»Es wehet Dunst mir wie aus einem Grabe zu!«

Aischylos, Agamemnon

»Worauf habe ich mich da bloß eingelassen.« Morell stapfte über die Straße und war böse auf sich selbst. Warum war er nur immer so gutmütig? Warum wurde er sofort weich, wenn eine hilflose Person ihn mit großen Augen anschaute und ihm eine rührselige Geschichte erzählte?

Er blieb vor der Tür des Bestattungsunternehmens stehen. Noch war er nicht drinnen. Noch konnte er einen Rückzieher machen. Er spähte über seine Schulter. Frau Horsky stand auf der anderen Straßenseite, und als sie sein Zögern bemerkte, fing sie an, mit ihrem Spazierstock herumzufuchteln.

»Ich will nicht!«, zeterte der Chefinspektor leise vor sich hin. Und wahrscheinlich hätte er es sich doch noch anders überlegt und die Flucht ergriffen, wenn nicht plötzlich jemand von innen die Tür aufgemacht hätte.

»Herzlich willkommen«, sagte ein mittelgroßer Mann mit schütterem, graumeliertem Haar und einer ziemlich großen Nase. Er trug einen teuer wirkenden, dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen. Mit seiner edlen Krawatte, die er zu einem doppelten Windsor-Knoten gebunden hatte, sah er eher wie ein Vertreter des Hochadels als wie ein Bestattungsunternehmer aus. »Treten Sie ein!«

Morell zierte sich kurz, nahm dann aber die Einladung an.

»Bitte nur keine Scheu. Folgen Sie mir.« Der Mann führte Morell in eine Art Besprechungszimmer, deutete auf einen Sessel und nahm dann gegenüber von ihm Platz. »Walter Eschener.« Er streckte Morell seine Hand entgegen, an der ein Siegelring mit einem Familienwappen glitzerte.

»Ich … ähm … mein Name ist Mo… Reiter. Thomas Reiter.«

»Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Reiter?«

»Ich bin hier … ähm …« Morell hasste es, schon wieder lügen zu müssen. Seine Stimme zitterte, und seine Hände waren ganz schwitzig.

»Ist schon gut, lassen Sie sich Zeit. Ein Trauerfall ist immer ein harter Schlag. Viele meiner Kunden tun sich schwer, darüber zu sprechen.« Eschener faltete die Hände ineinander, legte den Kopf ein wenig schief und lächelte Morell zaghaft an. Er hatte eine sehr angenehme Art und eine ruhige, sonore Stimme, die den Chefinspektor langsam ein bisschen auftauen ließ.

»Ich bin nicht wegen einer Bestattung hier, sondern wegen eines Jobs.«

»Wegen eines Jobs?«

»Ja, ich suche eine Stelle im Bestattungswesen.«

»Aber sagen Sie das doch gleich!« Eschener lehnte sich in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und musterte Morell. »Haben Sie denn Erfahrungen in dieser Branche?«

Morell reichte Eschener das Empfehlungsschreiben. Dieser überflog es kurz und nickte dann anerkennend.

»Somnus Bestattungen. Ein sehr renommiertes Unternehmen. Hier steht, dass Sie flexibel, ehrlich, belastbar und verantwortungsbewusst sind. Das sind wichtige Eigenschaften in unserem Job.« Er spielte mit seinem Ring. »Haben Sie einen Führerschein?«

Morell nickte. »Klasse A und B.«

»Nun ja, Herr Reiter, Ihre Referenzen sind ausgezeichnet, und Sie machen den Eindruck, als wären Sie in der Lage, ordentlich anzupacken. Ich werde Ihnen deshalb eine Chance geben und lasse Sie Probe arbeiten. Gute Leute sind rar, und wir könnten tatsächlich eine Aushilfskraft für vormittags gebrauchen.«

Morell schluckte, dachte dann aber an den armen Lorentz und das Apfelstrudelrezept und versuchte so zu tun, als würde er sich freuen. »Vielen Dank für Ihr Vertrauen.«

Eschener öffnete eine Schreibtischschublade, zog eine kleine Anstecknadel mit dem Logo der Pietät heraus und heftete sie an Morells Kragen. »Willkommen im Team. Morgen früh um neun Uhr legen wir los. Ich gebe Ihnen noch schnell einen kurzen Überblick über unsere Leistungen, damit Sie wissen, was so alles auf Sie zukommt.«

Morell nickte. »Da bin ich ja gespannt.«

»Ich bin stolz, sagen zu können, dass wir Wiens innovativstes Bestattungsunternehmen sind. Niemand bietet so viele verschiedene Beisetzungsarten an und ist so modern und progressiv wie wir. Bei uns gibt es nichts, was es nicht gibt. Die einfachen Erd-, Gruft- und Feuerbestattungen kennen Sie ja sicherlich noch von Ihrer Zeit bei Somnus. Wir haben aber zusätzlich noch andere Formen wie See- und Baumbestattungen im Repertoire. Wir können außerdem organisieren, dass die Asche von einem Heißluftballon aus in alle Winde gestreut wird, und last but not least bieten wir auch Diamantbestattungen an. Dabei wird ein Teil der Asche in einem speziellen Verfahren zu einem Edelstein gepresst. Ein guter Freund von mir ist Goldschmied. Auf Wunsch kann er die Diamanten schleifen und fassen.«

Morell verzog den Mund. »Ich weiß nicht, ob ich unbedingt tote Menschen um meinen Hals oder an meinen Fingern tragen möchte.«

»Nun ja, Herr Reiter. Nicht jeder denkt so wie Sie.« Eschener öffnete eine Schublade und zog einen Stapel Prospekte heraus. »Die können Sie sich zu Hause durchschauen, um ein Gefühl für unsere Dienstleistungen zu bekommen. Ab morgen müssen Sie nämlich überall dort anpacken, wo Not am Mann ist. Möglich, dass Sie dem Fahrer bei der Abholung von Verstorbenen helfen. Vielleicht müssen Sie Telefondienst machen. Kann sein, dass ich Sie im Verkaufsraum brauche oder dass Sie beim Einsargen oder unten in der Thanatopraxie mithelfen müssen.«

»Thanato… was?« Morells Angespanntheit wurde wieder schlimmer.

»Thanatopraxie. Stimmt, Somnus hat so was ja nicht.« Eschener lächelte selig. »Die Thanatopraxie ist ein Teil meines Unternehmens, auf den ich ganz besonders stolz bin. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.« Er stand auf und bedeutete Morell, ihm zu folgen. Sie gingen in den Flur, wo der Bestatter vor einer dunklen Holztür stehen blieb. »Hier geht’s eine Etage tiefer.«

»Verstehe«, sagte Morell, der nicht nach unten wollte. »Da können wir dann ja morgen oder übermorgen mal runterschauen. Ich will Ihre Zeit heute nicht noch mehr in Anspruch nehmen. Sie haben sicher viel zu tun.«

»Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen, aber keine Sorge, Herr Reiter, Sie haben einen günstigen Zeitpunkt erwischt.« Eschener öffnete die Tür und machte mit dem Arm eine einladende Geste.

Morell folgte dem Bestatter langsam die Stiege hinunter, und mit jeder Stufe, die er nahm, verspürte er ein bisschen mehr Übelkeit. Er mochte keine Leichen, er mochte keine Keller, und noch weniger mochte er die Kombination aus beidem.

»Hier gleich rechts befindet sich unser Lagerraum.« Eschener öffnete eine Tür, betätigte einen Lichtschalter und gab den Blick auf ein Meer von Särgen, Urnen, Kerzen und Kartons frei.

»Beeindruckend, nicht wahr?« Eschener schloss wieder zu und zeigte auf eine schwere Metalltür gleich vis-à-vis vom Lager, in die auf Augenhöhe ein kleines, quadratisches Sichtfenster eingelassen war. »Das ist unser Kühlraum, in dem sich unsere Gäste befinden. Heute handelt es sich dabei nur um eine ältere Dame, die gestern in einem Pflegeheim verstorben ist und übermorgen beigesetzt wird.« Er machte eine theatralische Pause und wandte sich dann einer dritten Tür zu, die sich direkt vor ihm befand. »Und hier ist unser Thanatopraxieraum.«

»Und da drin machen Sie was genau?« Morell bereute die Frage noch im selben Atemzug.

»Die Aufgaben der Thanatopraxie reichen von der Desinfektion des Toten und dem Schließen der Körperöffnungen bis hin zur ästhetischen Wiederherstellung und Einbalsamierung.«

»Einbalsamierung?«

»Ja, die Bauchhöhle des Dahingeschiedenen wird trockengelegt und sein Blut durch Formalin ersetzt. Der Trend aus den USA kommt langsam auch nach Österreich. Immer mehr Menschen wollen ihre Reise in die Ewigkeit schön und unversehrt antreten. Zudem wollen viele Angehörige ihre Verstorbenen noch ein letztes Mal sehen, und wir kümmern uns darum, dass dies ein würdiger Anblick wird. Vor allem nach Unfällen, Gewalttaten oder schweren Krankheiten ist das eine ziemliche Herausforderung. Aber Herr Jedler, unser Thanatopraktiker, ist ein Profi. Er vollbringt wahre Wunder.« Eschener lächelte verklärt.

Morell, dem ganz flau war, wollte nur noch eines – ganz schnell weg von hier. Er war vor Gewalt und Tod nach Landau geflohen, und jetzt fand er sich wieder einmal mittendrin. »Danke für die Führung«, sagte er und steuerte auf die Treppe zu.

»Aber Herr Reiter, wollen Sie denn gar keinen Blick in den Thanatopraxieraum werfen?«

Morell wollte definitiv nicht! »Tut mir wirklich leid, aber ich habe noch einen Termin und muss dringend los«, log er. »Sie können mir den Raum ja ein anderes Mal zeigen.«

»Es dauert nur ganz kurz …«, setzte Eschener an.

In diesem Moment begann Morells Handy zu läuten. »O je, es wird nach mir verlangt. Ich muss wirklich los! Bis morgen!« Der Chefinspektor stürmte, begleitet vom Klingeln des Handys, nach oben und dankte dem unbekannten Anrufer.

»Na gut, dann halt morgen«, rief Eschener und wunderte sich, wie dieser dicke, behäbige Mann so flink die Stiege hinaufsausen konnte.