»Möge uns das Wort verfolgen und nicht zur Ruhe kommen lassen, bis man uns ins Grab bettet.«

Albert Schweitzer

Um sich von dem Strudel-Schock zu erholen, beschmierte Morell erst mal ein Knäckebrot mit Margarine, streute ein bisschen Salz darauf und biss herzhaft hinein. Dann rief er bei Wojnar an, um ihm zu sagen, dass er Harr nicht mehr weiter zu suchen brauche und sich stattdessen auf die Suche nach Harrs Freundin Theresia machen solle. Zwar hatte er den Inspektor bereits nach dem Besuch bei Uhl angerufen, ihn aber nicht erreichen und nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen können. Nun hob Wojnar ab und erzählte, dass er auf Morells Nachricht hin bereits eine Liste der Krankenschwestern, die 1978 im AKH tätig waren, angefordert hätte. Sie müsse jede Sekunde eintreffen und er würde sich gleich darum kümmern – dann wurde er plötzlich ernst.

»Otto, es gibt da ein neues Problem«, sagte er.

»Was ist passiert?«

»Unsere Theorie ist doch wohl wahr – das ist das Gute an der ganzen Sache. Roman will jetzt nämlich deinen Spuren nachgehen.«

»O nein!«, rutschte es Morell lauter heraus, als er gewollt hatte. »Sag jetzt nicht, dass schon wieder ein Mord geschehen ist.«

»Beruhige dich, Otto. Niemand ist gestorben.«

»Aber?«

»Es gab einen Mordversuch, der glücklicherweise gescheitert ist.«

»O Gott. Wer? Nagy? Zuckermann?«

»Nein. Es hat keinen der alten Herren getroffen, sondern Novaks Assistenten Moritz Langthaler. Er wurde mit einem massiven Aschenbecher niedergeschlagen, als er ein paar Unterlagen aus Novaks Büro holen wollte. Ernst Payer, dessen Büro sich neben Novaks befindet, hat ihn glücklicherweise gefunden.«

Morell war völlig vor den Kopf gestoßen. Der junge Archäologe passte überhaupt nicht ins Bild. »Wie geht es Langthaler? Ist er ansprechbar?«

»Nein, noch nicht. Erst sah es nicht gut für ihn aus, aber mittlerweile haben die Ärzte ihn stabilisiert. Ich halte dich auf dem Laufenden!«

Morell bedankte sich und legte auf. Langthaler. Warum er? Stand er auf der Liste des Täters, oder war er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Er vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, sich zu konzentrieren. Es ergab alles keinen Sinn. Wer konnte etwas gegen Langthaler haben?

Nervös ging Morell auf und ab. So richtig konnte er sich seine unruhige Stimmung nicht erklären. Eigentlich hatte er doch alles erreicht, was er hatte erreichen wollen: Weber war endlich auf der richtigen Fährte, und Lorentz würde nun bald aus dem Gefängnis entlassen werden. Morell wusste, dass hinter der bornierten Fassade seines Exkollegen im Grunde ein fähiger Polizist steckte, und war sich deshalb sicher, dass Weber und Wojnar den Fall nun bald gelöst haben würden. Oder? Was wenn nicht?

Morell versuchte sich abzulenken, indem er bei Bender anrief. Dieser hob nicht ab, also hinterließ er ihm eine Nachricht auf der Mobilbox: »Hallo Robert, hier spricht Morell. Ich wollte mich eigentlich nur kurz erkundigen, wie es in Landau läuft, und dir sagen, dass ich sehr wahrscheinlich in den nächsten Tagen zurückkommen werde.«

Er legte auf, dachte noch einmal über den Fall nach und spürte dabei, wie ein Gefühl in ihm hochstieg, das er so schon lange nicht mehr gehabt hatte: Er hatte Blut geleckt. Er spürte Ehrgeiz, Neugier und den Drang zu handeln. Er war bereits so weit gekommen, jetzt wollte er es auch zu Ende bringen. »Warum nicht«, sagte er zu sich selbst und rief erneut bei Wojnar an. »Hallo, Theo. Ist die Liste der Krankenschwestern schon bei dir eingetroffen?«

»Ja, aber ich bin noch nicht dazugekommen, sie mir anzuschauen – hier ist nämlich gerade die Hölle los. Roman hat, ungern, aber doch, eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hat, und macht darum jetzt doppelt so viel Stress wie normalerweise. Sei froh, dass du nicht hier sein musst.«

»Wenn du magst, kann ich mir die Liste vornehmen. Ich kann momentan sowieso an nichts anderes denken.«

»Klar. Warum nicht? Gib mir deine E-Mail-Adresse, dann schicke ich sie dir.«

»Danke für dein Vertrauen, Theo.«

»Kein Problem, Otto. Wir ziehen ja am selben Strang.«

 

Nur wenige Augenblicke später kündigte ein lautes Piepsen den Eingang einer E-Mail an. Morell nippte an einer Tasse Tee, die er frisch aufgebrüht hatte, und kratzte sich am Kopf. Das waren ganz schön viele Krankenschwestern.

Er scrollte die Liste hinunter und achtete neben Theresia auch auf andere Formen des Vornamens wie Theresa oder Thea. Weder auf der ersten noch der zweiten Seite wurde er fündig, doch dann blieb sein Blick an einem Namen hängen: Theresia Langthaler.

Morell nahm einen großen Schluck Tee und lehnte sich zurück. Theresia Langthaler – das konnte doch kein Zufall sein. Er schaute sich ihr Geburtsdatum an und rechnete: 1978 war sie 29 Jahre alt gewesen – das passte perfekt ins Bild. Aber was hatte sie mit dem letzten Opfer, Moritz Langthaler, zu tun? Er überlegte. Wie alt Moritz Langthaler wohl war? Er schätzte ihn auf Anfang bis Mitte dreißig. War Moritz Langthaler etwa der Sohn von Gustaf Harr und Theresia Langthaler? Er musste unbedingt mit ihr reden.

Im Telefonbuch fand sich keine Theresia Langthaler, aber auf Wojnars Liste war ihre letzte bekannte Adresse angegeben. »Besser als nichts«, sagte er sich und machte sich auf den Weg.

 

Eine halbe Stunde später stand der Chefinspektor vor einer großen, etwas schäbigen Gemeindebauanlage und spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte: Auf einem der Klingelschilder stand tatsächlich der Name Langthaler. Seine Hände wurden leicht schwitzig, als er anläutete. Vielleicht konnte er den Fall ja wirklich lösen. Hier und jetzt.

»Grüß Gott, mein Name ist Otto Morell, und ich bin auf der Suche nach Theresia Langthaler«, erklärte er der blechernen Stimme, die aus der Gegensprechanlage ertönte.

»Erster Stock«, sagte die Stimme, gefolgt vom Summen des Türöffners.

Als Morell im ersten Stock ankam, stand bereits eine kleine dürre Frau, die einen geblümten Kittel trug, in einer der Türen und musterte ihn mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck. »Sie sind auf der Suche nach der Theresia?«

»Ja«, antwortete Morell. »Lebt sie hier?«

Die Frau schüttelte den Kopf und brachte dabei ihr schlohweißes Haar, das einen leichten Blaustich hatte, in Wallung. »Nein, meine Schwester, also die Theresia, ist tot.«

Morells Aufregung schlug in pure Enttäuschung um. »Tot?«

»Ja, sie ist vor zwei Monaten gestorben. Haben Sie das nicht gewusst?«

»Nein. Das tut mir sehr leid.« Morell war verstört. Was war geschehen? War auch sie ermordet worden?

»Waren Sie ein Freund von ihr?«, unterbrach die Frau Morells Gedanken.

»Ich … ähm … nein. Ich bin Polizist und …«

»Von der Polizei? Aber was hatte die Theresia denn mit der Polizei zu tun?« Sie starrte Morell mit großen, wässrig blauen Augen an.

Morell zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es ehrlich gesagt selber nicht. Es ist nur so, dass ich derzeit in einem Fall ermittle, der viele Jahre in die Vergangenheit zurückreicht, und ich hatte gehofft, dass Ihre Schwester mir vielleicht dabei weiterhelfen könnte. Darf ich fragen, woran Theresia gestorben ist?«

Die Frau nickte. »Kommen Sie doch herein«, sagte sie. »Ich habe gerade einen Kaffee gemacht.«

Morell folgte ihr in eine kleine, ärmlich eingerichtete, aber blitzsaubere Wohnung und setzte sich im Wohnzimmer auf eine mit einer rosaroten Häkeldecke überzogene Couch.

»Theresia hatte vor zehn Jahren einen Schlaganfall erlitten und war seitdem ein Pflegefall.« Die Frau hatte aus der Küche eine Kanne mit Filterkaffee geholt und schenkte Morell nun eine Tasse davon ein. »Ich habe mich, so gut es mir möglich war, um sie gekümmert. Vor zwei Monaten ist sie dann gestorben.« Sie versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, was ihr aber nicht wirklich gelang.

»Das tut mir so leid.« Morell nahm einen Schluck von dem Kaffee und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie schlecht er schmeckte.

»Das muss es nicht. Es war das Beste so. Brauchen Sie Milch oder Zucker?«

Morell verneinte. »Ihre Schwester war doch in den 70er Jahren mit Gustaf Harr zusammen. Können Sie mir etwas darüber erzählen?«

Die Augen der alten Frau wurden leicht feucht, als sie sich erinnerte. »Ach ja, der Gustaf. Über den ist sie nie hinweggekommen. Auf einer Ausgrabung im Ausland hat er eine andere Frau kennengelernt und die Theresia schwanger hier in Wien sitzenlassen. Meine arme, naive Schwester wollte das zeit ihres Lebens nicht wahrhaben. Sie hat ständig behauptet, dass es eine Verschwörung gäbe, dass der Gustaf entführt oder vielleicht sogar getötet worden sei.« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Erst dachte ich, dass diese Hysterie und Realitätsverweigerung an den Schwangerschaftshormonen liegen müsse, aber sogar als der kleine Moritz dann da war, hat sie nicht damit aufgehört.«

Morell spürte, wie seine Sinne plötzlich hellwach waren. Er hatte richtig vermutet: Moritz Langthaler war der Sohn von Gustaf Harr und Theresia Langthaler. Die Lösung lag zum Greifen nah.

»Sie konnte einfach nicht glauben, dass der Gustaf sie hat sitzenlassen«, redete Theresia Langthalers Schwester weiter. »Ich habe tausendmal versucht, ihr zu erklären, dass Männer nun mal so sind. Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht die Erste und auch nicht die Letzte sei, die samt Kind von einem Mistkerl verlassen wurde.« Sie strich sich eine Strähne ihres bläulichen Haars aus dem Gesicht. »Nicht mein Gustaf, hat die Theresia immer gesagt. Mein Gustaf würde so was nie tun. Aber was soll ich sagen – er hat es halt doch gemacht.«

»Hat Ihre Schwester denn nie die Polizei eingeschaltet?«

Die alte Frau winkte ab. »Überall war sie. Aber keiner hat ihr geglaubt. Sie war bei seinen Arbeitskollegen, seinem Arbeitgeber, bei der Polizei – ja sogar nach Syrien ist sie gefahren. Ein Drama war das. Ihren Job hat sie deswegen aufgegeben, ihr ganzes Erspartes zum Fenster rausgeschmissen, Schulden hat sie deswegen gemacht und das Kind vernachlässigt – der arme, kleine Moritz musste sogar lange Jahre in einer Pflegefamilie leben. Dem armen Wicht haben die Eltern so sehr gefehlt – er ist sogar Archäologe geworden, nur um dem verschollenen Vater näherzukommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich will gar nimmer daran denken. So eine Tragödie – und das alles nur wegen einem selbstsüchtigen Mannsbild.«

 

Nach seinem Besuch bei Theresia Langthalers Schwester war Morell sehr nachdenklich geworden. Das Gespräch hatte nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Wer konnte ein Interesse daran haben, die Grabungsteilnehmer zu töten? Der Einzige, der ein starkes Motiv hatte, war Moritz Langthaler – Novak, Meinrad, Uhl und Nagy hatten immerhin seinen Vater auf dem Gewissen und damit indirekt seine Kindheit ruiniert. Doch wer konnte etwas gegen Langthaler haben? Warum sollte er ausgeschaltet werden?

Als Morell nach Hause kam, stand Capelli gerade auf einer Leiter und strich die Decke im Flur gelb an.

»Hallo, Otto, da bist du ja«, sagte sie. »Wo bist du denn gewesen?«

»Frag nicht«, winkte Morell ab. »Ich bin gerade ziemlich verwirrt. Der ganze Fall wird von Mal zu Mal verzwickter. Ich werde mir jetzt einen Salat machen und noch einmal gründlich über alles nachdenken.« Er ging unter der Leiter durch.

»Nicht unten durch«, rief Capelli. »Das bringt Unglück!« Sie hielt kurz inne. »Und schon passiert – jetzt ist gelbe Farbe in deine Haare getropft.«

Morell fuhr sich durchs Haar und blickte dann auf seine gelb verschmierten Finger.

»Tut mir leid.« Capelli grinste verlegen.

Morell überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf und lächelte. »Muss es nicht.« Er sauste ins Wohnzimmer. »Ich glaube, ich habe gerade den Schlüssel zur Lösung des Falles gefunden.«

»Wirklich?« Capelli rannte ihm mit tropfendem Pinsel in der Hand hinterher. »Erzähl!«

»Wart noch einen Moment – ich brauche noch ein paar Unterlagen von Wojnar. Dann erkläre ich dir alles.«

Kurze Zeit später hatte Wojnar die Unterlagen gefaxt, die Morell haben wollte.

»Sieh’s dir an«, sagte er zu Capelli.

Die Gerichtsmedizinerin studierte die Akte und nickte. »Du hast recht«, rief sie und umarmte Morell. »Verdammt, du hast recht! Otto, du bist der Beste.«

Morell grinste – er hatte zwei Fälle an nur einem Tag gelöst und war ziemlich stolz auf sich. »Nun ja«, sagte er verlegen. »Ich habe nur meinen Job gemacht.«