dann sah mac Calma, Heiler und Mitglied des
Ältestenrats von Mona, es geradezu als seine Pflicht an, die
besondere Begabung dieses jungen Menschen zu trainieren und bis zur
Perfektion zu verfeinern.
All das war Bellos allerdings erst ganz langsam und
in kleinen Portionen mitgeteilt worden. Der entscheidende
Wendepunkt hatte sich dann an einem Tag im Frühling ereignet;
mittlerweile war seit der Erblindung des Jungen fast ein ganzes
Jahr vergangen. Bellos hatte draußen vor der bescheidenen Hütte
gesessen, während zu seinen Füßen der Bach vorüberplätscherte und
irgendwo hinter ihm ein Feuer prasselte, als er plötzlich gespürt
hatte, wie der hochgewachsene, schmale mac Calma den ersten der
Trittsteine betrat, über die man trockenen Fußes den Bach
überqueren konnte. Das persönliche Traumzeichen des Vorsitzenden
des Ältestenrats von Mona war der Reiher, und es fiel Bellos
leichter, sich mac Calma in der Gestalt eines Reihers vorzustellen
als in der eines Menschen. In der leeren Finsternis seiner Gedanken
hatte Bellos seinem Lehrherrn also zwei spitzknochige Beine und
einen langen, scharfen Schnabel gemalt und sich selbst eine Art
Schutzmantel umgelegt, um sich vor eventuellen Schnabelhieben des
Tieres zu schützen. Mac Calma hatte sich daraufhin umgewandt und
war wieder fortgegangen. Ganz leise war er über den weichen
Torfboden und vereinzelte, noch vom letzten Winter übrig gebliebene
Blätter geschritten. Dann, aus einiger Entfernung, hatte er
gefragt: »Wo stehe ich nun?«
Drei Tage lang hatte mac Calma bei seiner Ankunft
stets die gleiche Frage gestellt, und er stand fast immer an der
gleichen Stelle.
»Du stehst an der Stelle, wo der Bach eine kleine
Biegung macht«, antwortete Bellos lustlos. Doch das reichte mac
Calma noch nicht, denn die Aufgabe, die er dem Jungen für diesen
Monat gestellt hatte, lautete, dass Bellos alles, was er nicht mit
seinen Augen sehen konnte, in seinem Geiste dafür umso
detaillierter ausmalen müsse. Bellos beschrieb den Bach also noch
etwas genauer, sprach von den Eichen und Haselnusssträuchern und
natürlich auch von der Trauerweide, die das Bachufer mit ihren
Zweigen überspannte, beschrieb ihre winzigen, noch
zusammengerollten Blättchen und die ersten Ansätze der knospenden
Weidenkätzchen.
Er erklärte, wie seiner Meinung nach die Steine der
Brücke aussehen müssten, erläuterte die Textur des nassen und
frischen Mooses, beschrieb, wie das Wasser Stein und Moos
umwirbelte, und sprach dann plötzlich von einem Buchfinken,
einfach, weil er das Gefühl hatte, dass dort sicherlich gerade ein
Buchfink sitzen müsse. Und dann, zu Bellos’ eigener Überraschung,
sah er vor seinem geistigen Auge, wie mac Calma einen Fuß anhob und
in der linken Hand ein gezogenes Schwert hielt. Und Bellos spürte
auch, wie mac Calma den Kopf ein wenig zur Seite neigte und
spöttisch eine Braue hochzog.
Pikiert erklärte der Junge: »Und du stehst mit dem
rechten Fuß auf dem ersten Trittstein und trägst eine Waffe bei
dir, die nicht für dich geschmiedet worden ist.«
»Ach, wirklich? Und für wen soll diese Waffe denn
geschmiedet worden sein?«
Ein Hauch von Zweifel schien in der Stimme des
Ratsältesten mitzuschwingen, schien Bellos geradezu
herauszufordern, sodass dieser hastig entgegnete: »Valerius hat das
Schwert einfach nur so geschmiedet, um des Schmiedens willen. Er
hatte niemand Bestimmten im Sinn, der die Waffe einmal führen
sollte. Aber dann kamst du in seine Schmiede in Hibernia
marschiert, während Valerius gerade an dem Schwert arbeitete, und
du erzähltest ihm von seiner Schwester, teiltest ihm mit, dass sie
tot sei. Und nun leben in dem Schwert die Ängste und der Zorn genau
dieses Tages.«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe es gehört, als du mit dem Finger auf das
Eisen getippt hast. Woher soll ich es denn sonst wissen?«
»Wenn du mir sagen kannst, wie du, nur indem jemand
mit dem Finger auf eine Waffe tippt, hören kannst, was der Schmied
gefühlt hat, als er diese Waffe schmiedete, dann würde ich mich von
dir in dieser Kunst nur allzu gerne unterrichten lassen.«
Mit einem Mal schien ihm mac Calmas Stimme viel
näher zu sein. Bellos hatte einen leichten Luftzug gespürt, ein
leises Scharren, als wenn Füße über Steine huschten, und dann eine
Hand, die plötzlich nicht mehr da war, wo sie eben noch gewesen
war. In der dunklen Welt von Bellos’ Blindheit hatte der Reiher
sich nun in einen Mann verwandelt, einen nur allzu lebendigen Mann,
und jede einzelne Linie in dem Gesicht des Ratsvorsitzenden von
Mona war klar zu erkennen. Jetzt, da mac Calmas Gesicht ganz dicht
über Bellos zu schweben schien, war es kaum mehr zu verleugnen,
dass mac Calma Valerius’ Vater war. Ihre Gesichter hatten einfach
zu viele Gemeinsamkeiten.
Gekränkt, fast schon verletzt wich Bellos ein
kleines Stück zurück. Er spürte, wie es in seinen Augäpfeln zu
prickeln schien und wie die Haut an seinem Hals sich mit hektischen
roten Flecken überzog. »Ich bin kein Seher. Denn wenn ich
tatsächlich wüsste, was die Zukunft bereithält, hätte ich doch
nicht ausgerechnet jenen Pfad gewählt, der mich in die Blindheit
führt, oder? Ich kann einfach nicht der sein, zu dem du mich so
gerne machen würdest. Warum können wir die Sache nicht einfach sein
lassen? Selbst wenn ich ein Römer wäre, würdest du mich nicht
derart quälen.«
»Ist es tatsächlich eine Qual für dich, Bellos?
Empfindest du das wirklich so?« Mac Calma war dem Jungen gefolgt.
Kühle, schwielige Hände schlossen sich um Bellos’ Gesicht, wandten
es behutsam mac Calma zu, bis dieser die feinen Tränen erkennen
konnte, die über die Wangen des Jungen rannen und die Bellos nur
allzu gern verborgen hätte. »Schmerzen dein Kopf und deine Augen
denn noch immer?«
Ohne jede Vorwarnung brach es nach sechs langen
Monaten des Schweigens plötzlich aus Bellos hervor. Haltlos
schluchzend sank er zu Boden und kauerte sich auf einen Stein.
»Sind denn etwa nur körperliche Schmerzen reale Schmerzen? Ich will
endlich wieder sehen können, will den Ozean sehen und die
Bäume und das Große Versammlungshaus, auch jetzt, wenn das Haus
leer ist und nur noch ein Schatten dessen, was es früher einmal
war. Ich will sehen, wie die Sonne untergeht und der Mond am Himmel
aufsteigt und wie die Sturmwolken sich vor den Sternen
zusammenballen. Und ich will auch all die vielen kleinen Dinge
sehen. Ich will den Kratzer an der Seite des Bechers sehen, aus dem
ich am Morgen trinke, ich will den Zaunkönig sehen, der aus meiner
Hand frisst, ich will sehen, wie an einem windstillen Tag ein Blatt
vom Baum fällt. Ich will sehen, wie in der Ferne ein Hund
auftaucht. Ich will die Farbe seines Fells erkennen können. Will
den Ausdruck in den Augen eines Pferdes sehen, will an seinem Blick
ablesen können, ob es von Valerius zugeritten worden ist, und wenn
ja, ob ich es dann reiten darf. Ich will das Erstaunen in den Augen
eines frisch geborenen Lamms sehen, wenn es gerade das Licht der
Welt erblickt. Ich fühle mich, als ob mir irgendjemand eine Binde
um die Augen gelegt hätte, jemand, der sich einen schlechten Scherz
mit mir erlaubt. Und ich will, dass er diese Binde endlich wieder
abnimmt. Ich will, dass du sie mir wieder abnimmst!«
Dann legte sich abermals die Dunkelheit über
Bellos’ Gedanken, und er dachte, mac Calma sei wieder gegangen.
Ganz ruhig verharrte der Junge auf dem Felsbrocken, wandte das
Gesicht dem Wind zu und hörte doch nichts. Kein einziges Geräusch
drang an sein Ohr, sodass er sich schon fragte, ob er nun
vielleicht auch noch taub geworden sei. Damit wäre dann wirklich
auch noch das letzte bisschen Lebenswille in ihm erstorben.
Plötzlich aber legten lange, schlanke Finger sich auf seine
Schulter. Bellos zuckte erschrocken zusammen. Frei von jeglichem
Hohn ertönte mac Calmas Stimme: »Bellos, es tut mir so leid.
Während all der Überlegungen und Planungen, die ich angestellt
habe, habe ich doch ganz vergessen, wie es ist, ein junger Mensch
zu sein und machtlos und voller Schmerzen...«
Langsam glitten die Finger Bellos’ Arm hinab, und
der Junge spürte die festen Hände des Heilers, jenes Mannes, der
doch stets so genau zu wissen schien, was zu tun war. Mac Calma
öffnete behutsam die rechte Faust des Jungen und legte ihm den
Griff von Valerius’ Schwert in die Handfläche. Bellos wehrte sich
nicht. Er war vielmehr verwirrt und schloss automatisch die Finger
darum, kam sich sogar ein bisschen dumm und unbeholfen vor, weil er
doch gar nicht wusste, wie ein Krieger diese Waffe wohl halten
würde. Doch selbst in diesem traurigen und beschämenden Moment
fühlte er, wie vertraut ihm dieses Schwert bereits war und wie
dessen Energie, hell wie der Morgen über Hibernia, ihn
durchdrang.
Noch niemals zuvor hatte er diese Waffe in seinen
Händen gehalten, und doch wusste er instinktiv, wo ihr Balancepunkt
lag, kannte das Gewicht des Schwerts und die Rillen in seinem Heft.
Und ganz so, als wären es seine eigenen Ängste, sein eigener
Schmerz und sein eigener Zorn, erspürte er die Gefühle, die
Valerius bewegt hatten, als er dem Schwert auf seinem Amboss mit
ein paar letzten gezielten Hammerschlägen seine endgültige Form
verliehen hatte.
Fest schien Valerius’ Zorn sich um den Jungen zu
schließen, glich Bellos’ eigenem Schmerz - und ließ damit, endlich,
die dem Jungen schon so lange innewohnenden Qualen enden. Bellos
aber konnte diesem überwältigenden Erlebnis nicht lange nachhängen,
denn schon erschien ein seltsam klares Bild vor seinem inneren
Auge. Er sah sich selbst sterben, sah, wie er nach Art der Römer
vorwärts auf sein Schwert stürzte, sodass es der Länge nach durch
seine Brust schnitt und nass von Blut hinten aus seinem Rücken
wieder heraustrat.
Entsetzt ließ Bellos das Schwert fallen, hörte, wie
das Eisen sich in den grasbewachsenen Boden bohrte. In seiner
Vorstellung sprudelte frisches Blut in breiten Strömen über das
grüne Gras, und sosehr er sich auch bemühte, er konnte das Blut
doch nicht mehr verschwinden lassen. Bellos hob den Kopf, glaubte
zu sehen, wie ein Reiher sich in die Lüfte emporschwang, und wusste
dennoch, dass in der realen Welt, jener Welt, in der er eben nicht
sehen konnte, sondern noch immer der blinde Junge war, mac Calma
sich noch immer nicht von der Stelle gerührt hatte.
Mit einem Mal schien irgendetwas in Bellos’
Bewusstsein aufzubrechen. Er beobachtete, wie der Reiher hoch über
dem Bach in großen Kreisen seine Bahnen zog und schließlich der
Erde langsam wieder näher kam. Der Junge spürte, wie ein schwaches
Lächeln sich über mac Calmas Lippen legte, und er erkannte, wie
sein, Bellos’, eigener Geist, Briga, der Göttin der Toten, seinen
Gruß entbot. Schließlich betrachtete er sich selbst dabei, wie er
die ersten zaghaften Schritte in das Land jenseits des Lebens wagte
- bis diese Vision plötzlich in eine nur allzu wundersame
Darstellung jener neuen Welt abglitt, eine Vision, die sich so ja
doch nie ereignen würde.
Hirngespinste. Bellos weigerte sich
hartnäckig, sich seinen Verstand von Hirngespinsten vernebeln zu
lassen. Denn auf keinen Fall dürfte sich gleich seine erste Vision
als albernes Trugbild herausstellen. Sonst wäre seine erste Vision
damit zugleich auch seine letzte. Niemand fragte einen
fehlgeleiteten Träumer nach dessen Sicht der Zukunft. Reglos blieb
Bellos sitzen, während er in langsamen und tiefen Zügen ein- und
ausatmete. Und endlich ließ der stechende Schmerz hinter seinen
Schläfen wieder nach. »Ich werde nicht in dieses Schwert stürzen«,
verkündete er. »Weder jetzt noch irgendwann anders. Was auch immer
ich da in meiner Vision gesehen haben mag... die Zukunft jedenfalls
war es nicht. Und überhaupt will ich ja auch gar kein Seher
sein.«
»Was in diesem Fall eine sehr glückliche Fügung
ist, denn du müsstest wohl an die zwanzig Jahre lang hart dafür
üben, um deine Fähigkeiten auch nur annähernd denen eines echten
Träumers anzugleichen. Und selbst dann ist es nicht immer leicht,
herauszufiltern, welche Dinge sich mit absoluter Gewissheit
ereignen werden und welche sich nur dann bewahrheiten, wenn auch
sämtliche anderen Details der Vision sich erfüllen.«
»Gibt es denn überhaupt Visionen, die mit absoluter
Sicherheit eintreten?«
»Nur sehr wenige. Zumindest meiner Erfahrung nach.
Dafür gibt es umso mehr Traumbilder, die im Grunde nur von den
unausgesprochenen Ängsten des Träumers zeugen. Die Vision, in der
du dich selbst hast sterben sehen, war kein Ausblick auf die
Zukunft, sondern nur ein Abbild deiner Angst. Das sind zwei sehr
verschiedene Dinge.«
Mac Calma bückte sich, um das Schwert aufzuheben.
Bellos konnte den Glanz der Klinge spüren. Und diese Wahrnehmung
war keineswegs bloß Einbildung, war kein Produkt seiner Fantasie.
Nein, es war mehr. Es war wie ein plötzlicher Blitz in Bellos’
Bewusstsein, ein Blitz, der ihm das Wesen der Klinge erklärte und
den Mann zeigte, der die Klinge geschmiedet hatte. Und über dieser
Wahrnehmung von der Geschichte der Klinge wiederum lag die Aura der
Reiherseele von mac Calma, die Aura jenes Mannes, der das Schwert
nun flach ausgestreckt auf seinen beiden Händen vor sich
hielt.
»Im Übrigen aber hatten auch die blinden Seher der
Ahnen es sich nur in den seltensten Fällen selbst ausgesucht,
Träumer zu werden«, erklärte der Weise. »Darum hatte man ihre
Fähigkeiten zumeist auch ganz anders eingesetzt. Und auf genau
diese anderen Betätigungsfelder werden wir nun auch deine
Fähigkeiten ausrichten.«
»Was meinst du damit?«
Von Angesicht zu Angesicht saßen sie einander
gegenüber, während der Bach leise neben ihnen plätscherte. Das
Wasser schien kurz und amüsiert zu glucksen und rauschte dann leise
murmelnd über die glatten Steine davon. Die winzigen Wogen formten
immer neue, flüchtige Skulpturen. Und diese Skulpturen bildeten
sich auch in Bellos’ geistiger Welt ab, entstanden und zerschmolzen
wieder, jedoch ganz anders als die allein von seiner Fantasie
geschaffenen Bilder. Fast schien es, als ob sich in seinem Inneren
leise eine Tür geöffnet hätte und das Land, das sich dahinter
erstreckte, nur allzu klar zu erkennen wäre und nicht etwa unter
einem Nebel des Nichtsehens verborgen lag. Bellos verschränkte die
Hände um die Knie. »Ich versteh aber trotzdem nicht, warum es
sinnvoll sein soll, anderer Leute Angst und Zorn sehen zu
können.«
»Das verstehst du nicht? Du wirst nicht bloß Angst
oder Zorn sehen, sondern auch alle anderen menschlichen
Empfindungen, wenn sie nur ausgeprägt genug sind. Stell dir bloß
mal vor, eine feindliche Armee würde zur Schlacht gegen uns
anrücken und du wüsstest, welche Hoffnungen und Ängste genau diese
Männer bewegen. Verstehst du wirklich nicht, von welch
unschätzbarem Nutzen dieses Wissen für unsere Krieger sein könnte?
Oder für unsere Träumer? Denn diesen von wirren Emotionen
verdunkelten Köpfen einfach irgendeinen Albtraum einzupflanzen …
nun, das ist keineswegs eine leichte Aufgabe. Da ist es schon
wesentlich leichter, die Feinde an den Strängen ihrer eigenen
Ängste zu packen - Ängste, die bereits existieren - und diese dann
zu noch grauenvolleren Vorstellungen zu verknüpfen, als sie ohnehin
schon durch die Gedanken unserer Feinde geistern. Männer, die
voller Angst kämpfen, sterben auch voller Angst. Und sollten wir
eines Tages einer möglicherweise erdrückenden Übermacht von Feinden
gegenüberstehen, so könnte unsere größte und vielleicht sogar
unsere einzige Hoffnung darin liegen, ihre Ängste zu erkunden und
damit die verzehrenden Feuer ihrer Furcht noch weiter zu
schüren.«
Zu jener Zeit, als Luain mac Calma diese Worte zu
Bellos gesagt hatte, hatten noch keine Legionarsarmeen auf der
anderen Seite der Meerenge kampiert. Ein Krieg, der sich auf der
heiligen Insel Mona abspielte, war zur damaligen Zeit noch völlig
undenkbar erschienen. Rom war nicht mehr als eine ferne Bedrohung
gewesen, und die Legionen waren verwoben in dem schier endlosen und
augenscheinlich auch nicht zu gewinnenden Kampf gegen die Stämme
des westlichen Britannien. In seiner Naivität hatte Bellos also
entgegnet: »Aber die Anzahl der Krieger von Mona geht doch in die
Tausende. Und ihnen stehen noch einmal so viele Träumer zur Seite.
Vor allem sind die Träumer doppelt so gefährlich wie die Krieger.
Wie sollte jemals irgendeine Armee mit mehr Kämpfern aufwarten, als
wir es können? Zumal, wenn sie vorher erst einmal die Meerenge
überqueren müssen?«
Die Tür in Bellos’ Innerem, die sich ihm gerade
erst eröffnet hatte, schien sich wieder zu schließen, der Spalt,
durch den er nun noch spähen konnte, war schmaler geworden. Noch
immer saß der Junge reglos am Bachlauf. Seine Sinne waren so klar
wie noch niemals zuvor. Nie hatte er schärfer gesehen, was um ihn
herum geschah, und nie hatte er eindringlicher gespürt, was es
bedeutete, die Gabe des Sehens zu besitzen und zugleich mit einem
Verstand ausgestattet zu sein, der sich dieser Gabe mithilfe von
wirren Trugbildern hartnäckig zu widersetzen versuchte.
Doch nicht nur Bellos’ Empfindungen waren mit einem
Mal andere als noch vor wenigen Augenblicken, sondern auch mac
Calma schien plötzlich seltsam niedergedrückt. Trotzdem klang seine
Stimme freundlich, als er erwiderte: »Wir müssen die Legionen in
den Westen locken. Nur dann hat Breaca zumindest eine kleine
Chance, den Osten zu befreien. Und um das zu erreichen, müssen wir
wiederum Mona opfern.«
»Aber wie sollen wir Mona opfern?«
»Das wirst du schon noch sehen. Denn was mich
betrifft, so werde ich ganz bestimmt keine Leben opfern, nur um
noch ein paar mehr verzweifelte Helden zu schaffen. Alle, die hier
leben, werden vor der Invasion nach Westen gesandt. Sie werden nach
Hibernia übersiedeln. Die Schiffe warten bereits.«
»Aber dann gibt es doch niemanden mehr, um Mona
noch zu verteidigen.«
»Das stimmt nicht ganz. Wir werden Mona ja nicht
vollkommen unbewohnt zurücklassen. Und auch die Götter haben so
ihre Wege, um das, was ihnen gehört, zu schützen. Aber selbst dann
müssen wir noch damit rechnen, dass mindestens eine Legion die
Insel erstürmen wird, vielleicht sogar zwei. Und wenn dieser Tag
kommt, brauchen wir dich dringender, als wir jemals zuvor einen
Mann gebraucht haben. Und vorausgesetzt, dass unser Volk überhaupt
noch zu retten ist, dass es uns überhaupt noch nützen könnte, alles
Römische ein für alle Mal zu vernichten und aus unserem Land zu
vertreiben - wärst du dann bereit, all das zu lernen, was ich dich
über das Wandern zwischen den Welten lehren kann?«
Es schien, als ob in diesem Moment nicht nur Bellos
sondern ganz Mona den Atem anhielte. Das Plätschern des Bachs, das
Geplapper der Kinder vor dem Großen Versammlungshaus, ja, selbst
das Seufzen des Windes verstummte. Allein der Zaunkönig, der Tag
für Tag aus Bellos’ Hand fraß, sang hell und munter weiter. Die
Träumer sagten, dass der Zaunkönig der mächtigste aller Vögel sei.
Er wäre der Liebling der Götter, weil allein er noch höher fliegen
und noch weiter sehen könne als ein Adler. In diesem Moment, da
nichts die Klarheit seines Gesangs mehr übertönte, schienen die
melodischen Töne auf glitzernden Schwingen bis weit in den Himmel
emporzusteigen. Und schön wie Blätter im Herbst, die zuweilen ohne
den leisesten Hauch zu Boden sanken, schwebten dann, sacht, auch
die zirpenden Klänge des Zaunkönigs wieder auf die Erde
hinab.
»Wenn du wirklich glaubst, dass ich das schaffen
könnte«, hatte Bellos geantwortet, »dann will ich gerne mein Bestes
versuchen. Aber versprechen kann ich gar nichts.«
Noch einfühlsamer als sonst hatte der Reiher, der
doch eigentlich Luain mac Calma war, erwidert: »Die Götter
verlangen nie, dass wir eine bestimmte Sache auch tatsächlich
schaffen. Sie verlangen nur, dass wir es nach besten Kräften
versuchen.«
Drei Jahre lang hatte Bellos sein Bestes gegeben,
um alles, was mac Calma ihn lehren konnte, in sich
aufzunehmen.
Und mit jedem weiteren, durchaus erfolgreichen
Jahr, das verstrich, hatte er beobachtet, wie die Opferung Monas
immer näher rückte, vorangetrieben mit einer skrupellosen
Entschlossenheit, die ihn mehr und mehr entsetzte.
Eine nicht unwesentliche Rolle in dieser
Entwicklung hatte Valerius gespielt. Er hatte die Krieger von Mona
dem bevorstehenden Krieg entgegengeführt, damit die Evakuierung von
Mona auf dem kurzen Seeweg hinüber nach Hibernia ungehindert vor
sich gehen konnte. Die Evakuierung der Zuchtherden des
Pferdebestandes, von Träumern, Kindern und Vieh und allem, was
heilig war und irgendwie von der Stelle bewegt werden konnte.
Das Große Versammlungshaus allerdings ließ sich
nicht verrücken. Die Ahnen hatten es gebaut, um sowohl Wind und
Stürmen als auch den Mächten der Träumer standzuhalten, und sowohl
die breiten Balken, die seine Mauern stützten, als auch die Soden
auf dem Dach waren schon alt gewesen, als die Götter noch jung
waren. Das Versammlungshaus war ebenso sehr zu einem Teil von Mona
geworden, wie es die Klippen am Strand und die Wälder im
Landesinneren waren. All dies konnte man nicht mehr entwurzeln und
per Schiff in westlicher Richtung nach Hibernia transportieren,
ganz gleich, wie willkommen diese Wahrzeichen Monas auch gewesen
wären.
Mit seiner langen Ahnenreihe von Träumern, die in
diesem Haus gelebt hatten, und mit den Schnitzarbeiten entlang der
Dachbalken, die den Traum eines jeden Mitglieds des Ältestenrats
zeigten, und dies über Generationen hinweg, war das Große
Versammlungshaus von Mona zum größten all jener Opfer geworden, die
mac Calma der Erreichung seines Ziels unterordnete. Vor allem aber
schien das Rundhaus der ideale Köder, um den römischen Gouverneur
dazu zu verlocken, die Insel zu attackieren und damit seine
Streitmächte in eine Schlacht zu schicken, die sie einfach nicht
gewinnen konnten, denn der Feind, den sie schlagen wollten, hätte
das Schlachtfeld längst verlassen.
Und mac Calmas Plan ging durchaus auf. Selbst wenn
man die Opfer betrachtete, die ein jeder dafür bringen musste.
Zutiefst entsetzt, doch auch voller Bewunderung hatte Bellos mit
allen seinen Sinnen beobachtet, wie ein prinzipiell friedlich
gesonnener römischer Gouverneur niedergemetzelt wurde und dessen
Nachfolger, ein Mann, den man allein aufgrund seiner Fähigkeiten
als General ausgewählt hatte, in einen zunehmend brutaleren und
blutrünstigeren Krieg gegen die Silurer und die Ordovizer
verwickelt worden war. Denn genau diese beiden Stämme waren es, die
es über die gesamten zwanzig Jahre der Invasion hinweg stets
geschafft hatten, den Westen noch immer in der Hand der
Eingeborenen zu halten und ihn nicht an Rom zu verlieren. Unter mac
Calmas Führung hatten sie dann schließlich nach und nach und
augenscheinlich widerwillig dennoch den Rückzug angetreten und auf
diese Weise die Legionen, als der Sommer in den Herbst überging und
die Kampfsaison endete, langsam und Stück für Stück in Richtung
Westen gelockt.
Der römische Gouverneur, der glaubte, der Sieg sei
somit in greifbare Nähe gerückt, hatte kaum den Frühling
abgewartet, ehe er mit seinen Truppen abermals aufgebrochen und
unaufhaltsam voranmarschiert war, bis er schließlich mit zwei
kompletten Legionen und acht Kavallerieflügeln in jenen Tälern
dicht an der Westküste von Britannien kampierte, von denen aus es
nur noch einen halben Tagesritt bis hinab zu jener Meerenge mit
ihren gefährlichen Strömungen war, die die Insel Mona
bewachte.
Solch eine riesige Armee, und das alles nur, um
eine Insel einzunehmen und zu unterwerfen, die so klein war, dass
ein Krieger auf einem wohltrainierten Pferd sie binnen eines Tages
umrunden konnte.
Im Übrigen hatten die Legionen trotz ihrer Stärke
Angst vor Mona und den Frauen und Männern, die dort unter dem
Schutz der Götter lebten. Und allen auf Mona war diese Angst
bewusst, ganz gleich, welche Form ihre Visionen auch haben mochten
und welche Art des Träumens sie praktizierten. Nun ging es also
bloß noch darum, in Erfahrung zu bringen, von welcher Gestalt die
Ängste der Legionare waren, wie groß sie waren und was für ein
Wesen sie besaßen. Nichts anderes war Bellos’ Ziel, wenn er neben
dem erloschenen Feuer ausharrte und sich bemühte, sein Bewusstsein
über die Grenzen seines Körpers hinaus auszudehnen, ganz so, wie
man es ihn gelehrt hatte.
Mit zunehmender Übung fiel ihm diese Aufgabe immer
leichter. Der schwerste Teil war immer der, wenn er im Geiste die
schmale Wasserfläche zu überqueren hatte, die das Festland von der
Insel trennte. In der Welt der Gesunden und mit ihren Augen
Sehenden strömten die Wasser der Götter an jener Stelle grau und
wild und galten als unberechenbar. Ständig veränderte sich die Lage
ihrer Sandbänke, und verborgene Strudel zogen all jene, die Mona zu
erobern versuchten, gierig hinab in die Tiefe. In der Welt von
Bellos aber war das Meer eine Kluft von unauslotbarer Tiefe, das
weniger die Körper als vielmehr die Seelen der Menschen in sein
leeres Herz hineinsaugte und sie dort zermahlte.
Es war weniger als zwei Tage her, dass Bellos
endlich einen Weg über die Meerenge gefunden hatte. Eine kurze
Bemerkung, die mac Calma früher einmal gemacht hatte, lieferte ihm
den entscheidenden Hinweis, wie er die Kluft überbrücken könnte.
Vergiss nie, dass sowohl diese Welt als auch die anderen Welten
bloß eine Illusion sind. Und selbst wir, die wir hinüberblicken
können in diese anderen Welten, sehen nur, was wir sehen wollen,
und allein unser Blick lässt die Dinge ihre vermeintlich reale
Gestalt annehmen.
Schließlich, da Bellos die tiefere Bedeutung hinter
diesen Worten verstanden hatte, konnte er die Kluft, die die
Meerenge zwischen Insel und Festland in seinem Kopf darstellte,
zumindest zum Teil als das Produkt seiner eigenen Fantasie
betrachten. Neun ganze Tage lang hatte er sich also nur darauf
konzentriert, diese vage Sicherheit im Umgang mit der Kluft in
seinem Geist zur felsenfesten Gewissheit reifen zu lassen. Dann,
endlich, wusste er, dass die Kluft lediglich ein Trugbild
seiner verängstigten Seele war.
Es war an jenem klaren und kalten Frühlingsmorgen,
als im Land der Eceni die Wildgänse den Tod eines römischen Melders
beklagten, dass Bellos wieder einmal im Großen Versammlungshaus auf
seine innere Stimme lauschte. Zwischen den fernen Gebieten der
Eceni und ihm lag eine Strecke, für die man selbst zu Pferde
mindestens einen halben Monat brauchte. Mutig wanderte Bellos durch
jene wundersame Welt, die nur allein er sehen konnte, und schritt
über die Meerenge, die Kluft der Götter, als bestände diese nicht
aus reißendem Wasser, sondern wäre ganz aus festem Stein. Und dann,
zum ersten Mal in seinem Leben, schaffte er es, seine Intuition bis
auf das Festland von Britannien zu erstrecken.
Eine stille Befriedigung überkam ihn, als er die
Klippen und den Seetang an den fernen Ufern sah. Leider aber
verblasste dieser Ausblick sofort wieder, dauerte kaum so lange wie
ein Herzschlag. Und selbst als Bellos ganz bewusst noch einmal
einen Moment innehielt und versuchte, sich an diesem unbekannten
Ufer ein wenig umzuschauen, schien es, als ob bereits eine Mauer
aus undurchdringlichem Nebel sich um ihn schlösse. Der Nebel war
ein Produkt der Legionare, war die Folge von zu viel Wein, von
quälender Erschöpfung und von wüsten Träumen, die die Männer bis in
die dunkelsten Tiefen ihres Unterbewusstseins verbannt
hatten.
Mit den Monaten und Jahren, die seit seiner
Erblindung vergangen waren, hatte Bellos sich daran gewöhnt, zwar
nicht die reale Welt, dafür aber vielerlei andere, den Menschen
sonst nicht sichtbare Facetten der Wirklichkeit sehen zu
können.
Nun stand er scheinbar an den Ufern des
gegenüberliegenden Festlandes, und abermals schloss sich eine Mauer
des Nichtsehenkönnens um ihn. Als ob er ein zweites Mal mit
Blindheit geschlagen worden wäre, stolperte er in seiner
Vorstellung über Felsbrocken, streckte die Arme schützend nach vorn
und fühlte sich wieder an die grausamen Tage seiner Kindheit
erinnert. Jene Tage, als man ihn in der Hafentaverne in Gallien zur
Prostitution gezwungen hatte - bis Manannan, der Herr der Meere,
seinen kalten, undurchdringlichen Seenebel in die kleine Stadt
sandte und plötzlich alle wie geblendet waren von seinem weißen
Dunst.
Zwar war Bellos nicht mehr der kleine Junge in
Gallien, sondern in seiner Vorstellung stand er am Strand von
Britannien, und dennoch schoss jäh die Angst durch seinen Körper,
und er geriet in Panik. Er wurde unvorsichtig. Er spürte, wie er
stürzte, wie er nach vorn fiel, ganz so, als ob sein Traumkörper,
mit dem er über den Strand von Britannien wanderte, von echtem
Fleisch und Blut wäre und sogar ein gewisses Gewicht besäße, ein
Körper, der an den scharfkantigen Klippen des Ufers leicht in
Stücke zerrissen werden könnte. Dann aber ertönte mac Calmas Stimme
und gab Bellos Halt: Vergiss nie, dass sowohl diese Welt als
auch die anderen Welten bloß eine Illusion sind...
Eine Illusion. Nichts weiter. Bellos atmete tief
ein, ließ die Felsen in seiner Vorstellung etwas weniger scharf
aussehen und beschenkte sich selbst mit jenem fast schon
traumwandlerisch sicheren Gleichgewichtssinn, wie Valerius ihn
oftmals während seiner akrobatisch anmutenden Kampfhandlungen
gezeigt hatte. Während er nun schon ein wenig fester auf seinen
imaginären Beinen stand, verdrängte er alles, was sich in seine
Wahrnehmung zu schummeln und ihn zu verunsichern versuchte, und
konzentrierte sich allein auf den festen Boden unter seinen Füßen.
Schließlich stand er sicher und unverrückbar auf der Erde, die er
sich selbst geschaffen hatte. Die Nebel, die ihn in seiner Kindheit
heimgesucht hatten, hatten eine Art schneidende Qualität gehabt,
sie waren nass gewesen und kalt und hatten sein damaliges Leben
widergespiegelt. Ein Leben, so ganz anders als das, das er heute
führte. Diese Erkenntnis, das Wissen, dass sein heutiges Dasein ein
vollkommen anderes war als in den Tagen seiner Kindheit, ließ seine
Angst schließlich wieder weichen. Und mit einer weiteren
Kraftanstrengung schob Bellos die Erinnerungen an die Vergangenheit
einfach beiseite und erinnerte sich stattdessen an die Wärme im
Großen Versammlungshaus im Winter, wenn in sämtlichen Feuerstellen
helle Feuer brannten, und er dachte auch an die Fürsorge, mit der
man sich nun um ihn kümmerte.
So eingelullt in angenehme Assoziationen, wagte
Bellos es erneut, seine Wahrnehmung in Richtung jenes dichten, fast
schon mit Händen zu greifenden Gewebes auszudehnen, zu dem sich die
Albträume tausender Männer verwoben hatten. Und dieses Mal traf
Bellos nicht wieder auf eine aus Nebelschwaden geschaffene
Mauer.
Stattdessen atmete er tief ein, nahm die Hoffnungen
und die Ängste der Legionen in sich auf. Sein Kopf brummte geradezu
angesichts der Vielzahl von Mythen und Gerüchten von Männern, die
zu lange in einem Land gekämpft hatten, in dem sie von Anfang an
nicht willkommen gewesen waren, und die schließlich in ihren
Schlachten zugrunde gingen. Er lauschte auf längst verhallte
Zwiegespräche, die die erschöpften Männer sich kurz vor dem
Einschlafen wieder ins Bewusstsein zurückriefen, Gespräche, in
denen sie das Wetter verfluchten, die blutgierigen Insekten
verdammten, über das schlechte Essen schimpften, sich über die
Sümpfe, den Treibsand und die sich unentwegt aufs Neue
wiederholenden Verstümmelungen von getöteten Legionaren beklagten
und all dies Göttern zur Last legten, die allein die Stämme der
Eingeborenen zu unterstützen schienen und die Römer hassten.
Dennoch waren all diese Ängste noch sehr
unspezifisch. Keine von ihnen hätte sich von den Träumern zu einem
solchen Monster aufbauen lassen, dass sich damit die Eroberung von
Mona hätte verhindern lassen.
Bellos machte sich auf die Suche nach jener ganz
besonderen Angst, die allen Legionaren gemeinsam war. Er machte
sich auf die Suche nach seinem höchsten Ziel. Als Erstes
verschaffte er sich klare Sicht. Klare Sicht auf jede einzelne
Kleinigkeit, die sich um ihn herum befand. Stück für Stück ordnete
er das Durcheinander an Sorgen und Nöten. Dann verflocht er die
dünnen Nebelfäden gleichenden Ängste der Männer zu feinen Strängen,
damit er diese noch leichter aus deren Köpfen hervorlocken und
herausziehen konnte, ohne jedoch dabei die Legionare zu
erschrecken. Die Soldaten, die auf diese Weise ihrer Sorgen beraubt
wurden, würden am Morgen noch dickere Brummschädel haben als sonst.
Sie würden glauben, sie hätten am Vorabend noch mehr getrunken, als
ihnen eigentlich bewusst gewesen war. Vor allem aber zeigte sich
Bellos damit die ganze Grausamkeit und die ganze schreckliche
Farbenpracht der Albträume der römischen Soldaten, traten klar die
Sorgen vor sein geistiges Auge, während er langsam immer mehr
Stränge miteinander verflocht und schließlich jene feinen Nuancen
der Furcht zu erkennen glaubte, die allen Männern gemeinsam
waren.
Bellos arbeitete sich gerade zur Mitte des
Feldlagers vor, dorthin, wo die Offizierszelte errichtet worden
waren, als er plötzlich einen winzigen Lichtpunkt entdeckte. Nicht
größer als ein Stecknadelkopf im dunklen Gewebe der Ängste, zeigte
dieses Licht Bellos an, dass er hier auf einen weiseren,
sensibleren Geist getroffen war. Er beobachtete das Licht eine
Weile lang, betrachtete es jedoch nur indirekt und schaute es
niemals unmittelbar an, damit der Unbekannte seinen Beobachter
nicht letzten Endes gar noch wahrnähme. Von diesem einen Mann
sammelte Bellos keinen jener feinen Gedankenfäden ein, die er den
anderen geraubt hatte. Stattdessen schritt er vorsichtig an dem
Unbekannten vorüber, die langsam bereits wieder zerfallenden
Gedankenstränge der übrigen Legionare wie einen Mantel um sich
gelegt. Doch selbst unter dem Schutz der wirren Ängste der
Legionssoldaten schien jener andere seinen Beobachter intuitiv
erkannt zu haben. Er schien sogar regelrecht nach ihm zu tasten,
ganz so, als ob sie beide, Bellos und der Unbekannte, mehr
gemeinsam hätten, als ihnen beiden bewusst war.
Plötzlich geriet Bellos ins Wanken, Überraschung
und Furcht schienen ihm jäh den Boden unter den Füßen zu entziehen.
Warnend breitete sich eine Woge der Kälte in seiner Brust aus.
Irgendjemand hatte gerade das Große Versammlungshaus betreten,
Bellos war nicht mehr allein.
Während er sich fest an die Gedankenstränge
klammerte, die er gewoben hatte, wählte Bellos den leichtesten und
raschesten Rückweg in die Welt seines Herzens, zurück in sein ganz
normales, alltägliches Leben. Er öffnete die Augen, blickte in die
ihn umschließende Dunkelheit und spürte, wie ein gerade erst
entzündetes Feuer die Luft aufwirbeln ließ.
»Luain mac Calma.« Einige Menschen erkannte Bellos
allein schon an der Art, wie sich die Atmosphäre um ihre Person zu
schmiegen schien. »Ich dachte, du wärst auf Hibernia, um den Bau
des neuen Versammlungshauses zu beaufsichtigen. Das Haus, in dem
sich die Evakuierten einrichten sollen.«
Reglos saß Bellos’ Lehrer neben der Feuerstelle,
und von dem Boden zwischen seinen Füßen stieg der Geruch frischen
Rauchs auf. »Ja, dort war ich auch«, entgegnete mac Calma. »Das
Rundhaus ist fertig, oder zumindest fast. Meine Anwesenheit dort
ist nicht mehr unbedingt erforderlich, du brauchst mich jetzt
dringender.«
»Glaubst du wirklich, dass ich auf dich angewiesen
wäre?« Bellos fühlte, wie er sich unwillkürlich versteifte. »Habe
ich mich etwa in Gefahr begeben, ohne es zu merken? Oder habe ich
irgendeine der Aufgaben, die du mir gestellt hattest, doch nicht zu
deiner Zufriedenheit bewältigt?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Sag du es mir.«
Eindringlich wurde Bellos bewusst, wie geschickt mac Calma es
verstand, sein Wesen vor den Menschen um ihn herum zu verbergen. Er
war der Einzige von sämtlichen Kriegern und Träumern, die Bellos
während seiner Übungsstunden auf dem rein mentalen Wege aufgesucht
hatte, der es verstand, die anderen nur das von sich erkennen zu
lassen, was er auch wirklich zeigen wollte. Nun, in diesem Moment,
entdeckte Bellos eine feine Spur von Belustigung in mac Calmas
Aura, er sah den schelmischen Geist des Reihers und beobachtete
schließlich voller Verwunderung, wie Belustigung und Schalk zu
einem sanfteren, weicheren Etwas zu verschmelzen schienen.
»Es tut mir leid. Das war nicht ganz aufrichtig von
mir. Es war sogar schlichtweg gelogen. Nicht deine Wanderungen
durch die Welt der Visionen sind der Anlass, weshalb ich hier bin.
Eine ganz andere Aufgabe ist der Grund.« Damit erhob Luain mac
Calma sich und trat von der Feuerstelle zurück. Er klang wie
Valerius, schien seinem Sohn zumindest stimmlich noch ähnlicher als
sonst. »Die ganzen zwanzig Jahre seit dem Einfall der Legionen habe
ich nun schon beobachtet, wie die Stämme trotz meiner Anstrengungen
und der verzweifelten Gegenwehr der anderen immer tiefer in die
Knechtschaft getrieben worden sind. Und die Chance, die wir nun
haben, um uns aus diesem traurigen Dasein wieder befreien zu
können, ist vielleicht nicht unsere letzte Chance, aber es ist mit
Sicherheit die beste, die sich uns je geboten hat. Sollten wir es
also tatsächlich schaffen, Suetonius Paulinus und seine beiden
Legionen komplett auf unsere Insel zu locken und sie hier zu
vernichten, besteht die berechtigte Hoffnung, dass auch Breaca und
Valerius Erfolg haben könnten mit ihrem Vorhaben im Osten.
Vielleicht würde es sogar schon reichen, wenn wir die beiden
Legionen einfach nur empfindlich schwächen könnten... Denn wenn
Valerius und Breaca Camulodunum einnehmen und dort unseren Gott
zurück auf seinen Thron befördern, dann, vielleicht, werden wir
endlich beenden können, was wir schon vor so langer Zeit begonnen
haben. Wir werden erwachen in einem Land, das frei ist von der
Plage Roms... vielleicht. In jedem Fall liegt der Beginn dieser
ganzen Entwicklung hier und jetzt auf Mona.«
Abermals nistete sich jene plötzliche, unbehagliche
Kälte in Bellos’ Brust ein. »Trotzdem hast du mir noch nicht meine
Frage beantwortet«, entgegnete er. »Habe ich meinen Teil in dieser
Angelegenheit etwa nicht vernünftig ausgeführt?«
»Aber ganz im Gegenteil. Allein ich bin es, der
womöglich gerade versagt. Ich habe es riskiert, Mona und sämtliche
Kostbarkeiten auf dieser Insel aufs Spiel zu setzen. Rund
einhundert Generationen von Mitgliedern des ständigen Ältestenrats
haben hier, in diesem Haus, die Ausbildung ihres Geistes erfahren.
Und ausgerechnet ich bin nun derjenige, der all dies in Flammen
aufgehen lässt, um jene Dinge zu schützen, die meiner Ansicht nach
noch wertvoller sind. Aber es könnte durchaus sein, dass ich mich
irre. Womöglich ist dies nun der größte Fehler, den ein Mann, der
sein Leben doch eigentlich im Angesicht der Götter leben sollte,
jemals begangen hat. Vielleicht hat sich noch nie jemand dermaßen
selbst überschätzt. Und genau darum muss ich hier sein, wenn es
passiert. Nur so werde ich erfahren, ob es richtig war, wie ich
gehandelt habe, oder grundfalsch.«
Das Feuer schenkte ihnen wohlige Wärme, und in der
Stille, die folgte, bekam Bellos erstmals eine vage Ahnung davon,
wie Luain mac Calma aussah, wenn er die Gestalt seines Geistes
nicht mehr zu verbergen versuchte, wenn er seinen Schüler, den
Blinden, der zwischen den Welten wanderte, einen Blick auf sein
wahres Ich werfen ließ.
»Die Legionen fürchten sich davor, die Meerenge zu
überqueren«, erklärte Bellos. »Sie glauben, dass sich darin
Seeschlangen und die Geister von Frauen tummeln. Frauen, die die
Männer mit ihren Gesängen erst anlocken und dann ertränken. Sie
haben Angst vor den Kriegern, jenen Männern und Frauen, die sich
nicht etwa in Reih und Glied aufstellen, um zu kämpfen, sondern die
aus dem Schutz des Waldes heraus töten und von den Bergketten
herabstoßen. Vor allem aber fürchten sie sich vor den Träumern.
Ihre Kommandeure haben ihnen erzählt, dass wir angeblich lebende
Menschen in die Flammen stoßen würden, um anhand ihrer Schreie die
Zukunft zu entschlüsseln. Sie alle haben bereits den Circus Maximus
in Rom kennengelernt, und allein die bloße Vorstellung, dass ein
ähnliches, qualvolles Sterben nun auch ihnen, den Legionaren,
bevorstehen könnte, lässt sie vor lauter Furcht fast schon tot
umfallen. Falls wir es also schaffen könnten, ihnen bereits im
Vorfeld der Schlacht schon einmal irgendeines dieser schauerlichen
Spektakel vorzuspielen, dann hätten wir sie quasi schon besiegt,
kaum dass sie auch nur einen Fuß auf diese Insel setzen.«
»Oder aber sie kämpfen dann mit jener vollkommen
angstfreien Selbstvergessenheit von Männern, die bereits wissen,
dass ihr Leben ohnehin verwirkt ist, und die nur noch den sauberen
Tod im Kampf suchen. Ich habe dergleichen schon gesehen, und zwar
nicht nur in den Reihen der Legionen. Zuweilen, wenn die Angst am
größten ist, verwandelt sie sich plötzlich in eine wahre
Kampfeswut, und dann lässt sich das Handeln der Männer überhaupt
nicht mehr steuern. Aber es ist gut zu wissen, wovor genau sie sich
fürchten. Damit können wir in jedem Fall schon einmal etwas
anfangen. Ich danke dir.« Mac Calma tippte leicht mit den
Fingerspitzen gegen Bellos’ Knie, eine Geste, wie er sie schon ein-
oder zweimal zuvor gemacht hatte, während sie gemeinsam die
visionären Talente des Jungen trainierten. »Ich kann mir ungefähr
vorstellen, wie schwer das für dich gewesen sein muss. Und
vielleicht werden wir dich noch einmal brauchen. Wärst du also
bereit, diese Aufgabe abermals auf dich zu nehmen?«
»Es war wirklich keine große Anstrengung für mich«,
antwortete Bellos. »Und wenn wir damit Rom schlagen können, bin ich
bereit, alles zu tun, worum du mich bittest. Egal, wie lange das
auch dauern mag.«
»Gut. Heute Nacht aber werde ich dich um nichts
mehr bitten. Du musst schlafen. Thorn hat ein kleines Feuer in
deiner Hütte entzündet. Wenn du dich jetzt auf den Weg machst, ist
sie vielleicht noch da, wenn du ankommst.«
In der Tat, Thorn war noch in Bellos’ Hütte, als
dieser durch die Tür trat. Genau wie mac Calma, so behandelte Thorn
auch ihn, den Blinden, keineswegs behutsamer, als sie auch jeden
anderen Menschen behandelte. Dafür war Bellos ihr täglich aufs Neue
dankbar. Sie war warm und großzügig und freute sich stets, ihn zu
sehen. Und auch das verschlug ihm jedes Mal wieder die Sprache und
erfüllte ihn mit Verwunderung und tiefster Dankbarkeit.
In Gallien hatte er sich als Kind prostituieren
müssen. Männer hatten ihn benutzt und waren dabei keineswegs sanft
mit ihm umgegangen. Und wenn er zurückgeschreckt war vor den
aufdringlichen Annäherungsversuchen der Kerle, dann hatte der
Tavernenwirt ihn zur Strafe verprügelt. Zwar hatte auch Bellos sein
eigenes Verlangen nach Zuwendung entwickelt, doch er hatte schon
früh gelernt, diese Sehnsucht niemals auf einen Menschen zu
richten, denn in der Intimität mit einem Menschen lag stets auch
die Quelle für neuen Schmerz. Dann aber war Valerius in sein Leben
getreten. Valerius mit seiner behutsamen, übervorsichtigen Art,
seiner in gewisser Weise fast schon wieder quälenden Rücksichtnahme
auf das Kind, das er aus dessen Martyrium befreit hatte. Stets
hatte Valerius sich bemüht, Bellos zu beweisen, dass er niemals
irgendetwas von dem Jungen fordern würde, das dieser nicht selbst
wollte.
Bellos hätte nie gedacht, dass es irgendwann einmal
einen Mann geben würde, der ihn zurückwies. Auch hätte er nie für
möglich gehalten, dass diese Zurückweisung ihm dann etwas ausmachen
würde. Folglich hatte es eine Weile gedauert, ehe der Schmerz über
Valerius’ Ablehnung wieder verblasst war, und erst vor noch gar
nicht allzu langer Zeit war es ihm gelungen, die Ursache dafür und
den Schmerz in Valerius’ eigener Seele nachzuempfinden. Erst in
diesem Moment hatte Bellos begriffen, weshalb Valerius ihn mit
einer solch panischen Vorsicht behandelte. Und erst mit dieser
Erkenntnis in seinem Herzen hatte er Valerius wirklich geliebt und
sich ehrlich nach ihm verzehrt. Abermals war eine lange Phase der
Heilung eingetreten, ehe endlich so etwas wie wahre Freundschaft
zwischen Bellos und Valerius erwachsen konnte. Doch diese
Freundschaft war kein schwaches Pflänzchen geblieben, sondern hatte
sich zu einem starken Baum entwickelt. Das zumindest glaubte
Bellos, und er hütete dieses Bewusstsein sorgsam in seiner
Seele.
Nachdem sein Freund schließlich in Richtung Osten
aufgebrochen war, war Thorn gekommen, um sich um Bellos zu kümmern.
Auch sie hatte ihn nie mit ihrer Zuneigung erdrückt und war somit
schließlich zu einem solch elementaren Bestandteil in seinem Leben
geworden wie der Zaunkönig, der täglich aus seiner Hand fraß. Nie
hatte sie Bellos zu irgendetwas gedrängt. Erst ganz langsam hatte
er verstanden, was sie bewegte, sodass die letzten Schritte in eine
noch tiefere Beziehung miteinander schließlich allein von ihr
ausgegangen waren. Aber sie war dabei sehr langsam und vorsichtig
vorgegangen, sodass er, als sie in seinem Bett gelegen und ihren
Körper um den seinen geschlungen hatte, zuerst noch gar nicht so
recht gewusst hatte, was gerade mit ihm geschah. Erst später hatte
er begriffen, wie richtig all dies war, dass darin keinerlei Gefahr
auf ihn lauerte und dass weder Thorn noch er unter der Entwicklung
ihrer Beziehung leiden würden. Und er erkannte, wie ehrlich und
sehnsuchtsvoll ihr Herz für ihn schlug und wie aufrichtig sein
Sehnen nach ihr war. Ein Sehnen, so intensiv, wie er es nie für
möglich gehalten hätte. Und er konnte sich auch nicht vorstellen,
dass er sich jemals noch stärker nach etwas verzehren könnte,
ausgenommen vielleicht die Rückkehr seines Augenlichts.
Als mac Calma Bellos eine neue Art von Sehen
ermöglichte, hatte diesen plötzlich die Angst überkommen, dass sein
Verlangen nach Thorn damit wieder nachlassen könnte. Dann aber
hatte er festgestellt, dass seine Sehnsucht nach ihrer Nähe
keineswegs weniger wurde und seine anschließende Freude sogar noch
größer war. Er konnte sich kein schöneres Geschenk denken, als die
herzliche Begrüßung, die sie ihm bei seiner Rückkehr bereitete, als
er nun ausgekühlt und erschöpft vom Großen Versammlungshaus zu
seiner Hütte lief und sie bereits auf ihn wartete. Es brannte ein
kleines Feuer, und sie rieb seine Hände, um sie zu wärmen, und aus
dem Kessel stieg der Duft nach geschmortem Hasen auf. Thorn
plauderte mit einer solch magischen Stimme mit ihm, dass er
augenblicklich wieder zurückbefördert wurde in jene Welt, in der er
vielleicht blind sein mochte, wo er aber andererseits die Arme nach
Thorn ausstrecken, sie an sich drücken, die Konturen ihres Körpers
und ihres ganzen Wesens erforschen konnte, ein Wunder, das er von
ihren ersten Zärtlichkeiten an täglich aufs Neue erlebte.
Vorsichtig stellte Bellos die Schüsseln beiseite,
wobei er sorgsam darauf achtete, eventuelle Essensreste nicht zu
verschütten. Verführerisch lehnte Thorn sich zu ihm herüber und
neckte ihn. An ihr haftete der Geruch des Meeres und der Duft des
Holzes, das sie vom Waldboden aufgelesen hatte, und natürlich jener
würzigen Nuance, die ihre ganze Gestalt zu umschweben schien. Ihre
Haut war glatt wie ein polierter Stein, und ihr Haar fühlte sich
wie gesponnene Wolle unter seinen Fingern an. Bellos hatte nicht
die leiseste Vorstellung davon, welche Farbe ihr Schopf wohl haben
mochte.
Er ließ sich von Thorn zu dem Stapel von
Pferdedecken hinüberziehen, der ihnen als gemeinsames Bett diente,
ließ sich von ihr zärtlich in die Arme nehmen, so als ob er ein
Kind wäre. Voller Verlangen drückte sie sich mit ihren Brüsten und
ihrem Geschlecht gegen seinen Rücken, und das Gefühl ihres warmen,
weichen Körpers dicht an dem seinen holte Bellos schließlich
vollends wieder in die Realität zurück, sodass ihm erst in diesem
Moment wirklich bewusst wurde, wie tief er tatsächlich in die
jenseitigen Welten vorgedrungen war. Unter anderen Umständen hätte
ihn dies vielleicht beunruhigt, doch sein Bedürfnis danach, Thorn
zu lieben und mit ihr zu verschmelzen, war in diesem Moment derart
drängend, dass Bellos diesen Gedanken einfach beiseiteschob, sich
kurzerhand herumrollte, mit beiden Händen Thorns Gesicht umfasste,
um es mit einer Spur von Küssen zu überziehen, und dann geduldig
wartete, bis ihr hastig gehender Atem ihm verriet, dass ihr
Verlangen ebenso stark war wie das seine. Erst da drang er in sie
ein.
Später, als ihr Hund ihm den Rücken wärmte und
Thorn seine innere Glut zärtlich noch immer leicht am Schwelen
hielt, sagte er leise zu ihr: »Ich dachte, du wärst gemeinsam mit
den anderen Träumern nach Hibernia aufgebrochen?«
»Das war ich auch.« Bellos konnte spüren, wie ihre
Lippen, die dicht an seinem Hals lagen, sich zu einem Lächeln
verzogen. »Aber ich bin wieder zurückgekommen. Mac Calmas Träume
haben gezeigt, dass ich hier sein muss, wenn die Legionen
kommen.«
Zum dritten Mal in dieser Nacht spürte Bellos, wie
die Kälte sich in seine Brust schlich. Sanft hatte er mit den
Fingern über Thorns Haar gestrichen, nun hielt er abrupt inne.
»Und«, fragte er heiser, »sagen seine Träume auch irgendetwas
darüber aus, ob du noch lebst, wenn die Römer wieder
verschwinden?«
Missbilligend biss sie ihn zart in sein
Schlüsselbein. »Im Augenblick sagen die Träume noch überhaupt
nichts über die Ereignisse nach der ersten Schlacht. Wir müssen
schon selbst dafür sorgen, dass die Zukunft sich so gestaltet, wie
wir sie uns wünschen. Und genau darum bin ich hier.«