»Es wäre ungerecht gewesen, wenn er zu Grabe getragen würde
ohne irgendein Zeichen der Männer, die er genarrt und bestohlen hatte.«
Sir Arthur Conan Doyle, Das Geheimnis der Vier
Nina Capelli saß noch am Frühstückstisch, als sie durch einen Anruf aus der Gerichtsmedizin aus ihrer Trübsal gerissen wurde. Eine erkältete Sekretärin wollte wissen, ob sie vielleicht schon heute mit der Arbeit anfangen könne, da ein Magen-Darm-Virus die Hälfte der Abteilung außer Gefecht gesetzt hatte.
Die junge Gerichtsmedizinerin musste nicht lange überlegen. Ein wenig Ablenkung würde ihr sicher guttun. Alles war besser, als daheim zu sitzen und Trübsal zu blasen. »Wissen Sie schon, womit wir es zu tun haben?«, wollte sie wissen. »Unfall? Mord? Unbekannte Todesursache?«
»Keine Ahnung. Die Polizei hat einen Gerichtsmediziner ans Donauufer bestellt. Ich gehe also von einem Suizid aus. Selbstmörder wählen gerne eine der Donaubrücken als Ausgangspunkt für ihre letzte Reise aus.«
»Oje, Wasserleiche.«
»Ja«, stimmte die Sekretärin zu und hustete. »Das könnte unschön werden.«
»Der Tod ist meistens unschön«, seufzte Capelli. »Könnten Sie mir bitte kurz den Weg erklären?«
»Natürlich. Ich werde außerdem einen unserer Sektionsassistenten an den Fundort schicken. Er wird Ihnen alles Nötige mitbringen und Sie anschließend zum Zentralfriedhof fahren.«
»Zum Zentralfriedhof?«
Die Sekretärin schnäuzte sich. »Der Assistent wird Ihnen alles erklären. Seit keine Obduktionen mehr in der Sensengasse vorgenommen werden dürfen, herrscht leider das absolute Chaos. Danke, dass Sie so kurzfristig einspringen können. Ach, und herzlich willkommen in Wien!«
Mit Hilfe der Wegbeschreibung und eines Stadtplans fuhr Capelli in Richtung Donauufer. Sie schlängelte sich durch den Berufsverkehr am Gürtel und den zähen Verkehr auf der Währinger Straße stadteinwärts, passierte die Votivkirche, die, obwohl sie doch um einiges kleiner war, von vielen Touristen oft mit dem Stephansdom verwechselt wurde, und schaffte es, auf der Ost-Autobahn die richtige Ausfahrt zu erwischen. Anschließend bog sie auf den Handelskai und folgte der Hafenzufahrtsstraße. Nun war es nicht mehr schwer, den Fundort auszumachen: Mehrere Polizeiwagen und eine Horde Schaulustiger waren bereits zur Stelle.
Capelli parkte ihren Wagen, wies sich aus, stieg über das Absperrband und lief über einen schmalen Trampelpfad die Böschung zum Ufer hinunter.
Je näher sie der Leiche kam, desto schärfer wurden Capellis Sinne. Sie merkte, wie ihre privaten Probleme zur Seite gedrängt und durch routinierte, professionelle Denkmuster ersetzt wurden. Ihr Gehirn fokussierte auf das Hier und Jetzt und saugte instinktiv jedes noch so kleine Detail in sich auf: das ruhige, gleichmäßige Plätschern des Flusses, die feinen Tröpfchen von Nieselregen auf der Haut, das feuchte Gras unter den Schuhen, die kahlen Zweige des Gebüschs, in denen sich die menschlichen Überreste verfangen hatten, die vielen Stimmen, die die Ruhe dieses trüben Morgens durchbrachen, und den leichten – aber doch unverkennbaren – Verwesungsgeruch, der in der Luft lag.
Zwei Feuerwehrmänner mit Mundschutz waren gerade dabei, mit Hilfe eines Arbeitskrans und eines langen, gebogenen Hakens den Körper zu bergen, während die Leute von der Spurensicherung die Umgebung absuchten und Fotos vom Fundort machten. Zwei junge Polizisten verdeckten mit einer riesigen Plastikplane die Sicht auf die Leiche, um ein paar sensationsgeile Gaffer davon abzuhalten, mit ihren Handys den grausigen Fund für die Nachwelt zu dokumentieren.
Sie ließ gerade ihren geschulten Blick über das Szenario wandern, als ein junger Mann auf sie zukam. »Sie müssen Frau Dr. Capelli sein«, sagte er. »Jochen Kern, ich bin Ihr Obduktionsassistent.«
Capelli lächelte und musterte den Mann. Er war ungefähr Anfang dreißig und hatte ein angenehmes, sportlich-lässiges Erscheinungsbild.
»Willkommen in Wien«, sagte Kern und reichte ihr einen Schutzanzug. »Von mir aus können wir uns sofort an die Arbeit machen.«
Wenn ein Toter aus der Donau gezogen wurde, lag meist ein Selbstmord oder ein tragisches Unglück vor. In diesem Fall handelte es sich aber mit ziemlicher Sicherheit um Mord. Der Tote hatte nämlich ein besonderes Merkmal, das Capelli ganz und gar nicht gefiel: Er hatte keinen Kopf mehr.
»Na, sieh mal einer an«, sagte Kern, nachdem er einen Blick auf den Körper geworfen hatte. »Wenn das nicht der Rest von Professor Novak ist. Haben Sie von der Sache gehört?«
Die Gerichtsmedizinerin schwieg und dachte fieberhaft nach. Es wäre unprofessionell, die Obduktion vorzunehmen. Ihr Freund war schließlich der Hauptverdächtige in diesem Mordfall – sie war also befangen. Andererseits konnte sie so vielleicht an wichtige Informationen gelangen, die Otto Morell helfen könnten, Leander zu entlasten.
Capelli entschloss sich dazu, das Risiko einzugehen. Sie war neu hier, niemand wusste etwas von ihrer Beziehung. Und überhaupt – wer sagte denn, dass es sich bei dem kopflosen Toten tatsächlich um Novak handelte? Zugegeben, die Chancen dafür standen gut, aber bewiesen war es nicht.
»Kommen Sie?« Kern reichte ihr den Tatortkoffer, der alle nötigen Geräte, Instrumente, Behältnisse und Reagenzien enthielt, die die Gerichtsmedizinerin brauchte, um die Leiche vor Ort zu untersuchen.
Capelli griff danach. ›Wird schon keiner draufkommen‹, dachte sie und begann mit ihrer Arbeit.
Nach der Totenbeschau und dem Lokalaugenschein am Donauufer machten sich Capelli und ihr Obduktionsassistent auf den Weg zum Wiener Zentralfriedhof, der mit rund drei Millionen Bestatteten der zahlenmäßig größte Friedhof Europas war.
»Das Gebäude in der Sensengasse wurde im Frühjahr zum Teil geschlossen«, erzählte Kern. »Es war seit den 60er Jahren kaum renoviert worden und entsprach nicht mehr den nötigen Anforderungen. Es fehlte zum Beispiel ein modernes Filtersystem – sämtliche Körperflüssigkeiten flossen beinahe ungeklärt in die Kanalisation.«
»Das wusste ich.« Capelli bog in die Simmeringer Hauptstraße, die von Alfred Polgar einmal als die traurigste Straße Wiens bezeichnet worden war. »Ich dachte aber eigentlich, dass die Obduktionen in verschiedene Krankenhäuser ausgelagert wurden. Warum fahren wir also zum Friedhof?«
»Faul- und Wasserleichen stellen für die Spitäler ein immenses Hygieneproblem dar. Darum werden solche Leichen jetzt übergangsweise in Containern auf dem Zentralfriedhof obduziert.«
»Container? Das ist ja ein Riesenschritt zurück in Richtung Mittelalter.« Capelli betrachtete die unzähligen Wirtshäuser, Steinmetz- und Blumengeschäfte, die die Straße säumten. Mit dem Tod ließ sich viel Geld verdienen.
»Wem sagen Sie das. Die Zahl der Obduktionen wurde drastisch reduziert. Wien wird zum Paradies für Mörder. Wenn Sie irgendjemanden um die Ecke bringen wollen, dann tun Sie es jetzt. Die Chancen, unentdeckt zu bleiben, stehen so gut wie nie.«
»Hoffentlich nicht.« Capelli dachte voller Kummer an Lorentz.
»Dort vorne links können Sie reinfahren«, riss Kern sie aus ihren Gedanken. »Die Friedhofswege dürfen mit dem Auto befahren werden – aber nur mit 20 km/h.«
Capelli bog vorsichtig durch ein großes Tor und fuhr langsam durch ein traurig-schönes Meer aus Grabsteinen. »Und jetzt?«
»Geradeaus und dann links bis zur Halle 3, dort können wir parken.«
Von der Halle 3 aus waren es nur wenige Meter bis zum Areal der Friedhofsgärtnerei, auf dem, direkt neben einem alten Gewächshaus, die drei grauen Container standen, die nun der Gerichtsmedizin als neues Refugium dienten.
Auf Capelli, die an die modern ausgestattete Gerichtsmedizin in Innsbruck gewöhnt war, wirkte dieses Szenario recht befremdlich. Die sterile, wissenschaftliche Atmosphäre, in der sie normalerweise ihrem Beruf nachging, fehlte völlig. Stattdessen wuchs hier Unkraut neben den Obduktionsräumen, und nur wenige Meter dahinter befanden sich alte, ausgemusterte Grabsteine und Kreuze. Dazu kam das diesige, verregnete Wetter, das der ganzen Szenerie einen unheimlich morbiden Anstrich verlieh. »Wien ist anders«, zitierte Capelli den Werbeslogan der Stadt und öffnete die Tür zum Obduktionscontainer.
»Was für ein Elend«, raunte sie, nachdem sie ihren Blick kurz durch das triste Innere der grauen Stahlbox hatte schweifen lassen. In dem engen, kalten Raum gab es einen Obduktionstisch, ein Regal und ein kleines Waschbecken.
»Je schneller wir anfangen, desto schneller können wir auch wieder von hier verschwinden«, sagte Kern und betrat ebenfalls den Container.
Der Leichentransport war anscheinend schneller als die beiden Gerichtsmediziner gewesen, denn der kopflose Körper lag bereits auf dem Tisch. Kern holte Novaks Kopf aus einem Kühlbehälter und setzte ihn an den Rumpf. »Für jeden Deckel einen Topf, für jeden Körper einen Kopf«, reimte er.
Nina fand das gar nicht lustig. »Die Schnittstellen passen exakt aufeinander. Somit hätten wir die Frage der Identität also schon einmal geklärt.« Sie spürte, wie eine Welle von Schuldgefühlen sie durchfuhr. Um ihr schlechtes Gewissen zu zerstreuen, zog sie sich schnell frische Gummihandschuhe und einen Mundschutz über und griff nach einem kleinen Diktiergerät. »Männliche Leiche, etwa 65 Jahre alt«, begann sie und untersuchte dann systematisch die einzelnen Körperregionen. »Die Totenflecken sind schwach ausgeprägt, die Haut ist weißlich verfärbt, und es gibt Waschhautbildung an den Fingern. Die kriminalistische Einschätzung des Todeszeitpunktes auf die Nacht von Sonntag auf Montag kann ich also bestätigen.« Dann bat sie den Assistenten, den Leichnam auf den Bauch zu drehen, damit sie auch noch den Rücken inspizieren konnte. »Sowohl Kopf als auch Körper weisen auffallend viele Hämatome auf, die durch die Einwirkung stumpfer Gewalt entstanden sind.«
»Wahrscheinlich hat Novak sich mit seinem Mörder einen Kampf geliefert«, spekulierte Kern.
»Der dürfte sehr einseitig ausgefallen sein.« Capelli zeigte auf die Handgelenke des Opfers. »Diese Abschürfungen hier sehen stark nach den Spuren einer Fesselung aus.«
»Und was ist damit?« Kern zeigte auf Novaks Hände. »Sind das denn keine Abwehrverletzungen?«
Capelli schüttelte den Kopf. »Wasserleichen treiben meistens mit herunterhängenden Armen und Beinen im Wasser und stoßen damit an Steine und andere Dinge, die am Grund liegen. Wenn sie aus Fließgewässern gezogen werden, sind solche Treibspuren an den Extremitäten deshalb ganz typisch.«
»Verstehe. Der Täter hat also auf einen gefesselten und somit wehrlosen alten Mann eingeprügelt. Was für ein Schwein.«
Nina Capelli ging nicht darauf ein, sondern machte mit ihrer Untersuchung weiter und öffnete mit einem geübten Schnitt die Bauchhöhle.
»Todesursache ist ein offenes Schädel-Hirn-Trauma, das durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf hervorgerufen wurde. Der Kopf wurde mit einem grobgezackten Werkzeug vom Rumpf getrennt. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine einfache, handelsübliche Säge«, diktierte sie, nachdem sie mit der inneren Besichtigung fertig war und sowohl Organ-, Gewebe- und Blutproben als auch Urin und Mageninhalt für weitere Untersuchungen entnommen hatte.
»Da war wohl jemand ganz schön sauer auf den alten Herrn Professor.« Kern streifte seine Handschuhe ab, nachdem er Capelli geholfen hatte, den Leichnam wieder zuzunähen und ihn in einem Kühlfach zu verstauen. »Ich möchte echt gern wissen, was der arme Kerl getan hat, um so ein Ende zu verdienen.«
»Das wüsste ich auch gern.« Capelli ging im Geiste noch einmal den Ablauf der Obduktion durch, um sicherzugehen, dass sie auch ja nichts vergessen oder übersehen hatte.
»Na ja, wenigstens hat er uns nicht viele Umstände beschert.« Kern wusch sich die Hände. »Kaum Geruchsbildung, schnelle Identifikation und einfache Feststellung von Todesart und -zeitpunkt.«
Du hast ja keine Ahnung, wie viele Umstände und Scherereien diese Leiche mir schon beschert hat, dachte Capelli still und kramte in ihrer Handtasche.
»Wonach suchen Sie denn?«
»Nach meinem Autoschlüssel. Ständig versteckt sich das dumme Ding vor mir. Ich habe extra einen riesigen Anhänger drangemacht, aber trotzdem kann ich ihn die meiste Zeit nicht finden.«
»Ist er vielleicht da drin?« Kern zeigte auf ihre Jackentasche, in der sich ein großes, unförmiges Etwas abzeichnete.
Capelli griff hinein und zog das gesuchte Objekt heraus.
»Cooler Anhänger«, stellte Kern fest. »Wo haben Sie den denn her?«
Die Gerichtsmedizinerin schluckte. »Von einem Freund«, sagte sie und wollte sich verabschieden.
»Ähm, Frau Capelli«, sagte Kern förmlich. »Sie sind ja noch ganz neu in der Stadt und kennen bestimmt noch nicht so viele Leute. Was halten Sie davon, mich am Freitagabend zu einer Party zu begleiten?
Capelli war zu geschafft, um eine tolle Ausrede aus dem Ärmel zu zaubern, und gab Kern widerstrebend ihre Telefonnummer. Das hatte ihr zu all dem vorherrschenden Ärger und Chaos gerade noch gefehlt – ein übereifriger Obduktionsassistent, der sie anmachen wollte.