XLI
Zum ersten Mal in Breacas Leben schmiegte der
Torques der Eceni sich widerstandslos um ihren Hals. Die Träumerin
der Ahnen schwieg, zischte ihr nicht mehr - wie sonst - unheilvolle
Warnungen zu, Ermahnungen, dass sie sich vor dem Hochmut hüten
solle. Der Sonnenhund quälte sie nicht mehr länger mit
Prophezeiungen von einem düsteren Schicksal, falls sie seine
Blutlinie oder die ihre versiegen ließe. Und auch die mit dem
Königsreif verbundene Bürde, das schwere Erbe der Zeremonien von
Hunderten von Generationen, lastete diesmal nicht mehr auf ihr,
verlangte nicht mehr, dass Breaca sich dieser, dem massiven
goldenen Reif innewohnenden, Macht auf alle Fälle würdig erweisen
müsse.
Rot glühten in der nahen Finsternis die letzten
Flammen des Scheiterhaufens einer einstigen Kriegerkameradin.
Breaca hatte sich dicht neben den Scheiterhaufen gesetzt und war
nun die Einzige, die noch wach war, hier, inmitten von Tausenden,
nein, Zehntausenden von Menschen. Bald würde der Morgen der
entscheidenden Schlacht heraufziehen. Warm wie eine lebendige
Schlange lag der Königsreif auf ihrer Haut, das Bedrohliche jedoch
war aus ihm gewichen. Dennoch fühlte Breaca seine Gegenwart ebenso
eindringlich, wie sie auch Valerius’ Traumhund spürte, ein Wesen,
das irgendwo, ganz am äußersten Rande des Fassbaren, stumm lauerte
und einem nichtsdestotrotz Trost und Wohlbehagen, ja sogar ein
gewisses Maß an Schutz zu schenken vermochte.
»Der Hund ist Valerius’ Traum.« Volltönend erklang
hinter Breaca eine Stimme. »Der Schlangenspeer dagegen gehört dir.
Ein jeder von euch hat seinen ganz persönlichen Schutzgeist -
behaltet ihn fest in euren Herzen.«
»Ich dachte, du würdest schlafen?«
»Habe ich auch.« Airmid setzte sich auf und rückte
ein Stückchen um Breaca herum und schließlich neben sie.
»Aber sobald die Morgendämmerung anbricht, wird
Efnís uns wieder verlassen, er wird zurückreisen zu Luain mac
Calma, um ihm davon zu berichten, was wir planen. Und vorher muss
ich unbedingt noch einmal mit ihm sprechen … Aber das muss nicht
jetzt sofort sein. Dafür bleibt noch Zeit genug, ehe es hell
wird.«
Zeit, die sie beide miteinander genießen könnten.
Umfangen von der Dunkelheit lehnten sie sich aneinander, Schulter
an Schulter, schenkten einander Wärme, spürten den Atem der jeweils
anderen sanft über die eigene Haut streichen. Sie hatten noch nie
jenen weit verbreiteten Ritus gepflegt, sich am Morgen vor einer
Schlacht voneinander zu verabschieden. Allein das Gefühl der
Zusammengehörigkeit war an diesen Tagen besonders stark, und die
Zeit schien dann jedes Mal ein bisschen langsamer zu verstreichen,
bis plötzlich alles schneller zu gehen schien als jemals
zuvor.
Auch in diesem Augenblick, da sie beide vor Braints
Scheiterhaufen saßen und bald die Morgendämmerung heraufzöge,
verging die Zeit wieder langsamer, ganz so, als ob der Puls der
Erde noch schliefe.
Schweigend saßen sie nebeneinander, Heilerin und
Geheilte, und beobachteten das Feuer. Schließlich löste Breaca den
Torques wieder von ihrem Hals und balancierte ihn auf ihren Knien.
»Als du mir nach Tagos’ Tod diesen Reif hier gabst, hatte ich das
Gefühl, dass das Stück regelrecht lebte. Als ob dieser Reif jene
Schlange wäre, die sonst den Schlangenspeer umschlingt, und als ob
diese Reifschlange von der Macht der Träumerin der Ahnen erfüllt
wäre.«
»Und jetzt? Wie fühlt er sich jetzt an?« Schwer
hatte Airmid den Kopf auf Breacas Schulter gelegt. Breaca konnte
sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn dieses Gewicht
irgendwann einmal nicht mehr auf ihrer Schulter lasten würde oder
dass einmal eine Zeit heranbrechen könnte, in der sie nicht mehr
beieinandersäßen, so wie noch in diesem Augenblick.
»Jetzt fühlt er sich irgendwie leer an. Nicht tot,
sondern einfach nur leer, wie ein Gefäß, dessen Inhalt man
ausgegossen hat und das nun darauf wartet, wieder gefüllt zu
werden.«
»Und genau das ist der Reif auch - ein Gefäß«,
stimmte Airmid ihr zu. »Alles, was ursprünglich in dem Reif lebte,
lebt nun in dir. Kannst du es fühlen?«
»Ja.«
Breaca drehte den Königsreif zwischen ihren Händen.
Die Kunstfertigkeit, mit der er gefertigt wurde, raubte ihr noch
immer den Atem. Die Ahnen hatten noch viel mehr Zeit besessen,
hatten noch gelernt, das Gold auf eine Weise zu formen, wie
Schmiede, die unter der Aufsicht Roms arbeiten mussten, es niemals
mehr vollbringen könnten. In seiner Einfachheit lag zugleich auch
seine besondere Schönheit, ebenso wie in der unbeschmutzten
Reinheit des roten Goldes der Silurer und dem Flechtwerk aus
einzelnen Fäden und schließlich den offenen Ringen an den beiden
Reifenden, durch die der Träger des Reifs seine Kriegerfedern
ziehen durfte. Nun jedoch steckten keine Kriegerfedern in den Ösen
des Torques und hatten ihn auch schon seit dem ersten Jahr der
römischen Invasion nicht mehr geschmückt.
Airmid strich mit einem Finger über das Geschmeide,
umfasste mit der Hand die beiden Reifenden und schloss damit die
Lücke. »Falls du jetzt wieder der Tradition folgen willst, den Reif
während der Schlacht um deinen Hals zu tragen, dann sollte statt
des Königsreifs irgendetwas anderes von dir hier, jenseits des
Schlachtfeldes, verbleiben. Etwas, das dich symbolisiert. Warte...«
Damit langte Airmid nach ihrem Reisegepäck und zog eine aus Silber
gearbeitete Feder hervor. Sie maß allerdings nur etwa ein Drittel
von der Länge einer echten Krähenfeder, besaß noch einige deutlich
erkennbare Punzspuren und war an der einen Seite leicht
abgeknickt.
»Und ich dachte immer, die Männer des Prokurators
hätten all diese Dinge mit sich genommen«, erklärte Breaca beim
Anblick dieses Stücks erstaunt.
»Ja, das dachte ich auch.« Airmid hielt die Feder
auf der flachen Hand, sodass der Schein des Feuers sie in goldenes
Licht tauchte. Mit einem Stückchen roten Garns, das die Heilerin
ebenfalls bei sich hatte, begann sie nun, den Kiel der Feder zu
umwickeln. »Gunovar hatte diese Feder, nachdem die Männer wieder
abgezogen waren, in der Ruine von Tagos’ Hütte gefunden. Sie gab
mir das Schmuckstück, damit ich es gut verwahren solle, so lange,
bis du wieder genesen wärst.«
»Danke.« In Breacas Augen war diese Feder die
leibhaftige Versinnbildlichung, dass sie endlich wieder gesund
war.
Breaca schaute zu, wie Airmids lange, schmale
Träumerfinger den Faden um den Federkiel wickelten und die Feder
dann an dem Halsreif befestigten. »Ich dachte«, sagte Breaca,
»jetzt müssten sie doch langsam mal erscheinen, ich meine, nun, da
das Ende bevorsteht: die Ältere Großmutter, die Träumerin der
Ahnen, der Sonnenhund und all die anderen, die noch vor diesen
dreien erschienen waren, beziehungsweise auf sie folgten. Ich habe
die halbe Nacht lang gewacht und auf sie gewartet.«
»Ja, stände uns nun das endgültige Ende bevor, dann
würden sie nun wohl tatsächlich in Erscheinung treten... Aber ehe
hier irgendetwas endet, muss erst einmal noch eine Schlacht
geschlagen werden. Vorher sind alle Spekulationen über ein
mögliches Ende müßig. Wäre es dir denn lieber gewesen, sie wären
hier? Fiele es dir dann leichter zu kämpfen?«
»Nein.« Allein bei dem bloßen Gedanken an die
Anwesenheit der Geister verzog Breaca das Gesicht bereits zu einer
übellaunigen Grimasse. »Ich kann sehr gut ohne den Beistand von
längst vergangenen Wesen leben.«
»Und dennoch hast du hoffentlich bereits eine
Vorahnung davon, was dich erwartet, ich meine, welche besonderen
Anforderungen diese Schlacht noch an dich stellen könnte?«
»Letzte Nacht, als ich das Feuer beobachtete, kam
ein Hase vom Mond herabgeklettert. Und da waren auch noch Hunde,
die dem Hasen folgten. Aber diese Hunde waren nicht Stone. Und
Graine war auch da. Sie half den Hunden bei der Jagd.«
»Und... kannst du dieser Vision irgendeinen realen
Nutzen abgewinnen?«
»Ja, ich denke, irgendwie werde ich es schon
schaffen. Aber erst später, wenn der richtige Augenblick gekommen
ist, um der Vision Leben einzuhauchen.« Von Venutios’ Frage
erwähnte Breaca Airmid gegenüber jedoch nichts und hatte im Übrigen
auch mit niemand anderem darüber gesprochen.
Jenseits der Hitze des verglühenden Feuers und
überall um Airmid und Breaca herum hatte Tau sich zart über das
Grün gebettet. In den Bäumen hinter dem Lagerplatz fütterte ein
Turmfalke seine piepsenden Jungen. Ganz in der Nähe und damit so
dicht, dass sie bei Breaca regelrecht Unbehagen auslösten, nahmen
die Schädeltrommeln der Bärinnenkrieger wieder ihren Rhythmus auf.
Ähnlich wie Stechfliegen schienen sie einen langsam in den Wahnsinn
treiben zu wollen. Dennoch herrschte zu diesem Zeitpunkt noch
Dunkelheit, und der feine Lichtstreif im Osten, der bald den neuen
Tag ankündigen würde, war noch nirgends zu erspähen.
Breaca streckte die Hand aus, nahm die halb mit
rotem Garn umwickelte Feder und den Torques und legte beide
beiseite. »Noch herrscht die Nacht«, sprach sie leise. »Und wir
beide haben noch ein bisschen Zeit füreinander, ehe wir wieder all
das sein müssen, wozu wir im Laufe der Jahre geworden sind. Ich
denke also, wir können die noch verbleibende Nacht auf schönere
Weise verbringen, als einfach nur auf das Feuer zu starren.«
Zumindest in dieser Hinsicht hatte sich zwischen
Airmid und Breaca nichts verändert. Sie sagten einander nicht auf
Wiedersehen, sondern sie lagen einfach nur beieinander, umfangen
von der Dunkelheit jenseits der verschwommenen roten Glut von
Braints Feuer, und ließen schließlich auch die letzten Barrikaden,
die sie noch voneinander trennten, einfach niedersinken.
Der Hase hob den Kopf und schnüffelte
prüfend.
Graine, die dem Tier folgte, erstarrte mitten in
der Bewegung. Sie lag mit dem Gesicht nach unten in dem hohen Gras,
während der Morgennebel sie umwaberte wie der Rauch von einem Feuer
und ihr Haar durchtränkt war von Tau.
Sie fühlte die Gegenwart des Hasen, erahnte in
ihrer Brust nicht nur ihren eigenen Herzschlag, sondern auch den
seinen und versuchte, dem Hasen einen Teil ihrer eigenen
Lebensenergie zu schenken, so wie sie auch versuchen würde, eine
kleine Flamme auf zu feuchtem Feuerholz mit ihrem Atem langsam
anzufachen. Vorsichtig und voller Angst, diesen zarten Puls mit
ihrem eigenen, im Vergleich dazu regelrecht plumpen Geist zu
erdrücken, sandte sie nur die leisesten aller Gedanken in das Herz
des Tieres. Das Gefühl des Einsseins mit dem Hasen war ein
eigenartiges, mürbes und zugleich auch kitzelndes Gefühl, das ganz
fein an den tiefsten Wurzeln von Graines Bewusstsein zupfte. Doch
Graine spürte auch ein stechendes Gefühl der Hast, das jedoch nicht
aus ihrem eigenen Erleben stammte und auch nicht von ihrer Mutter,
die nur einen Speerwurf von ihr entfernt saß, oder gar von Stone,
der dicht an ihrer rechten Seite lag, sondern auch dieses Gefühl
entstammte keinem anderen Wesen als jenem Hasen, der dort
unmittelbar vor ihr saß.
Diese vier - Graine, ihre Mutter, der Hund und der
Hase - waren alle Teil der Jagd. Und Graine war Mittelpunkt ihres
Knüpfwerks. Angestrengt hämmerte ihr Herz, wollte einfach nicht
ruhig sein. So hatte sie nicht mehr empfunden, nicht mehr
gefühlt, seit die Männer des Prokurators über sie
hergefallen waren. Und wahrscheinlich hatte sie noch nicht einmal
vor der Vergewaltigung eine derart scharfe Wahrnehmung gehabt. Er
war fast so, als ob man ihr nach langen Monaten der Blindheit
endlich das Augenlicht wiedergeschenkt hätte, als ob die Welt
plötzlich noch viel mehr Farben bereithielte als zuvor. Nur allzu
gerne wollte Graine Bellos von diesem Erlebnis berichten, war sich
aber nicht sicher, ob die Schilderung eines solch farbenfrohen
Erlebnisses ihm, dem Blinden gegenüber nicht ein wenig taktlos
wäre.
Der Hase entspannte sich wieder. Die fernen
Geräusche, die aus dem Lager herüberschallten, waren nicht mehr
ganz so verstörend wie noch vor einer Weile, und die
Schädeltrommeln der Bärinnenkrieger, die schon lange, ehe die
Morgendämmerung heraufzog, ihr Dröhnen aufgenommen hatten, zerrten
deutlich weniger eindringlich an ihren Nerven.
Vorsichtig schob Graine sich ein kleines Stück
weiter vorwärts. Sie hatte nie eine Jägerin sein wollen, aber heute
hatte ihre Mutter sie genau darum eindringlich gebeten. Die
Bodicea, jene verwirrende Fremde, die ihr zugleich so unendlich
vertraut war. Sanft hatte sie Graine am Fußknöchel berührt und ihr
einen Haferkeks angeboten sowie etwas Flusswasser, gewürzt mit
getrockneten Holunderblüten. Dann hatte Breaca Graine fest an sich
gepresst und sie auf den Scheitel geküsst. Warm war ihr Atem über
das Haar ihrer Tochter gestrichen, und sie beide hatten einen
winzigen Augenblick der Geborgenheit genossen inmitten einer Welt,
in der bloß noch Chaos zu regieren schien. Und genauso wie das
Zusammensein mit Airmid, so war auch dies ein Moment, den Breaca
voller Dankbarkeit tief in sich aufgenommen hatte, ehe der
heraufdämmernde Morgen schließlich auch diesen Frieden zerstören
würde.
»Möchtest du mir vielleicht dabei behilflich sein,
einen Hasen zu finden?«, hatte Graines Mutter gefragt. »Es sollte
eine kräftige, junge Häsin sein, die bereits Junge in ihrem Bauch
trägt. Andererseits sollte ihre Trächtigkeit auch noch nicht zu
weit fortgeschritten sein - sie sollte noch flink genug rennen
können. Wir werden sie auch bestimmt nicht töten. Mir ist da nur so
eine Idee gekommen, eine Sache, die uns heute vielleicht noch von
Nutzen sein könnte.«
Zweifellos hatte Breaca vor ihrem Besuch bei ihrer
Tochter bereits einige Zeit mit Airmid verbracht. Graine erkannte
dies an der schützenden Aura, die sich während dieses
Zusammentreffens um die Bodicea gebreitet hatte und sie noch immer
umschwebte. Außerdem schien ihr Blick um eine Nuance schärfer
geworden zu sein, sodass sie nun fast so aussah wie die Ältere
Großmutter, abgesehen davon, dass die Zuneigung und Fürsorge, die
sie beide für ihr Volk empfanden, aus Breaca wesentlich deutlicher
hervorstrahlten, als die Verstorbene es sich jemals hatte anmerken
lassen. Und genau diese Wärme in Breacas Blick hatte den Morgen
schließlich um einiges heller und weniger furchteinflößend
erscheinen lassen.
Es war zweifellos eine kleine Herausforderung
gewesen, nun die richtige Häsin zu finden. Zugleich aber hatte
Graine von Anfang an die unerschütterliche Gewissheit in sich
gespürt, dass sie das Tier irgendwann fände. Ohne die Bitte ihrer
Mutter auch nur mit einer einzigen Gegenfrage zu erwidern, hatte
Graine sich also aus dem Schlaf und den fremdartigen, verworrenen
Träumen gelöst und sich lediglich schweigend etwas Wasser ins
Gesicht gespritzt. Dann hatte sie ein paar Schlucke von dem
gewürzten Getränk getrunken, wobei sie noch diverse andere Nuancen
herausgeschmeckt hatte als lediglich die Holunderblüten, und hatte
dann das feine Netz ihres Bewusstseins über das Land streifen
lassen, bis sie eine junge, kräftige und trächtige Häsin fand.
Anschließend war Graine auf genau dieses, bislang nur erspürte,
aber noch nicht entdeckte Tier zumarschiert, war irgendwann auf
allen vieren vorwärtsgekrochen und zum Schluss nur noch auf dem
Bauch über das Gras gerutscht, bis sie die Häsin endlich fast
erreicht hatte.
Breaca hatte ein Fangnetz bei sich gehabt, das sie
bereits über zwei kleine Haselnussäste mit weit
auseinanderstehenden Zweigenden gespannt hatte. Auf diese Weise
konnte das Netz leicht über die Beute geworfen werden und würde
sich dann, sobald diese zu fliehen versuchte, sofort um sie
herumwickeln. Graine allerdings hatte beschlossen, sich nicht
allein auf das Netz verlassen zu wollen, und hatte darum den Weg
bis zu dem Tier in ihrem Geiste deutlich markiert und robbte nun,
genau an diesen imaginären Pfaden entlang, langsam durch das
Gras.
Doch nicht nur Graine spürte die Häsin, sondern das
Tier erspürte auch Graine. Der Augenblick des Einfangens war dann
nur noch eine rein physische Angelegenheit, war fast schon
vergleichbar mit dem Wiederverknüpfen einer Art Nabelschnur, die
sowohl Graine als auch die Häsin hatten wiederfinden wollen, nur
dass bis zu diesem Augenblick keine von beiden so recht gewusst
hatte, wie genau dies zu schaffen sei. Angst und Hoffnung prallten
aufeinander. Die Angst des Tieres war auch Graines Angst, ihre
Hoffnung war seine Hoffnung und schließlich die Gewissheit, sicher
und geborgen zu sein. Mit klarem Singsang sandte Graine der Häsin
im Geiste diese Nachricht, und mit silbrig hellen Noten antwortete
das Tier, mit einer Stimme, die so rein war wie das Lied des
Mondes.
Dieser prangte unterdessen alt und scharf umrissen
über ihnen am Himmel und wurde langsam immer blasser, war jedoch
noch deutlich zu erkennen in seiner Flucht vor der Sonne. Jeder auf
seine Weise und doch beide im Gleichklang miteinander tasteten die
Häsin und das Kind Nemains nach diesem Gott am Himmel und schufen
somit ein gedankliches Dreieck, das, einmal geknüpft, nicht mehr
zerrissen werden durfte.
Dicht presste der Hase, gefangen in seinem Netz,
sich an den Boden, legte die Ohren an den Hinterkopf und sang mit
feiner, nur im Geiste hörbarer Stimme. Auch Graine sang, kroch
dabei stetig weiter vorwärts und nahm den Hasen auf. Fast schon wie
ein Heiligtum drückte sie das warme Tier gegen ihre Haut,
Herzschlag an Herzschlag, Atem an Atem, Seele an Seele. Nichts
schien Mensch und Tier noch voneinander zu trennen - bis auf den
Mond.
Geraume Zeit später erhob Graine sich wieder und
stapfte durch das trocknende Gras auf ihre Mutter zu, die stumm und
mit würdevoller Haltung die Sonne in diesem Ritual symbolisierte.
Dann befahl sie durch einen scharfen Pfiff Stone zu sich heran und
führte Graine schließlich zurück in jenes Lager, wo Krieger, die im
Augenblick noch nicht einmal erahnten, welcher geheimnisvolle Bund
soeben geschlossen worden war, lauthals ihre Kampflieder sangen und
sich das Haar flochten. Die rasselnden Schädeltrommeln der
Bärinnenkrieger waren unterdessen endlich verhallt.
Airmid erwartete sie bereits mit einem
hirschledernen Beutel, in den die Häsin gesteckt wurde, und setzte
sich dann gemeinsam mit Graine neben die letzten Holzkohlen von
Braints Scheiterhaufen. Gemeinsam erzählten sie dem Tier in ihrem
Lied von einer schon ewig zurückliegenden Schlacht zwischen den
Ahnen und den Adlern. Einer Schlacht, die sich bereits ereignet
hatte, als die Welt noch jung war.
Irgendwann kam auch Bellos und hockte sich neben
Graine. Sie brauchte ihm gar nichts zu erzählen von ihrem seltsamen
Empfinden, mit einem Mal wie durch ein Paar neuer Augen zu schauen
und bisher ungekannte Farben in der Welt entdeckt zu haben. Er
wusste es bereits. Stattdessen sagte sie also bloß: »Ich verstehe
überhaupt nicht, was da passiert ist.«
»Du hast einige Zeit auf Mona gelebt. Die Macht
dieser Insel sollte man nicht unterschätzen«, erwiderte Bellos
schlicht. Er hatte sein weißblondes Haar gekämmt und sich den
Schädel eines Raben hineingeknotet, als Zeichen seiner
Verbundenheit mit der Göttin Briga. Im fahlen Morgenlicht schien
der bleiche Schädel plötzlich wie ein Juwel. »Zudem hast du dich
bei der Suche nach dem passenden Stein auf Dubornos konzentrieren
müssen. Und Dubornos wiederum hat mit seinem Freitod schließlich
noch sehr viel mehr wieder heilen lassen als lediglich seine eigene
Seele.«
Damit wandte Bellos den Kopf zu Graine um. Abermals
- wie auch schon einmal auf Mona, damals, als Graine erstmals
begriffen hatte, dass er blind war - schauten seine Augen komplett
in die falsche Richtung. Seine Aufmerksamkeit dagegen war allein
auf sie gerichtet. »Woher wusstest du eigentlich, dass du den
richtigen Stein gefunden hattest? Jenen Stein, der der einzig
Richtige war für Dubornos’ Tötung?«
»Ich hatte es ganz einfach gefühlt.«
»Hatte der Stein dich etwa zu sich gerufen? So wie
die Häsin dich gerufen hat? Und hat seine Seele sich dann genauso
freimütig mit der deinen verbunden wie auch die Seele der
Häsin?«
Bellos hatte recht, noch waren die Seele der Häsin
und die Seele Graines eins. Graine spürte, wie das Tier sie zart in
der Bauchgegend kitzelte, und konnte sich beim besten Willen nicht
vorstellen, dass sie sich jemals noch enger mit einem Wesen
verbunden fühlen könnte - noch nicht einmal mit einem eigenen Kind.
Die Verbundenheit zu dem Stein dagegen war weniger deutlich zu
spüren gewesen, war bloß so fein wie der seidige Faden einer
Spinne. Und ohne das deutlich wahrnehmbare Empfinden, das sie mit
der Häsin verband, hätte Graine niemals begriffen, dass auch
zwischen ihr und dem Stein eine vage Verbundenheit geherrscht
hatte.
Bellos legte eine Hand auf Graines Schulter.
»Klammere dich nicht zu sehr an diesem Gefühl fest, versuch nicht
allzu eindringlich, es in all seinen Nuancen zu ertasten. Nimm es
einfach auf in dein Bewusstsein und erinnere dich stets daran, wie
es sich angefühlt hat. Und halte deinen Geist offen für jenen
Augenblick, wenn du es abermals spürst.«
In einer fließenden Bewegung stand er wieder auf.
Die leeren Augenhöhlen des Rabenschädels starrten aus scheinbar
luftiger Höhe auf Graine herab. »Du solltest hierbleiben, während
die anderen sich auf die Schlacht vorbereiten. Ich muss jetzt erst
mal Cunomar ausfindig machen und dann Hawk. Könntest du mir
vielleicht ungefähr sagen, wo sich der eine oder andere der beiden
gerade aufhält?«
Graines älterer Bruder stand neben ihrem neu
hinzugewonnenen Bruder, was an sich bereits fast schon einem Wunder
gleichkam, obwohl zwischen den beiden natürlich noch immer kein
echter Frieden herrschte. Graine beschrieb Bellos, wo er die beiden
finden könnte, schob ihn in die richtige Richtung und ließ sich
dann wieder auf den Boden sinken, das warme Gewicht der Häsin
schwer gegen ihre Brust gedrückt. Aufmerksam beobachtete sie dann,
wie die Krieger sich für die Schlacht rüsteten.
»Du bist mein Bruder«, sagte Cunomar.
»Ja«, entgegnete Hawk. Er trug das Bärenschwert von
Eburovic auf dem Rücken und hatte sein Haar nach Art der Eceni
geflochten, mit dem Kriegerzopf an der Seite. Irgendjemand hatte
ihm die winzige Geweihspitze eines jungen Rehbocks geschenkt, und
in Ermangelung von Kriegerfedern hatte Hawk nun diesen knöchernen
Schmuck an dem Zopf an seiner Schläfe befestigt. Außerdem hatte er
ganz oben auf seinen Schwertarm den Schlangenspeer gemalt, und
mittlerweile wusste auch das gesamte Heer, warum er dies getan
hatte.
Es hieß, man müsse seinen Bruder lieben, und sollte
einem das nicht gelingen, so dürfte man ihn zumindest nicht
hassen.
Hawk und Cunomar waren in etwa gleich stark und
gleich geschickt. Wäre es zu einem Kampf zwischen den beiden
gekommen, so hätte Cunomar gesagt, dass er den Sieg davontragen
würde, wenngleich auch nur deshalb, weil er dank seiner Ausbildung
im Zeichen der Bärengöttin Hawk gegenüber im Vorteil war. Frische
Wunden, hinzugefügt von den Klauen der Bärin, bluteten auf seinen
Schultern, genauso wie auf den Schultern der rund zweihundert
anderen Bärinnenkrieger, die Seite an Seite mit Cunomar vor
Ardacos’ strengen Blicken zu den Rhythmen der Schädeltrommeln
getanzt und die damit ihre Seelen aufs Neue und mit aller Inbrunst
der Bärengöttin verschrieben hatten.
Hawk war nicht einer von diesen gewesen, hatte aber
auf Ardacos’ Einladung hin die ganze Zeit am Rande des Tanzplatzes
gesessen und durfte damit zumindest einen gewissen Teil von dem
Mysterium des Bärenkults miterleben. Vor ihm war ein solcher Besuch
während der heiligen Riten allein der Bodicea und deren Tochter im
Geiste, Cygfa, vorbehalten gewesen. Und noch mehr als Eburovics
Klinge hatte diese Geste Hawks Platz in der Familie der Bodicea
bestätigt.
Der Gesang, der Cunomar und Hawk bis vor kurzem
noch umfangen hatte, war verstummt. Einige der Krieger hatten sich
sogar schon auf ihre Pferde geschwungen. Valerius’ Kavallerie
begann, sich zu einem riesigen Heer zusammenzuschließen, und einige
der Reiter formierten sich gar zu Schwadronen, eine Taktik, die
Valerius mit ihnen eingeübt hatte, während sie von Lugdunum aus
hierhergereist waren. Cygfa glich einem hell gleißenden Speer, und
eine ganze Horde von Kriegern folgte ihr wie Möwen einem Schiff.
Die Bodicea besprach sich unterdessen mit ihrer Ehrengarde. Auch
deren Pferde waren inzwischen zusammengetrieben worden, und einige
von ihnen waren bereits in Schweiß ausgebrochen.
Für Unentschlossenheit blieb nun keine Zeit mehr.
Cunomar jedoch war noch unentschlossen.
Hawk legte zwei Finger auf das Heft von Eburovics
Schwert, anschließend berührte er das Zeichen des Schlangenspeers
auf seinem Arm. »Um nichts von alledem habe ich gebeten. Beides
wurde mir aus freien Stücken geschenkt.«
»Ich weiß.«
Breaca war die Erste, die Cunomar davon berichtet
hatte, dann folgten Ardacos und schließlich Cygfa. Er hatte es in
jenem Augenblick erfahren, als er noch vor dem Scheiterhaufen von
Braint Wache gehalten hatte und seine Mutter gerade erst wieder wie
aus dem Nichts zurückgekehrt war. Cunomars Herz und Verstand waren
in jenem Moment noch von einem viel zu verwirrenden Durcheinander
erfüllt gewesen, als dass er nun auch diese Nachricht von der
Aufnahme Hawks in seine Familie hätte verarbeiten können. Und
selbst in diesem Augenblick, als die frische Morgenbrise über seine
Haut strich, der Nebel sich langsam lichtete und die Schlacht
unmittelbar bevorstand, wusste er noch nicht, für welchen Weg er
sich entscheiden sollte.
»Angenommen, ihr beide müsstet nun gegeneinander
antreten«, ertönte plötzlich eine Stimme. »Dann wärt ihr doch wohl
beide ziemlich gefährliche Gegner füreinander, nicht wahr? Also, um
wie vieles gefährlicher wärt ihr dann wohl erst, wenn ihr nicht
gegeneinander, sondern gemeinsam kämpfen würdet?«
Es war Bellos gewesen, der neben Cunomar
aufgetaucht war, jener junge, hellhaarige Belger, den Cunomar bei
ihrer ersten Begegnung als einen völlig verschüchterten Sklaven an
einem Strand von Gallien kennengelernt hatte. Nun jedoch schien es,
als ob dieser Junge den Rang eines Träumers von Mona bekleidete,
als ob er zu einem Diener Brigas gereift wäre. Zudem hatte er
mittlerweile sein Augenlicht verloren. Auch das hatte man Cunomar
erst in der vergangenen Nacht berichtet.
Hawk kannte Bellos offenbar bereits und
respektierte ihn. Er entbot ihm den Gruß des Kriegers an den
Träumer und wandte sich dann, ganz unerwartet, plötzlich zu Cunomar
um und entbot diesem wiederum den Gruß des Kriegers an seinen
Schildkameraden. »Ich für meinen Teil wäre durchaus bereit, den Eid
des Schildkameraden zu leisten, würde schwören, fortan im Zweifel
mein Leben für das deine zu geben und dies bis zum Ende der Welt
und bis ans Ende der vier Winde - das heißt, sofern du meinen Eid
überhaupt annehmen möchtest.«
Abrupt richteten die feinen Härchen auf Cunomars
Armen sich auf. Die Narben auf seinen Schultern zogen sich fest
zusammen, ganz so, als ob sie in einem einzigen Augenblick sowohl
aufgeplatzt als auch mit Schorf überwachsen und schließlich wieder
verheilt wären. Im Geiste hörte Cunomar den rasselnden Atem des
Bären und spürte den Moment, an dem dieser - unter Cunomars eigenem
Messer - starb. »Aber der Eid ist doch viel zu alt«, erwiderte er.
»Niemals würde ich ein derartiges Opfer von dir verlangen.«
»Und dennoch ist es ein respektabler Eid. Ein Eid,
der unter Familienmitgliedern geleistet wird. Ich weiß genau, was
dieser Eid bedeutet, und bin bereit, ihn nun vor dir
abzulegen.«
»Falls du Hawk hassen solltest«, mischte Bellos
sich erneut ungefragt ein, »dann darfst du diesen Schwur natürlich
nicht annehmen. Andererseits... du musst ihn ja nun wiederum auch
nicht lieben. Meinst du, du könntest vielleicht irgendwo einen
Platz zwischen diesen beiden Extremen finden?«
Cunomar dachte ernsthaft über diese Frage nach.
Dann, nachdem abermals wertvolle Zeit verstrichen war, antwortete
er: »Nun ja, fest steht, dass Hawk für die Stammesältesten der
Hirschkrieger getanzt hat und sogar bereit gewesen wäre, in diesem
Ritual zu sterben. Damit hat er sehr viel Mut bewiesen. Und
zumindest diesen Mut kann ich in der Tat respektieren und ehren.«
Cunomar bedauerte es noch immer, dass er bei diesem Ritual nicht
ebenfalls zugegen gewesen war. Er ließ den Blick hinüberschweifen
zu den glimmenden Resten von Braints Feuer. Plötzlich entdeckte er
Graine. »Aber hast du dein Leben denn nicht schon dem Wohlergehen
meiner Schwester geweiht?«, fragte er.
»Keiner der Träumer wird an der Schlacht
teilnehmen, sondern sie alle werden sich in sicherer Entfernung
versammeln«, widersprach Hawk. »Graine wird bei ihnen sein. Alle
werden sich also weit jenseits der Gefechtslinien aufhalten.
Sicherlich, sollten wir verlieren, dann sind auch sie verloren,
aber das ist ihnen natürlich bewusst. Ich habe mich letzte Nacht
mit deiner Schwester besprochen, und sie hat mich freigegeben,
damit ich in der Schlacht kämpfen kann.« Er schenkte Cunomar ein
vorsichtiges Lächeln. »Außerdem habe ich ihr auf Mona gezeigt, wie
man sich verteidigt. Die Legionen sollten sich vor ihr also noch
deutlich mehr in Acht nehmen als vor uns.«
Graine war so klein. Würde man die Spitze von
Eburovics Schwert in den Boden rammen, so würde der Knauf fast bis
zu ihrem Kinn hinaufreichen. Zudem dürfte es an die Grenzen ihrer
Kraft gehen, das Schwert überhaupt nur anzuheben, geschweige denn,
dass sie damit kämpfen könnte. Und nicht zuletzt hatte ihr
Großvater ihr doch vor einigen Jahren ausdrücklich verboten, die
Klinge auch nur anzufassen.
Die ganze Situation, in der sie alle sich gerade
befanden, erschien Cunomar geradezu absurd, fast schon grotesk,
sodass es ihm schließlich doch noch möglich war, in seiner Seele
einen Platz zu finden, der weit jenseits lag von aller Hoffnung und
aller Liebe, und mit einem flüchtigen Grinsen entgegnete er: »Nun
gut, dann wollen wir Graine den Träumern anvertrauen, auf dass
diese in ihrem sicheren Versteck bleiben.« Damit entbot auch er -
selbstverständlich mit der entsprechenden Würde - seinem Gegenüber
den Kriegergruß. »Ich nehme deinen Eid also an, und zugleich
entlasse ich dich auch wieder aus deinem Schwur, sodass du frei
bist, auch an der Seite unserer Mutter zu kämpfen. Ich werde mich
dem linken Flügel anschließen, während sie die Mitte anführt. Ich
finde, wenigstens eines ihrer Kinder sollte während der Schlacht an
ihrer Seite sein.«
»Ich werde mich deiner Bitte fügen. Allerdings nur
unter der Voraussetzung, dass, sollten die Träumer in Gefahr sein,
du und ich entweder allein oder aber gemeinsam hierher zurückkehren
werden, um sie zu verteidigen. Und zwar vollkommen unabhängig
davon, was dann anderenorts womöglich gerade passieren mag.«
»Ich danke euch«, meldete abermals Bellos sich zu
Wort.
»Wir alle sind euch dafür sehr dankbar.«
Zur Bekräftigung ihrer Schwüre hätte es bereits
ausgereicht, dass sie diese in Gegenwart eines Träumers
ausgesprochen hatten. Zusätzlich jedoch fassten Hawk und Cunomar
sich auch noch auf die alte, traditionelle Weise an den Armen,
wobei sie die Hände um die Ellenbogen des anderen schlossen, sodass
sie nun erstmals die Kraft und die Zähigkeit und den Kampfgeist des
jeweils anderen erspürten.
Noch immer glaubte Cunomar, dass er mit seiner
Einschätzung recht hatte und er tatsächlich den Sieg davongetragen
hätte, wären er und Hawk jemals gegeneinander angetreten. Zugleich
aber erkannte er, dass dieser Sieg sehr viel knapper geworden wäre,
als er ursprünglich gedacht hatte, und dass er da doch schon sehr
viel lieber gegen Rom kämpfte. In diesem Bewusstsein schien auch
der Albtraum von dem in die Enge getriebenen Bären plötzlich nicht
mehr ganz so erschreckend.
Er trat einen Schritt fort von Hawk und suchte nach
einigen passenden Worten, suchte nach einer kurzen Bemerkung, die
dieses Augenblicks würdig wäre. »Du solltest Ulla kennenlernen«,
meinte er schließlich. »Komm zum Feuer der Bärinnenkrieger. Noch
ist Zeit, euch einander vorzustellen, ehe wir uns zur letzten
Versammlung zusammenfinden müssen.«
Mit fester Stimme wandte die Bodicea sich an ihr
Kriegsheer und ritt dabei jenen schwarzen Hengst mit den weißen
Fesseln, den Cygfa ihr am Vorabend der Schlacht geschenkt hatte -
es war ein Geschenk, das aus tiefstem Herzen kam.
Breaca hatte ihre Position im Westen eingenommen,
vor sich die aufgehende Sonne, hinter sich den umgeschichteten
Scheiterhaufen von Braint, sodass die römische Armee gar nicht
anders konnte, als genau vor diesem Scheiterhaufen Aufstellung zu
beziehen und damit unfreiwilligerweise auch ihrerseits der
Ranghöchsten Kriegerin von Mona noch einen gewissen Tribut zu
zollen.
Seit zwei Tagen hatte Breaca nun nicht mehr richtig
geschlafen und fühlte sich dennoch so wach, als wäre sie gerade
erst aufgestanden. In ihrem Inneren lebten sowohl die Sonne als
auch der gehörnte Mond. Der Puls der Erde war ihr eigener Puls. Und
im Rhythmus dieses Pulses schritten die Götter neben ihr einher.
Manche Geister wiederum folgten ihrem ganz eigenen Takt. Und
überall um sie herum lauerte der Tod. Breaca hätte einfach nur von
ihrem Pferd absteigen müssen und eine der unzähligen, unsichtbaren
Schwellen zu überschreiten brauchen, und sofort wäre sie in das
Land hinter dem Leben eingetreten, ohne dass es dazu erst einer
Schlacht bedurft hätte oder gar eines Steins, mit dem ihr
irgendjemand den Schädel zertrümmert hätte.
Dennoch war Breaca keineswegs bereit zum Sterben
und würde es wohl auch niemals sein. Das Leben hielt einfach zu
viele Versprechungen bereit.
Und geradewegs vor ihr hatte sich jene Hoffnung
manifestiert, die all diese Versprechungen Wirklichkeit werden
lassen würde. Fünfzigtausend Krieger hatten sich hier versammelt,
und ein jeder von ihnen hatte sich allein ihr, der Bodicea,
verschworen. Sämtliche einstigen Stammesabzeichen waren abgelegt
worden. Coritani kämpften Seite an Seite mit Cornovii, und beide
wurden von Eceni flankiert, und über allem prangte das Zeichen des
Schlangenspeers. Früher hätte nun die Träumerin der Ahnen Breaca
begleitet, wäre ihr gefolgt, hätte seitlich neben ihr Posten
bezogen oder hätte mit dem trockenen Zischeln einer Schlange in der
Höhle in Breacas Unterbewusstsein gelauert und erklärt, dass der
Schlangenspeer allein ihr gehöre. Nun jedoch existierte keine Höhle
mehr in Breacas Denken, und auch das Echo der Träumerin der Ahnen
war verhallt. Denn Breaca hatte den Schlangenspeer nun zu ihrem
eigenen Zeichen erhoben. Alles, die einstige Bedeutung des
Schlangenspeers, seine gegenwärtige Macht und auch seine zukünftige
Symbolik schienen plötzlich allein Breacas Werk und allein ihre
Errungenschaft zu sein. Und nicht einer der Götter missbilligte
Breacas neue Haltung.
Die Krieger schwiegen, warteten. Sie standen mit
dem Rücken in Richtung Osten gewandt. Allein Breaca sah jenen
Augenblick, als die Sonne über dem Horizont aufstieg und eine
einzelne, schattenspendende Wolke zerteilte, ganz so, wie die Sonne
auch in Camulodunum schließlich den Dunstschleier besiegt hatte,
nur dass sie sich dieses Mal wesentlich rascher über das
Wolkengebirge erhob. Gleißend verschmolz das Feuer am Himmel, das
Feuer der Götter mit jenem Feuer, das in den Herzen der Krieger
glühte, und Breaca war die Mittlerin, die Pforte, durch die diese
beiden Mächte sich miteinander vereinten.
Sie hob die Arme, entbot ihrem Kriegsheer ihren
Gruß. In schweigender Erwiderung wurde ein ganzer Wald von Speeren
in Richtung Himmel gehoben. Eine wahre Woge an blank polierten
Schildbuckeln fing die Strahlen der Sonne ein und ließ einen Ozean
an Licht um Breaca herumbranden und schließlich in Braints
Scheiterhaufen münden.
Breaca wagte es kaum, die Stimme zu erheben. Sie
konnte zu eintausend Menschen sprechen, zu dreitausend, vielleicht
sogar zu zehntausend, jedoch nicht zu jenen fünfzigtausend Kriegern
und noch einmal so vielen Flüchtlingen, welche sich hinter den
Kriegern versammelt hatten in der Hoffnung, dass die Bodicea auch
ihre Jubelschreie hören möge.
Trotzdem verlangte das Heer nach einer kurzen
Ansprache, nach etwas, das ihnen den Sieg verhieß, wenn sie nun in
den Krieg zögen.
Breacas gesamte Familie hatte sich um sie herum
versammelt. Airmid und die Träumer standen auf der einen Seite,
ihre Töchter und Söhne auf der anderen, und Valerius hatte genau
den Mittelplatz zwischen diesen beiden kleinen Gruppen eingenommen.
Die Sonne war ihr geheimes Zeichen. Ohne vorherige Übung, aber doch
in gemeinsamer Absprache traten Cygfa und Valerius vor, wobei sie
zwischen sich einen der riesigen Kriegsschilde der Votadini trugen.
Sie hielten den Schild flach auf Schulterhöhe, so waagerecht wie
eine Plattform. Dann führten Hawk und Cunomar Graine nach vorn,
stellten sie neben sich und hoben sie auf den Schild, sodass sie
auf einer Höhe stand mit ihrer Mutter und im Angesicht der gesamten
fünfzigtausend.
Geschickt hielt Graine auf dem Schild das
Gleichgewicht; genau genommen bewies sie sogar ein ganz und gar
erstaunliches Balancegefühl. Auch ihre Kleidung hatte sie mit
Bedacht gewählt: eine Tunika aus ungebleichter Wolle mit einem
eingewobenen Zierrand in Eceni-Blau. Ihr Haar war von einem satten,
dunklen, an die Farbe von Ochsenblut erinnernden Rot und hing ihr
glatt über den Rücken hinab, schimmernd wie frisch poliertes Holz.
»Jetzt, solange sie noch schweigen«, flüsterte sie und streckte die
Hände aus.
Die Menge wartete, unter ihnen auch zahlreiche
Kinder. Schon von klein auf hatte man diesen von den sagenhaften
Helden erzählt, die, auf dem Höhepunkt einer Schlacht, erschöpft
zusammengebrochen waren und denen dann von einigen Kindern etwas
Wasser gereicht worden war, wodurch diese Krieger wiederum zu neuer
Kraft gefunden und schließlich doch noch den Sieg davongetragen
hatten.
Im Angesicht aller fünfzigtausend löste Breaca von
den Eceni und von Mona, die Bodicea der Stämme, nun den Torques
ihrer Ahnen von ihrem Hals und legte ihn in die ausgestreckten
Hände ihrer Tochter.
Es hatte keine Absprache mehr stattgefunden, was
nun als Nächstes folgen sollte. Graines Gesicht wurde sehr ernst.
Vor Tausenden von aufmerksamen Zuschauern schloss sie die Augen,
neigte dann den Kopf ein wenig hinab und presste die Stirn gegen
das Rund des Torques. Anschließend hob sie ihn der Sonne entgegen,
ganz so, als wolle sie nun alles Licht des Himmels geradewegs in
den Königsreif hinabbefehlen und es auf immer in dem Gold
einschließen. Als Letztes legte sie sich das Schmuckstück um ihren
Hals.
Der Reif war zu groß und sie war viel zu klein,
doch beide strahlten wie von einem inneren Glanz erfüllt.
Langsam hob die Bodicea ihr Schwert empor. Auch
Ardacos kam herbei, gemeinsam mit jenen unter den Bärinnenkriegern,
die er noch höchstpersönlich ausgewählt hatte und die ihm bereits
seit seiner Zeit auf Mona treu folgten. Doch natürlich traten auch
Ulla und die restlichen, jüngeren Bärinnenkrieger nach vorn, ebenso
wie Civilis mit einer Handvoll seiner Bataver und der Hälfte von
Valerius’ Kavallerie, sodass Breaca schließlich umschlossen war von
einer ganzen Schar von Kriegern hoch zu Ross, aber auch zu Fuß.
Gemeinsam und wie mit einer einzigen Geste entboten sie Graine den
Gruß des Kriegers an den Träumer.
Tiefes Schweigen senkte sich über sämtliche
fünfzigtausend, und Breaca glaubte, dass nun der Augenblick
gekommen war, an dem ihre Stimme die größte Macht haben
würde.
Das Gesicht einem wahren Ozean aus Licht zugewandt
und mit Graine an ihrer Seite erhob Breaca die Stimme und rief:
»Genau dies ist es, wofür wir kämpfen und warum wir siegen
müssen. Vergesst das niemals, egal, wie lange die Schlacht auch
dauern mag.«
Mehr sagte sie nicht, sondern ließ nur stumm ihr
Schwert wieder in dessen Futteral zurückgleiten. Plötzlich aber
richtete Stone sich auf die Hinterbeine auf, stemmte die
Vorderpfoten je eine rechts und eine links von Breacas Beinen gegen
den Rumpf ihres Pferdes und legte den Kopf in den Nacken. Dann
stieß er jenes schauerlich jaulende Bellen aus, wie es nur von
einem echten Kampfhund stammen konnte, einem jener Hunde, welche
die Helden begleiteten, deren Sagen man sich im Winter an einem
prasselnden Feuer erzählte.
Auf Stones Gebell folgten ein, vielleicht zwei
Herzschläge, während der noch Stille herrschte. Dann erhob sich ein
Gebrüll, ohrenbetäubend laut und immer lauter anschwellend.
Schließlich war es wichtig, dass die Krieger mit ihren Stimmen nun
regelrecht die Erde zum Erbeben brachten, auf dass den Legionen
noch einmal eindringlich verdeutlicht wurde, was diese ohnehin
bereits wussten: dass sie zahlenmäßig und auch, was ihre Motivation
betraf, hoffnungslos unterlegen waren und auf verlorenem Posten
standen, dass sie ihre letzten Atemzüge gegen ein unbesiegbares
Heer vergeuden würden, in einem Kampf, der ohnehin bereits
entschieden war.
Hinter Breaca und den Kriegern gaben unterdessen,
zuerst zögerlich, dann aber mit zunehmender Inbrunst, also auch die
Legionen und die Kavallerieflügel von Rom ihr Bestes, um das
Gebrüll der Krieger zu übertönen. Und versagten kläglich.
Breaca, ihre Familie und ihre engsten Mitstreiter
mussten eine ganze Weile warten, ehe das Kampfgeheul der Krieger
endlich wieder abebbte und auch das Trommeln der Schwerter auf
ihren Schilden verstummte.
Die Sonne war weiter am Himmel emporgeklettert und
die Schatten schärfer. »Graine?«, fragte Valerius. »Ich glaube, es
wäre ganz gut, wenn wir dich jetzt wieder absetzten.«
Nur mit Mühe konnte Graine ihre Seele wieder
zurückholen von jenem fernen Ort, an den der Reif sie entführt
hatte. Doch der Hase, den sie noch immer in dem Beutel bei sich
trug, sang auch weiterhin leise sein Lied, sodass Graine zumindest
ein feiner Faden blieb, an dem sie sich entlangtasten und wieder in
die Realität zurückfinden konnte. Sie schenkte dem Bruder ihrer
Mutter ein freundliches Lächeln, jenem Mann, der in der Nacht ein
Kind gezeugt hatte und der noch gar nicht ermessen konnte,
inwieweit dieses neue Leben auch ihn verändert hatte.
»Ja, ich danke euch.« Graines Stimme war nicht ihre
eigene, aber in dem ungeheuren Lärm im Vorfeld der Schlacht nahm
das ohnehin kaum noch jemand wahr.
Vorsichtig setzten sie Graine wieder auf der Erde
ab. Die Sonne blendete sie in den Augen. Geradezu unangenehm laut
ließ der Mond sein Lied erklingen. Graine schwankte, doch Cygfa
stützte sie. Auf dem Schild zu stehen, war ihr leichter gefallen,
als nun gedanklich wieder auf die Erde zurückzukehren.
»Graine?«, fragte ihre Mutter. »Liegt es an dem
Reif?« Deutlicher als die Stimmen der anderen drangen nun Breacas
Worte durch den Sirenengesang der fremden Welten.
Der goldene Torques wurde Graine wieder abgenommen,
die Gesänge in ihrem Kopf verstummten, und sie konnte wieder klar
sehen. Ihre Mutter war von ihrem Pferd geklettert und hockte nun
vor Graine, während sie den Reif langsam wieder um ihren eigenen
Hals gleiten ließ. Ein abschließender Kuss auf die Stirn ihrer
Tochter vertrieb den Spuk endgültig. Auch der Erdboden hörte auf zu
schwanken.
»Nun ja, wir befinden uns wohl noch im Prozess des
Lernens«, sagte Breaca. »Der Reif ist offenbar noch ein wenig zu
viel für dich.« Damit erhob sie sich wieder, trat einen Schritt
zurück und musterte ihre Tochter eindringlich. Graines Gesichtszüge
waren die Züge von Briga, Mutter allen Lebens, und zugleich auch
das Antlitz des Erbarmens im Tode. »Schon bald werden wir in den
Kampf ziehen müssen. Fühlst du dich wohl genug, um mir bei dem
Ritual mit dem Hasen behilflich zu sein?«
»Ja.« Nichts hätte Graine davon abhalten
können.
Die Schlacht stand unmittelbar bevor. Valerius,
der sich zwischenzeitlich vom höchsten Punkt der Rippelmarke aus
einmal umgeschaut hatte, erklärte: »Die Legionen haben Stellung
bezogen. Die Kavallerie stellt die Flügel, und dazwischen haben
sich Schulter an Schulter die Legionare der Vierzehnten formiert.
Der Eingang in die Talenge ist eine einzige Mauer aus Eisen. Und es
gibt keine andere Möglichkeit, sich ihnen zu nähern, als geradewegs
von vorn.«
»Danke«, entgegnete Breaca. »Du hattest ja bereits
gesagt, dass sie genau diese Aufstellung wählen würden. Hat er die
Hunde bei sich?«
»Natürlich. Er weiß ebenso gut wie jeder andere,
dass dies der Tag ist, der endgültig über sein Weiterleben oder
über seinen Tod entscheiden wird. Das möchte er doch nicht ohne
seine Tiere erleben.«
Graine hatte noch niemals an vorderster Front eines
Kriegsheeres gestanden. Fest hatte Breaca den Arm um ihre Schulter
geschlungen, beschützte sie, wie auch ein Falke sein Junges
schützte. Dennoch schienen riesige Motten an Graines Zwerchfell zu
zerren, und ihr Mund war von klebrigem Schleim erfüllt, fast schon
ausgetrocknet.
Breaca schaute auf ihre Tochter und lächelte
abermals dieses seltsame, zögernde Lächeln, das sie Graine schon
einmal geschenkt hatte, damals, als die Morgendämmerung jenes Tages
heraufgezogen war, an dem sie einander schließlich wirklich
kennengelernt hatten. »Wollen wir gehen, Herz des Lebens? Ich
denke, die Zeit drängt langsam.«
Damit schwang Breaca sich auf ihr Pferd. Valerius
setzte Graine vor ihrer Mutter in den Sattel des schwarzen Hengstes
mit den weißen Fesseln, und Airmid reichte ihnen beiden schließlich
noch den in dem Beutel eingeschlossenen Hasen. Es war zu spät, um
nun noch einige letzte Worte aneinander zu richten. Der Hengst
wirbelte herum, blickte dem Feind geradewegs entgegen. Das letzte
Gemurmel des Kriegsheeres verstummte. Umschlossen von tiefem
Schweigen erhob Breaca von den Eceni, Bodicea ganzer
Kriegernationen, ihr Schwert und trieb gleichsam schweigend ihren
Hengst voran. Zwei Speerlängen hinter ihr folgte das
Kriegsheer.
Die Rippelmarke war kaum so hoch wie ein Mensch,
nur gerade hoch genug, um die Armeen zu beiden Seiten symbolisch
voneinander zu trennen.
Auf dem höchsten Punkt der kleinen Bodenerhebung
saßen Graine und ihre Mutter von dem Hengst ab. Nemains Symboltier
war ein Tier der Erde, sodass es nicht vom Rücken eines Pferdes aus
in die Schlacht entlassen werden durfte - Breacas Träume hatten an
dieser Vorgabe keinen Zweifel gelassen. Die Legionen warteten, wie
Valerius bereits vorausgesagt hatte, eingeschlossen in den sicheren
Hügelring rund um das Tal, sodass man sich ihnen von keiner anderen
Richtung nähern konnte als direkt von vorn. Die Männer hatten sich
zu geradezu perfekt ausgerichteten Reihen formiert, und die
rechteckigen Schilde waren zu einer Art eisernem Band aus Rot und
Schwarz zusammengeschoben worden. Derweil glänzten frisch polierte
und von der Sonne geküsste Helme nebeneinander geradezu um die
Wette und bildeten somit eine glitzernde Linie, unter der die
Gesichter der einzelnen Legionare verschwammen und einer genauso
aussah wie der andere und keiner mehr war als bloß ein winziges
Körnchen in einer wahren Wüste aus Soldaten. Zu beiden Seiten der
Kämpfer wartete die Kavallerie, angeordnet in riesigen Quadraten
und auf Pferden, die wirkten wie aus Stein gemeißelt.
Vor ihnen allen, an vorderster Front, stand
Suetonius Paulinus, Gouverneur von Britannien. Er saß auf einem
fuchsroten Pferd, dessen Widerrist noch eine halbe Handbreit höher
war als die Widerriste der anderen Tiere. Sein Umhang war
pechschwarz und breitete sich - ganz ähnlich den kunstvollen
Arrangements der einstigen Reiterstatuen von Camulodunum - in sanft
fließenden Falten um das Hinterteil seines Pferdes. Die Federn auf
seinem Helm dagegen waren von reinstem Weiß und standen senkrecht
empor, wiesen genauso gerade und aufrecht zum Himmel wie die mit
Kalk versteiften und hochgestrichenen Schöpfe von Cunomars
Bärinnenkriegern.
Seine beiden Windhunde mit dem weichen Fell waren
angeleint und wurden gehalten von einem außergewöhnlich attraktiven
Krieger aus dem Stamme der Atrebater, dessen Stammesabzeichen man
zudem über das halbe Schlachtfeld hinweg deutlich erkennen konnte.
Ganz offensichtlich war es für Rom von großer Bedeutung, klar
herauszustellen, dass es zumindest einen Verbündeten unter den
Stämmen Britanniens hatte.
Angesichts eines solchen Feindesaufgebots war es
unmöglich, jetzt noch innezuhalten. Stattdessen war Breaca geradezu
gezwungen, stetig weiter auf die Feinde zuzumarschieren. Ganz
leicht spürte Graine auf ihrem Rücken die Hand ihrer Mutter und
hörte sie dann fragen: »Wollen wir ihnen verraten, wer wir sind?«
Zu Fuß und nur mit Stone zu ihrem Schutze wanderten Breaca und
Graine die Rippelmarke hinab, und für einen Augenblick musste es so
ausgesehen haben, als ob die Bodicea den wartenden Legionen mit
nichts als einem Kind und einem lahmenden Kampfhund
entgegenschreiten wolle, ohne auch nur einen einzigen Krieger
hinter sich zu haben. Das daraufhin losbrechende Johlen war also
ein Johlen des Spotts, und der wogende Lärm, der ihnen
entgegenschlug, ließ Graine und Breaca unwillkürlich taumeln,
genauso, wie auch ein Sturm ein Schiff auf seinen Wogen taumeln
ließ.
Genau in dem Moment, als Breaca, Graine und Stone
unten am Fuße der Rippelmarke angekommen waren, tauchte die erste
Reihe des Kriegsheeres der Bodicea oben auf der Kuppe auf.
Abrupt, wie auf ein Zeichen ihrer Offiziere hin,
verstummten die Legionen. Abermals trat Schweigen ein, ein
Schweigen wie in jenem Augenblick, wenn plötzlich alle zugleich den
Atem anhielten und ihre ohnehin schon verkrampften Hände zu Fäusten
ballten.
Eigentlich hätte Graines Stolz ihr dies
eindringlich verbieten sollen, und dennoch konnte sie einfach nicht
anders - sie musste sich umblicken. Ein leises Beben durchlief
ihren Körper, dann war sie wieder ruhig, sodass schließlich auch
Breaca über ihre Schulter zurückschauen musste, und selbst sie, die
das Kriegsheer doch schließlich zusammengerufen hatte, schnappte
beim Anblick dessen, was sie da geschaffen hatte, unwillkürlich
nach Luft.
Krieger über Krieger über Krieger hatten sich in
einer schier endlosen Front nebeneinander aufgereiht - schön, wild
und absolut tödlich. Männer und Frauen, nackt und in Rüstungen, mit
Kriegsbemalung und ungeschmückter Haut, mit goldenem Haar und
schwarzen Schöpfen, zu Fuß und auf Pferden jeglicher verfügbarer
Statur, ein Meer aus geradezu glühenden Farben, unterschiedlichsten
Hauttönungen und Umhängen, seien diese nun im Grau von Mona
gehalten oder im Stechginstergelb der Trinovanter oder dem
Nachthimmelblau der Eceni oder gar dem geborgten Weiß jener
Umhänge, die früher einmal den Kurieren des Feindes gehört hatten,
bewaffnet mit den großen Speeren der Votadini, den Äxten der
Dumnonii, den Ahnenschwertern der Pferdekrieger und den
gefährlichen zweischneidigen Messern der mit Kalkfarbe bemalten und
mit mystischen Symbolen geschmückten Bärinnenkrieger.
Sie waren atemberaubend in ihrer strukturlosen
Aufstellung und der Kraft ihres Glaubens an sich selbst. Und auf
jedem Einzelnen der nach vorn gewandten Schilde prangte der
Schlangenspeer der Bodicea, gemalt in dem Rot von frisch
vergossenem Pferdeblut, das gerade erst auf die Schilde aufgetragen
worden war und noch nicht einmal mehr Zeit gehabt hatte zu
trocknen.
Mit einer Stimme, so leise, dass nur sie beide sie
hören konnten, sagte Graine zu ihrer Mutter: »Du warst es, die
diesen Traum gehabt hatte in der Höhle der Träumerin der Ahnen.
Jenen Traum von dem zerschmetterten Adler der Römer und dem
Schlangenspeer, der in seinem Sieg hoch am Himmel über ihn
hinwegflog.«
In diesem Augenblick war die Bodicea nicht nur sie
selbst, sondern sie vereinte in sich auch den Sieg der Krieger und
die Niederlage der Römer. Ihr Lächeln lockte selbst die Götter von
ihren fernen Beobachtungsposten und ließ sie, gefangen in ihrem,
Breacas, Fleisch und Blut, auf die Erde hinabsteigen. Schwer legte
sie schließlich den Arm auf die Schulter ihrer Tochter, und in
diesem einen Moment hätte selbst Graine in ihrer Seele die Macht
des Kriegers finden können, eine solche Kraft verlieh die Berührung
der Bodicea ihr.
»Nun, dann komm mit«, sagte Breaca schließlich,
»wir wollen die Vision endlich zur Realität werden lassen.«
Gemeinsam marschierten sie die letzten Schritte hinab auf die
weite, leicht abfallende Ebene am Fuße der Rippelmarke.