XII

Mit einem Mal schien niemand mehr übrig geblieben zu sein, gegen den man noch hätte kämpfen können.
Mitten auf dem Steinernen Pfad der Ahnen saß Valerius auf seinem neuen Pferd, hinter ihm lag der Wald, vor ihm breitete sich das Marschland aus. Er versuchte, sich ganz aufs Atmen zu konzentrieren, denn der Kampf hatte ihn so sehr erschöpft, dass er kaum mehr Luft bekam, dass ihm das Herz geradezu den Brustkorb zu sprengen drohte und seine Lungen schier explodierten. Die Schlacht war gerade erst beendet worden, und ihm war schwindelig. Noch eindringlicher als sonst umkreisten ihn die Geister der Toten, versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erringen, und verlangten eine Erklärung für den Verrat, dem sie zum Opfer gefallen waren.
Verzweifelt bemühte Valerius sich, den Nebel der Toten zu durchdringen und endlich jene Stelle zu entdecken, wo irgendwo zwischen den anderen Überlebenden Breaca stehen musste. Wie ein Liebhaber, der stets instinktiv erspürte, wo seine Liebste sich gerade befand, hatte auch Valerius den ganzen Kampf hindurch immer genau gewusst, wo Breaca sich aufhielt. Erst gegen Ende der Schlacht hatte er sie aus den Augen verloren. Und obwohl er sie noch nicht wieder entdeckt hatte, war er davon überzeugt, dass er es bestimmt längst gefühlt hätte, wenn sie nicht mehr lebte.
Durch das Gedränge von Überlebenden kämpfte Longinus sich zu ihm vor. »Deine Schwester lebt«, lautete die knappe Nachricht an seinen Verbündeten. »Und Civilis auch.« Longinus rang schwer keuchend um Atem, denn die letzten noch verbliebenen Legionare hatten sich gegen Ende der Schlacht Rücken an Rücken zu einem Kreis zusammengeschlossen und mit einer solchen Inbrunst gekämpft, wie sie zumeist nur jenen zu eigen war, die bereits wussten, dass es für sie nichts mehr zu verlieren gab.
Civilis hatte es sich nicht nehmen lassen, sich höchstpersönlich auf genau jene Gruppe zu stürzen, wobei er Schild und Helm weit von sich geschleudert hatte. Er hatte gekämpft, wie auch seine Ahnen, die germanischen Stämme, einst gekämpft hatten - mit einer Wildheit und Brutalität, die selbst hart erprobte Soldaten noch in die Verzweiflung trieb. Und da verzweifelte Männer dazu neigen, Fehler zu begehen, gingen die letzten Legionare allesamt weniger unter dem Geschick ihres einstigen Befehlshabers zugrunde, sondern fielen vielmehr ihren eigenen taktischen Patzern zum Opfer. Doch genau das wurde letztlich auch Civilis zum Verhängnis, denn die mangelnde Verteidigungsbereitschaft der Männer brachte ihn um jenen Heldentod in der Schlacht, nach dem er sich schon so lange sehnte.
»Da bist du ja!«
Schwungvoll ritt der alte Mann auf Valerius zu und schlug diesem mit fast schon übermächtiger Wucht auf den Rücken. Seine Wangen glühten scharlachrot, und die schlaffe Haut unter seinem Kinn war von einem dunklen Purpur, beinahe schon schwarz. Sein Haar dagegen schimmerte in frostigem Silber. Sowohl sein Pferd als auch seine Klinge waren tropfnass von Schweiß und Blut und den schleimigen Eingeweiden der Getöteten. Doch Civilis’ Augen glitzerten wie die eines Jungen, der gerade seine erste Liebe erlebte oder soeben seine erste Schlacht hinter sich gebracht hatte.
»Sohn meiner Seele, was für ein Kampf! Und dabei haben wir das Beste noch vor uns. Also, sammle deine Krieger um dich, und dann müssen wir schnellstens zurückreiten, um noch vor Anbruch der Dunkelheit in Cerialis’ Lager anzukommen.«
Mittlerweile ging Valerius’ Atem wieder etwas ruhiger. Sein zerzaustes Haar war ihm bis über die Brauen gefallen, wo Schweiß und das Blut fremder Männer es festgeklebt hatten. Nachdenklich strich er sich die Strähnen aus dem Gesicht, wobei seine Finger gleichmäßige, blutrote Bahnen auf seiner Stirn hinterließen. Trotz seiner Erschöpfung brach er zu seiner eigenen Verwunderung nun in ein müdes Lachen aus.
»Nein, da bin ich leider ganz und gar anderer Ansicht, alter Mann. Wir erproben hier doch nur unsere jungen Krieger. Und zwar in der Hoffnung, dass sie noch möglichst lange überleben sollen. Darum schicken wir sie jetzt gewiss nicht in Cerialis’ Lager und damit in den sicheren Tod, egal, wie ruhmreich das auch gewesen wäre.«
Civilis schüttelte nur ungläubig den Kopf. »Valerius, dies ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um zu scherzen. Wir müssen wieder aufbrechen. Jetzt.« Damit ließ er sein Pferd herumwirbeln. Rasch drängte Valerius den Hengst mit den weißen Fesseln quer über den Pfad, sodass er Civilis’ Tier den Weg versperrte. Das Gesicht des Bruders der Bodicea war ernst, kein versöhnliches Lächeln erhellte mehr seine Züge. Schwer legte er eine Hand auf die Zügel von Civilis’ Pferd.
»Nein.«
»Ich verstehe noch immer nicht.« Der alte Mann runzelte die Stirn. »Willst du Petillius Cerialis denn noch gemütlich eine Nacht lang in seinem Lager Kraft schöpfen lassen und erst am nächsten Morgen angreifen? Und dafür sollen wir den gesamten Nachmittag über gekämpft haben?«
Die brüchige alte Stimme krächzte in unmelodisch hohen Tönen, fast schon wie die einer Krähe. Und auch andere hatten seine Worte gehört, das hatte sich bei der Lautstärke dieser kurzen Unterredung nicht vermeiden lassen, sodass nun noch einige mehr als bloß Civilis auf Valerius’ Antwort warteten.
Nachdem er im Stillen einen lästerlichen Fluch ausgestoßen hatte, hob Valerius die Stimme. »Das Ziel der Schlacht an diesem Nachmittag war, die Reihen der Neunten Legion um mindestens die Hälfte zu dezimieren. Und dieses Ziel haben wir fast erreicht, denn wenigstens eine der drei Kohorten wurde komplett vernichtet. Morgen früh werden wir erst mal abwarten. Dann, wenn Cerialis das Lager wieder verlässt, schlagen wir auf die gleiche Weise zu. Und vielleicht werden wir dabei sogar noch mehr Erfolg haben, nun, da wir ja immerhin schon eine halbe Kavallerie sind. Was wir jedoch nicht tun werden, ist, nun das befestigte Lager eines Mannes anzugreifen, der sich bereits einen Namen gemacht hat durch sein Geschick, den Feind durch Belagerungen in die Knie zu zwingen - und dies unabhängig davon, ob Cerialis den Feind belagerte oder aber ob der Feind Cerialis zu belagern versuchte. Denn stets ging Cerialis als Sieger hervor. Nein, für ein solches Wagnis haben wir jetzt einfach noch nicht genügend...«
»Valerius.« Leise, doch eindringlich wandte Longinus sich an seinen Kameraden. Die Menge teilte sich unterdessen, Männer und Frauen wichen auseinander, um eine kleine Gruppe hindurchzulassen.
»... Krieger. Den selbstmörderischen Ehrentod muss ich ihnen also leider versagen. Und ich will auch nicht die eine Hälfte der Bataver ohne jegliche Unterstützung gegen die andere schicken. Henghes ist schließlich ein sehr geschickter Feldherr. Vor allem aber besteht eine gewisse Chance, dass auch die noch im Lager verweilenden Bataver sich unserer Sache anschließen könnten. Das heißt, sofern wir ihnen überhaupt die Möglichkeit dazu bieten. Und angenommen, wir hätten dann tatsächlich einen kompletten Flügel von Batavern zusammen, um uns mit denen gegen die noch übrig gebliebenen Kohorten der Neunten zu wenden - nun, das wäre doch ein enormer Vorteil. Und zwar für uns alle. Falls die Reste der Neunten dann überhaupt noch den Mut aufbringen sollten, es mit uns aufzunehmen...«
»Julius, es ist deine Schwester.«
Nun musste Valerius sich doch einmal umdrehen. Rechts von ihm stand Breaca, links Longinus, Letzterer mit sorgenvollem Ausdruck auf dem Gesicht. Natürlich hatte Valerius schon die ganze Zeit über gewusst, dass Breaca da war. Er hatte es schon geahnt, noch ehe die Menge sich teilte. Doch er hatte jetzt keine Zeit, um zu erklären, woher er dies wusste, und er konnte nun auch nicht vor aller Ohren erläutern, dass er bereits spürte, dass sie wütend auf ihn war und dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was diesen Zorn gegen ihn wohl heraufbeschworen haben mochte. Er hatte auch keine Kraft mehr, um zu verkünden, dass er ganz einfach erschöpft war und sich nicht mehr in der Lage dazu fühlte, nun vor Tausenden von Fremden ein langwieriges Streitgespräch über die weitere Vorgehensweise im Kampf gegen die Neunte Legion zu beginnen. Die Schlacht war doch gerade erst vorüber, war gewonnen, und noch immer erfüllte das klagende Flüstern der Toten die Ebene zwischen Himmel und Erde. Valerius holte tief und geräuschvoll Luft und verpasste dadurch den ersten Teil von Breacas kurzer Rede.
»... ist überzeugt, dass er mit einer Handvoll von Bärinnenkriegern das Nachtlager von Cerialis stürmen könnte.«
»Was?« Zu spät begriff Valerius den Sinn hinter diesen Worten. »Wer?«
»Cunomar, wer denn sonst?«
Dann war Breaca also wütend auf Cunomar und nicht etwa auf ihn, Valerius. Er gab es zwar nur höchst ungern zu, doch lächerlicherweise versetzte ihn die Erleichterung über diese Entdeckung in einen wahren Freudentaumel, sodass ihm abermals ganz schwindelig wurde.
»... und das schon, seit die Eiche niederstürzte und die Legionare einkesselte. Ardacos glaubt also, dass Cunomar seine Bärinnenkrieger um sich geschart hat und mit ihnen seitlich entlang des Pfads auf das Nachtlager zugeschlichen ist, um es anzugreifen, sobald die Nacht sich über das Land gelegt hat. Das wäre im Übrigen eine der Heldentaten, von der die Bärinnenkrieger schon seit langem künden, wenn sie sich im Winter um ihre Feuerstellen versammeln. Sie singen davon, wie sie sich auf den Adler der Legionen stürzen. Und das Ganze unter dem segnenden Kuss von Nemains Mond.«
Valerius stellte in diesem Augenblick fest, dass ihm vor Erstaunen über Cunomars Heldenmut regelrecht der Unterkiefer heruntergeklappt war. Rasch schloss er die Lippen wieder. Als ihm aufging, dass man eine Antwort von ihm erwartete, entgegnete er ehrlich verwundert: »Dann ist Cunomar also tatsächlich fest dazu entschlossen, zu beweisen, dass er ein besserer Anführer wäre als ich, nicht wahr? Aber was sagen die Lieder denn eigentlich über den Ausgang dieses Irrsinns? Falls sie nämlich davon künden, dass auch nur ein Einziger der Bärinnenkrieger auch noch den Morgen nach seinen Großtaten erlebt, sind diese Lieder von Anfang bis Ende nichts anderes als eine dumme Lüge.«
Valerius hätte damit gerechnet, dass Breaca spätestens an dieser Stelle seiner Gegenrede der Geduldsfaden reißen würde, was ihm, im Nachhinein betrachtet, eigentlich sogar sehr recht gewesen wäre. Denn mit einem unbeherrschten Emotionsausbruch vor aller Augen hätte seine Schwester sich nur allzu rasch selbst den Wind aus den Segeln genommen. Doch noch während Valerius sich im Inneren gegen Breacas wütenden Ansturm wappnete, sah er bereits, wie sie ihm zulächelte und langsam den Kopf schüttelte. Erst in diesem Augenblick begriff Valerius, wie viel er noch über Breaca würde lernen müssen.
»Aber natürlich lügen die Lieder, das ist doch bei allen Liedern so. Aber wenn wir auch nur einem Einzigen der Bärinnenkrieger das Leben retten wollen, dann musst du jetzt die Bataver um dich scharen. Und nimm auch noch einige Krieger mit - am besten genauso viele, wie es noch an verfügbaren Pferden gibt, damit jeder ein Reittier hat. Und dann reitest du schnellstens zurück in das Nachtlager. Dort müsst ihr Cunomar entweder von seinem Vorhaben abbringen... oder aber ihm in seinem Kampf zur Seite stehen. Könntest du auch das noch auf dich nehmen? Wirst du auch diese Aufgabe noch bewältigen?«
Cunomar wagt zu viel zu schnell, war Valerius’ einziger Gedanke in diesem Moment. Ein rascher Blick in Breacas Gesicht verriet ihm, dass auch sie das so sah. »Ich kann ihm zur Seite stehen, Breaca, aber ich kann ihn nicht aufhalten«, lautete Valerius’ Antwort, laut genug, dass alle ihn hören konnten. »Nur du kannst ihn von seinem Vorhaben abbringen.«
Breaca zuckte traurig mit den Achseln, und erst jetzt erkannte Valerius, dass ihr scheinbarer Zorn im Grunde eher eine Art kummervolle Frustration war, die sie nun nach innen und gegen sich selbst richtete. Gegen ihre Seele und gegen ihren Körper, der ihr noch immer nicht so gehorchen wollte, wie sie es sich erhofft hatte.
»Das Überleben des Kriegsheers wiegt in diesem Fall schwerer als die Träume und der Ehrgeiz eines einzelnen Kriegers«, entgegnete Breaca und trat damit einen Schritt von Valerius zurück. Noch etwas lauter, damit auch die Umstehenden sie hören konnten, fuhr sie fort: »Cygfa wird dich begleiten. Wo sie hingeht, dorthin gehe im Geiste auch ich. Ich werde euch zwar nicht persönlich begleiten können, aber meine Seele ist bei euch. Und jetzt reitet los, um meinem Sohn zu Hilfe zu eilen. Reitet in dem Wissen, dass ich euch ganz gewiss begleiten würde - wenn ich nur könnte.«
Die Kriegerin der Kelten
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