»Aber der Wind blies lässig darüber hin

und kein Ton drang zur Oberfläche,

und sie saßen auf dem Grab, wartend und wartend.«

Charles Dickens, Schwere Zeiten

Morell stand klatschnass vor der schweren Eingangstür von Capellis Haus und fluchte leise vor sich hin.

Der Chefinspektor hatte sich direkt nach seinem Besuch im Archäologiezentrum auf den Weg in die Justizvollzugsanstalt gemacht, um Lorentz zu besuchen. Es hatte ihn zwar große Überwindung gekostet, in seinem beschwipsten Zustand ins Untersuchungsgefängnis zu fahren und dort den Beamten gegenüberzutreten, aber er hatte unbedingt sehen wollen, wie es seinem Freund ging, und außerdem gehofft, dass dieser etwas über das fehlende Foto wusste.

Um seine Fahne zu überdecken, hatte Morell eine Packung Fisherman’s Friends gekauft und sich vor dem Betreten des Grauen Hauses – wie die JVA Josefstadt auch genannt wurde – eine Handvoll davon in den Mund gesteckt. »Cheiche, chind die charf«, hatte er geflucht und sich an den Werbeslogan der Pastillen erinnert: Sind sie zu stark – bist du zu schwach. Er hatte sich eingestehen müssen, dass er wohl wirklich zu schwach war – zu schwach für Wien, zu schwach für Schnaps in aller Herrgottsfrühe und sogar zu schwach für ein paar einfache Pfefferminzbonbons.

Der Anflug von Selbstmitleid hatte sich beim Anblick von Lorentz relativ schnell wieder verflüchtigt. Der normalerweise so lebensfrohe und selbstbewusste Archäologe war die personifizierte Verzweiflung gewesen. Der Gefängnisalltag war hart – vor allem für jemanden wie ihn: einen intellektuellen Freigeist, der bisher noch nie mit dieser Art von Überwachung und Einschränkung in Berührung gekommen war.

Lorentz hatte dem Chefinspektor zwar leider nichts über das fehlende Foto, dafür aber ein paar Details über die Mordnacht erzählen können: Er war kurz nach Mitternacht in die Uni gefahren, hatte in Novaks Büro nach seinen Aufzeichnungen gesucht und sie, inklusive ein paar wichtiger Proben, die ihm schon seit Monaten abgingen, tatsächlich dort gefunden. Er hatte gerade alle seine Sachen in eine große Kiste gepackt, als er hörte, dass der Fahrstuhl betätigt wurde. Nervös hatte er daraufhin den Karton so leise wie möglich die Treppe hinuntergeschleppt – was ziemlich lange gedauert hatte – und anschließend das Gebäude verlassen, ohne jemanden gesehen oder gehört zu haben.

Auch wusste er einiges über das Opfer zu berichten: Novak war nicht unbedingt ein herausragender Wissenschaftler gewesen, hatte aber das, was ihm an Brillanz und Geist fehlte, durch Ehrgeiz und Vitamin B wettgemacht. An Ambition und Streben nach Ruhm war er kaum zu übertreffen gewesen und hatte sogar einen erheblichen Teil seines Privatvermögens in seine Forschungen gesteckt. Dass sich einige seiner Theorien im Laufe der Zeit als falsch herausgestellt hatten, wollte er nicht wahrhaben. Aber so war das nun einmal in der Archäologie: Jeder neue Fund war ein neues Puzzleteil, das das Bild der Vergangenheit wieder veränderte. Doch Novak hatte lieber Lorentz’ Forschungsergebnisse über ein awarisches Gräberfeld gestohlen, als zugeben zu müssen, dass er sich geirrt hatte. Er war eine regelrechte Plage gewesen, aber niemand im Institut hatte einen Grund gehabt, ihn ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt zu ermorden – in wenigen Monaten wäre der Professor nämlich ohnehin in Pension gegangen.

Morell hatte entschieden, dass es unter diesen Umständen wohl das Vernünftigste war, die Familie des Opfers einmal genau unter die Lupe zu nehmen. Schließlich war es gut möglich, dass der Mörder aus dem Familien- oder Freundeskreis stammte und bewusst die Universität als Tatort gewählt hatte, um die Ermittler auf eine falsche Spur zu führen. Er hatte außerdem noch Lorentz’ Meinung bezüglich Payer, Langthaler und Wondraschek eingeholt. Lorentz hatte kurz überlegt und dann für alle drei eine Unbedenklichkeitserklärung ausgesprochen: Payer war kauzig, aber harmlos, Langthaler war Novak treu ergeben gewesen, und Wondraschek war ein blonder Engel, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.

Als die Besuchszeit zu Ende gewesen war, hatte der Chefinspektor auf dem Naschmarkt üppig eingekauft und sich dann mit brummendem Schädel auf den Heimweg gemacht, wo er mitten auf der Straße von einem Platzregen überrascht worden war. So stand er nun klatschnass vor der Tür und fluchte über das Sauwetter. Er hoffte inständig, dass er sich keine Erkältung eingefangen hatte – das hätte ihm gerade noch gefehlt. Wobei – bei dem Pech, das er im Moment hatte, hätte ihn das auch nicht mehr gewundert. Apropos Pech und Dinge, die schiefgehen konnten: Er musste dringend bei Bender anrufen und sich nach der Lage erkundigen.

Morell grummelte. Ihm war kalt, er war nass bis auf die Knochen, müde und hungrig. Dazu kamen der alltägliche Valerie-Kummer und Heimweh nach Landau. Er würde sich jetzt erst mal eine heiße Dusche gönnen, danach etwas Gutes kochen und sich dann früh ins Bett legen.

Er nahm gerade die erste Stufe in Richtung Erholung, als die Haustür energisch aufgerissen wurde und ein kleines Persönchen mit einem Trolley im Schlepptau auf der Bildfläche erschien. Das Persönchen schüttelte seinen Schirm aus und versprühte einen nasskalten Schauer durch den gesamten Eingangsbereich. Der Chefinspektor wollte gerade vor dieser Tropfenattacke flüchten, als eine bekannte Stimme ihn zurückrief: »Sind Sie das, Herr Morell?«

Er hielt inne, drehte sich um und blickte direkt in ein Meer aus Falten und silbergrauem Haar. »Frau Horsky?«, fragte er ungläubig.

»Ja, ja, ich bin’s.« Die sonst so sauertöpfische Miene der alten Dame wich einem strahlenden Lächeln. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran und musterte ihn. »Ich hätte Sie fast nicht mehr wiedererkannt, lassen Sie sich anschauen!«

Der Chefinspektor wunderte sich insgeheim, dass Agathe Horsky immer noch lebte. Die kleine Frau war schon zu der Zeit, als er noch in Wien gearbeitet hatte, gefühlte 150 Jahre alt gewesen. Das winzige, zerfurchte Leichtgewicht sah mittlerweile aus wie ein Stück Trockenobst. Wahrscheinlich war sie tatsächlich 150 Jahre alt, konnte aber nicht sterben, weil der Hass auf die Welt sie am Leben hielt – Hass war ein völlig unterschätztes Lebenselixier.

»Ich bin ja so froh, dass Sie zurück sind. Endlich gibt es bei diesem Sauhaufen, der sich Kripo schimpft, wieder einen freundlichen, kompetenten Mitarbeiter. Kommen Sie, ich zeige Ihnen gleich mal den Zettel.«

»Welchen Zettel?« Morell schwante Schlimmes. Frau Horsky, oder besser gesagt ihr Sohn, war einer seiner Fälle gewesen. Benedikt Horsky, ein wohlhabender Bestattungsunternehmer, war eines Abends einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Der Junggeselle, der noch bei seiner Mutter gewohnt hatte, hatte sich weder von irgendjemandem verabschiedet noch irgendetwas mitgenommen. Es war alles da gewesen: Pass, Kreditkarten, Sparbücher, Schlüssel, Handy, Kleidung, das Auto … Morell war sich sicher, dass Benedikt Horsky umgebracht worden war, das sagte ihm sein Bauch, und sein Bauch irrte sich nie. Trotzdem wurde die Angelegenheit bald zu den Akten gelegt. Es gab keine Leiche, kein Motiv, keine Verdächtigen und somit auch keinen Fall. Der Bestattungsunternehmer wurde schlicht und ergreifend als langzeitvermisste Person deklariert. Frau Horsky war an der Ungewissheit und dem Kummer zerbrochen. Sie wollte sich nicht damit abfinden, dass das Verschwinden ihres einzigen Kindes ungeklärt blieb, und war täglich ins Landeskriminalamt gepilgert, um sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Es hatte Morell jedes Mal beinahe das Herz gebrochen, ihr mitzuteilen, dass es nichts Neues gab.

»Kommen Sie!« Frau Horsky drückte Morell den Trolley in die Hand und begann, die Stiege hinaufzugehen. »Ich habe etwas gefunden, das endlich Licht in die Sache bringen könnte. Monatelang habe ich versucht, Ihre Kollegen von der Wichtigkeit meiner Entdeckung zu überzeugen, aber die wollten nicht auf eine arme, alte Frau wie mich hören. Was für ein Glück, dass Sie wieder da sind und sich darum kümmern. Ich werde gleich morgen im Stephansdom eine Kerze anzünden.«

Der Chefinspektor holte tief Luft und nahm die Hand der alten Frau. »Es tut mir leid, dass diese Sache Sie immer noch so sehr beschäftigt. Bedauerlicherweise bin ich aber wegen eines anderen Falls hier, und das auch nicht offiziell.«

»Wie bitte?« Frau Horskys Lächeln verschwand und wich wieder ihrem üblichen verkniffenen Gesichtsausdruck. Sie zog ihre Hand zurück und funkelte Morell mit wässrigen Augen an. »Aber Sie müssen …«

»Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich bin jetzt für einen kleinen Ort namens Landau verantwortlich und habe mit den Fällen aus Wien nichts mehr zu tun. Ich bin nur hier, weil ein Freund von mir, der zufälligerweise bei Ihnen im Haus wohnt, unschuldig im Gefängnis sitzt.«

»Was? Sie sind extra wegen dieses Herrn Lorentz, dieses unhöflichen, ungezogenen Lümmels hergekommen, und mich wollen Sie einfach im Stich lassen? Mein Sohn war auch unschuldig!« Frau Horsky riss Morell den Trolley aus der Hand. »Wie können Sie nur so herzlos sein?«

»Ich habe wirklich nicht genügend Zeit, um Ihrem Fall die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die er verdient«, versuchte Morell sich aus der Affäre zu ziehen.

»Sie könnten es zumindest versuchen«, schluchzte die alte Frau. »Das Schicksal hat Sie doch ganz offensichtlich direkt zu mir und meinem Sohn zurückgeführt.«

»Das Schicksal ist ein unzurechnungsfähiger Idiot«, brummte Morell leise. »Und sein Bruder, der Zufall, ist ein blinder Depp.«

»War das ein Ja?« Frau Horsky schneuzte sich und sah den Chefinspektor erwartungsvoll an.

»Nun«, gab Morell nach, der es nicht länger ertragen konnte, die alte Frau weinen zu sehen, »vielleicht können wir ja morgen einen Kaffee miteinander trinken, und ich schaue mir dabei an, was Sie gefunden haben. Ich kann Ihnen aber nichts versprechen.«

»Schön, dann kommen Sie doch bitte um zehn bei mir vorbei. Ich backe auch einen Apfelstrudel für Sie.« Sie verschwand in ihrer Wohnung.

»Bis morgen«, sagte der Chefinspektor und verfluchte wieder einmal seine Gutmütigkeit. Er schloss die Tür zu Capellis Wohnung auf und sinnierte. Was hatte er sich da nur wieder eingebrockt? Die heiße Dusche hatte er sich jetzt redlich verdient. Aber zuerst würde er rasch Bender anrufen, bevor noch was dazwischenkam.