»Vielleicht könnt Ihr noch, eh Ihr zu Grabe geht,

eine Wallfahrt nach seinem Monumente thun.«

Friedrich Schiller, Die Räuber

Morell, der um acht Uhr immer noch tief und fest vor sich hin schlummerte, wurde durch das Läuten seines Handys geweckt. »Hallo?«, murmelte er verschlafen.

»Otto? Hier ist Leander. Anscheinend hast du hier drinnen einen neuen Freund. Ich habe gestern deine Nachricht erhalten, und gleich heute Morgen wurde mir erlaubt, dich anzurufen.«

Morell rieb sich den Schlaf aus den Augen und lächelte bei dem Gedanken an den freundlichen Justizvollzugsbeamten. »Und?«, fragte er mit belegter Stimme. »Kannst du mit den komischen Begriffen und Zahlen auf der Liste irgendetwas anfangen? Ist es vielleicht ein Code?«

»Nein, wenn ich mich nicht allzu sehr täusche, handelt es sich bei den Begriffen um Reliquien.«

»Reliquien?« Morell setzte sich im Bett auf und fuhr sich durch die Haare.

»Ja. Os coxae, MCCXVIII, f., 40–45 ist das Hüftbein einer Frau im Alter zwischen 40 und 45 Jahren, aus dem Jahr 1218. Das würde zum Beispiel zu der heiligen Franca von Piacenza passen. Oder Os metacarpale secundum, DLIX, m., 60–65 ist ein Mittelhandknochen aus dem Jahr 559, von einem Mann um die 60 – was, wenn meine Recherchen in der Anstaltsbibliothek richtig sind, ein Stück vom heiligen Leonhard von Noblat sein könnte.«

»Das musst du mir genauer erklären.«

»Reliquie ist Latein und bedeutet übersetzt so viel wie ›Überbleibsel‹, genauer gesagt das Überbleibsel eines oder einer Heiligen. Meistens sind das Knochen, Zähne oder Haare.«

»Und was macht man damit?«

»Mensch, Otto, ich dachte, du seiest katholisch?«

»Bin ich ja auch. Trotzdem weiß ich nichts über die Reste von Heiligen.«

»Reliquien werden wundertätige Eigenschaften zugesprochen – daher sind viele Menschen erpicht darauf, eine zu besitzen. Zudem besagt das Kirchenrecht der katholischen Kirche, dass in jedem geweihten Altar eine Reliquie zu sein hat. Das, ich zitiere, soll verdeutlichen, dass die Opfer der Heiligen im Opfer Christi, das auf dem Altar gefeiert wird, ihren Ursprung haben. Außerdem führt es die Tradition fort, Kirchen auf den Gräbern von Heiligen zu errichten. Spätestens seit dem 4. Jahrhundert gibt es so gut wie keinen Altar mehr ohne Reliquie.«

»Soll das heißen, dass in jedem Altar ein Stück von einem Heiligen liegt?«

»Ganz genau – zumindest in jedem katholischen Altar. Die Protestanten sind dagegen.«

»Das hab’ ich nicht gewusst.«

»Glaub mir, ich hab’s auch erst in meiner Studienzeit durch ein Referat über den frühchristlichen Reliquienkult erfahren. Ziemlich schräg, findest du nicht? Jedes Mal, wenn ich zu einer Hochzeit oder Beerdigung gehe, muss ich mir vorstellen, dass im Altar ein paar Leichenteile liegen.«

»Brrr.« Morell schüttelte sich.

»Wenn dieser Uhl mit Hilfe von Novak Reliquien gefälscht hat, dann würde das schon einen Sinn ergeben.«

»Inwiefern?«

»Nun, erstens würde es einmal erklären, woher Novak so viel Geld hatte. Reliquien sind sehr wertvoll, und es gibt sicherlich eine beachtliche Anzahl an Kirchen und Privatpersonen, die etliche tausend Euro dafür bezahlen würden. Im Mittelalter hielt man Reliquien sogar für kostbarer als Gold und Edelsteine.«

»Und zweitens?«

»Wer kann besser eine Reliquie fälschen als ein Archäologe? Als Archäologe hat man nämlich problemlosen Zugriff auf die richtigen Grundmaterialien aus den jeweils passenden Epochen. Damit wird es schwer bis unmöglich, eine Fälschung zu beweisen.«

»Du meinst, wenn jemand die Reliquie eines Heiligen nachmachen würde, der im 18. Jahrhundert gelebt hat, und er verwendet dafür Knochenmaterial eines Toten aus ebendieser Zeit, könnte man nicht feststellen, ob die Reliquie echt oder falsch ist?«

»Exakt. Man muss natürlich die Heiligenlegenden genauestens studieren. Wenn ein Heiliger verbrannt wurde, braucht man Asche und keine Knochen. Zudem muss man registrieren, welche Reliquien bereits offiziell vergeben sind. Man kann keinen Oberschenkelknochen vom heiligen Ignatius verkaufen, wenn der bereits in Rom liegt. Außerdem muss man darauf achten, wie der- oder diejenige gestorben ist. Wurde jemandem der Schädel eingeschlagen, muss auch ein Loch drin sein.«

Morell, der mittlerweile hellwach war, nickte. Was Lorentz erzählte, war logisch. Novak und Payer schafften also die Grundmaterialien an, während Uhl sie verarbeitete und weiterverkaufte. »Nur eines ist mir noch nicht ganz klar: Was ist mit den anderen Dingen, die auf der Liste standen?«

»Du meinst den Eisennagel, die Daumenschraube und die Terra Sigillata?«

»Genau. Das sind ja ganz offensichtlich keine Überbleibsel von Heiligen.«

»Nein, aber es sind wahrscheinlich Reliquien zweiter Klasse. Das sind keine direkten Teile der Person, aber Dinge, die sie berührt hat. Das sind meistens Gewänder, Foltergeräte oder die Waffen, durch die sie ums Leben gekommen ist.« Lorentz hielt inne. »O nein«, motzte er. »Mir wird gerade angedeutet, dass meine Zeit um ist. Ich muss leider aufhören. Sag Nina alles Liebe von mir.«

Gedankenverloren und noch im Pyjama schlurfte Morell in die Küche zu Capelli, die gerade dabei war, den Frühstückstisch zu decken. »Ich habe gerade mit Leander telefoniert«, sagte er.

»Wie geht es ihm?« Die Gerichtsmedizinerin schaute Morell mit großen, fragenden Augen an.

»Den Umständen entsprechend«, winkte er ab. »Gib mir bitte mal die Schachtel, die du aus Stimpfls Haus geklaut hast.«

»Wusste Leander, was es mit den Listen auf sich hat?« Capelli holte die Schachtel, stellte sie auf den Tisch und öffnete den Deckel.

»Höchstwahrscheinlich.« In aller Kürze erzählte ihr Morell von Lorentz’ Entdeckungen. »Nun müssen wir das noch überprüfen. Schau doch bitte mal im Internet nach, wann die heilige Margareta gelebt hat.«

Capelli tat wie ihr geheißen und wurde schnell fündig. »Die heilige Margareta von Antiochien starb im Jahr 305 in Pisidien den Märtyrertod. Ihr genaues Geburtsjahr ist nicht bekannt. Man nimmt an, dass sie ungefähr achtzehn Jahre alt geworden ist.«

»Alles klar.« Morell begann die Listen durchzusehen. »Wie sieht die 305 in römischen Zahlen aus? Dreimal das C und einmal das V? Ist das richtig?«

Capelli nickte.

Morell blätterte weiter und klatschte wenige Augenblicke später in die Hände. »Leander hat tatsächlich das Geheimnis um diese Listen gelüftet! Schau dir den dritten Punkt an: Costa vera, CCCV, f., 15–20.«

»Das wäre dann eine Rippe von einer Frau im Alter zwischen 15 und 20 Jahren, aus dem Jahr 305. Was exakt …«

»… auf die heilige Margareta passen würde«, vervollständigte Morell den Satz.

Capelli gab einen neuen Suchauftrag ein. »Die Gebeine der heiligen Margareta wurden laut dem Heiligenlexikon bereits im Jahr 908 von Antiochien nach Italien gebracht, wo sie im Kloster des heiligen Petrus in Valle beigesetzt wurden. 1098 holten die Franzosen die Überreste nach Frankreich, wo sich ihre Spuren dann verliefen.«

»Perfekt für Uhl«, stellte Morell fest. »Wenn keiner mehr weiß, wo die Reste von Margareta liegen, kann niemand beweisen, dass es sich bei den Knochen in Stimpfls Kirche nicht um die der echten Heiligen handelt. Und so wie ich Crazy Willie einschätze, ist es für ihn absolut kein Problem, sich eine erfundene Herkunftsgeschichte der Reliquien aus den Fingern zu saugen. Wahrscheinlich hat er sogar noch Spaß daran, seiner Phantasie irgendwelche abenteuerlichen Storys darüber zu entlocken, wie die Knochen in seinen Besitz gelangt sind. Sei doch mal so gut und schau nach, ob es auch Heilige aus dem 18. Jahrhundert gibt. Dann hätten wir nämlich eine Erklärung dafür, was Payer in den Katakomben getrieben hat.«

»Ja, es gibt einige: Josef Maria Tomasi, Maria Kreszentia Höß, Ignatius von Santhia und so weiter und so fort.«

»Keine Habsburger-DNA also, sondern schlicht und ergreifend einfach nur Knochen.«

Capelli fing an zu schmunzeln. »Diese Typen würde ich gerne mal kennenlernen. Die Idee, alte Knochen als die Überbleibsel von Heiligen zu verhökern, ist so durchgeknallt, dass sie fast schon wieder genial ist.«

»Wie sagt man so schön: Genie und Wahnsinn liegen meist sehr nah beieinander.«

»Wenn Stimpfl herausgefunden hat, dass er einem Betrüger aufgesessen ist, ist das übrigens ein starkes Motiv für einen Mord.«

»Aber warum hat er dann Novak getötet und nicht Uhl? Außerdem ist er ein Priester und hat eine Katze.«

Capelli verdrehte die Augen. »Manchmal frage ich mich wirklich, wie du es so weit hast bringen können. Eine Priesterweihe und eine Katze haben noch keinen davon abgehalten, einen Mord zu begehen.«

»Das werden wir ja noch sehen.« Morell strich über seinen Bauch. »Heute ist Sonntag, der Tag des Herrn – ein guter Tag, um die Unschuld eines seiner Angestellten zu beweisen.«

»Und wie willst du das machen? Willst du die Reliquien irgendeines Heiligen um Hilfe bitten?« Sie lachte.

»Nein, das nicht. Aber ich werde Uhl auf den Zahn fühlen. Mal sehen, welche unheiligen Dinge er am heiligen Sonntag so treibt.«

 

Nachdem er etwas Knäckebrot mit Margarine gefrühstückt hatte, machte sich Morell auf den Weg in Richtung Blutgasse. Während der Fahrt überlegte er, ob es nicht besser wäre, Weber einzuweihen, entschied sich dann aber dagegen. Es war noch zu früh – er hatte keine stichhaltigen Beweise für seine Behauptungen und würde in Erklärungsnotstand kommen, wenn es darum ging zu erläutern, woher die Box mit den Listen stammte.

Als er erneut vor der kleinen düsteren Auslage stand, in der Kreuze und Rosenkränze vor sich hinstaubten, und bei Uhl läutete, war es vor allem eine Frage, die sein Denken dominierte: Hatten Crazy Willie und Crazy Ernstl tatsächlich etwas mit dem Mord an Novak zu tun?

Morell griff an seine Hosentasche und befühlte den harten Stahl des Klappmessers, das Capelli ihm aufgedrängt hatte. »Sicher ist sicher«, hatte sie gesagt und ihm das Ding in die Tasche gesteckt. »Wenn dieser Uhl wirklich so durchgeknallt ist, wie ich ihn mir vorstelle, ist es besser, du hast etwas dabei, womit du dich zur Not verteidigen kannst.«

Morell, der Waffen jeglicher Art nicht ausstehen konnte und daher auch seine Dienstwaffe in Landau gelassen hatte, wollte sich erst dagegen wehren, war dann aber zu der Einsicht gelangt, dass Capelli recht hatte. Uhl war auf jeden Fall nicht ganz dicht, und eventuell war er sogar ein Mörder – da konnte ein Messer nicht schaden.

Er klingelte erneut, und als niemand öffnete, fing er an, gegen die Tür zu klopfen.

»Jaaaaa!!!«, rief eine Stimme aus dem Inneren des Ladens. »Was ist denn?« Das Licht ging an, und ein hektischer Uhl kam aus dem Hinterzimmer gelaufen. Als er Morell sah, hielt er kurz inne und zögerte, schloss dann aber die Tür auf. »Herr Morell, was tun Sie denn hier? Es ist Sonntag – mein Laden ist heute geschlossen.«

Morell sagte nichts, sondern zog einfach nur eine der Listen aus der Innenseite seiner Jacke und hielt sie Uhl vor die Nase.

Uhl schnappte nach Luft, erlangte seine Fassung aber schnell wieder. »Was soll denn das sein?«, fragte er, setzte seine Brille auf und tat so, als würde er die Liste studieren.

»Das wissen Sie doch ganz genau. Diese Aufzählung steht immerhin auf Ihrem Briefpapier.«

»Das hat vielleicht mal irgendein Lehrling oder Kunde mitgehen lassen und dann dieses komische Zeug draufgeschrieben.« Er setzte die Brille wieder ab und zuckte mit den Schultern. »Sorry, aber da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ich habe keinen blassen Schimmer, was das sein soll.«

»Da bin ich aber ganz anderer Meinung. Bei den Punkten hier auf der Liste handelt es sich um Reliquien, die Sie mit Hilfe Ihrer Archäologenfreunde fälschen und dann teuer verkaufen.«

Uhl schnappte wieder nach Luft. »Nein«, stammelte er und deutete auf das Ladenschild. »Mit Reliquien wird doch schon seit dem Mittelalter nicht mehr gehandelt. Ich verkaufe Devotionalien und sakrale Artikel. Alles ganz legal.«

»Diese Listen sagen aber etwas anderes aus«, beharrte Morell auf seinem Standpunkt. »Sie und Novak haben zum Beispiel die Gebeine der heiligen Margareta gefälscht und dann teuer an Pfarrer Stimpfl verkauft. Außerdem weiß ich, dass Ihr Freund Ernst Payer gestern Abend in den Katakomben des Stephansdoms unterwegs war, um dort neues Knochenmaterial für diverse Reliquien aus dem 18. Jahrhundert zu besorgen.«

Uhl überlegte kurz und entschloss sich dann anscheinend dazu, seine Taktik zu ändern. »Na gut, ich gebe es zu. Ich handle auch mit Reliquien«, sagte er trotzig. »Da ist aber nichts Verwerfliches dran. Laut Gesetz ist der Handel mit den Gebeinen von Heiligen nämlich absolut legal, und ich widerspreche dabei nicht einmal dem Kirchenrecht der römisch-katholischen Kirche. Ich darf also so viele Reliquien kaufen und verkaufen, wie ich will.«

»Aber fälschen dürfen Sie sie nicht!«

»Aber wer redet denn hier von fälschen. So etwas würde ich nie tun.« Uhl verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie können gerne sämtliche Reliquien untersuchen lassen, die ich verkauft habe – Sie werden nichts finden, was zu beanstanden wäre.« Er lächelte selbstsicher.

Morell sah ein, dass er so nicht weiterkam. »Das werden wir ja gleich sehen.« Er quetschte sich an einem völlig überrumpelten Uhl vorbei und sauste schnurstracks auf die Lagertür zu. »So!«, rief er und riss die Tür auf.

»Tja, da bin ich jetzt aber gespannt.« Uhl war ihm gefolgt und hatte sich hinter Morell gestellt, der völlig perplex in einem kleinen Zimmer stand. Wie in einer professionellen Fälscherwerkstatt sah es hier drinnen nicht aus. Ganz im Gegenteil: Dieser Raum war ein stinknormales, kleines Lager. Morell schaute sich völlig verdattert um. Das Lager hatte kein Fenster, und die Neonröhre an der Decke warf ein diffuses, künstliches Licht auf einen dreckigen Teppich und eine Reihe von deckenhohen Regalen, die die gesamte Wandfläche einnahmen. Morell, der noch von seinem letzten Besuch im Laden wusste, dass es abgesehen von der Eingangs- und der Lagertür keine weiteren Türen mehr gab, sah sich verwirrt um. Die Regale und ihr Inhalt waren von einer dicken Staubschicht überzogen: Friedhofskerzen, Kruzifixe, Weihwasserfläschchen, Reisealtäre und andere skurrile Dinge, aber keine Knochen.

»Dort drin sind Reliquien, falls es das ist, was Sie suchen.« Uhl deutete auf eine große Schachtel.

Morell griff danach und schaute hinein. Die ganze Schachtel war angefüllt mit kleinen Heiligenbildchen, auf deren Rückseite winzige Stoff- und Papierquadrate klebten. »Was soll das sein?«

»Das sind Reliquien dritter Klasse. Ein Stück Stoff beziehungsweise Papier wird auf eine Reliquie erster oder zweiter Klasse gelegt, anschließend in kleine Stücke geschnitten und dann auf diese Bildchen geklebt.« Er grinste. »Sie dürfen sich gerne eine nehmen. Ich kenne da ein paar alte Damen, die schwören, dass sie Wunder bewirken können.«

Morell ignorierte Uhl, stellte die Schachtel zurück ins Regal und atmete tief ein. Payer hatte gestern Knochen gestohlen und sie in einer Plastiktüte hierher gebracht. Wo waren sie also? War es möglich, dass Uhl sie in seiner Wohnung aufbewahrte? Oder hatte er sie etwa schon verkauft? Morell wollte gerade klein beigeben, als ihm auffiel, dass eines der Regale viel sauberer als die anderen war. Er fuhr mit dem Zeigefinger langsam über ein Regalbrett und tatsächlich – es war kein Staub darauf.

»So, Herr Morell«, setzte Uhl an, dem Morells Entdeckung nicht entgangen war. »Jetzt haben Sie mich aber lange genug aufgehalten. Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir und möchte jetzt meine wohlverdiente Sonntagsruhe genießen.« Er deutete nach draußen.

Morell ließ sich nicht beirren. Er tastete das Regal ab und schob dessen Inhalt hin und her.

»Auf Wiederschaun«, versuchte Uhl erneut, Morell hinauszukomplimentieren. Nachdem dieser nicht reagierte, fuhr er schärfere Geschütze auf: »Sie können hier nicht einfach so hereinspazieren und in meinem Lager herumhantieren. Wenn Sie jetzt nicht gleich gehen, dann rufe ich die Polizei.«

»Nur zu«, murmelte Morell, der gerade einen kleinen Hebel ertastet hatte. Er legte ihn um, nahm mit Freuden ein leises Klicken war und zog dann vorsichtig an dem Regal, das sich, genau wie er es sich erhofft hatte, bewegen ließ. Dahinter befand sich eine schmale Holzstiege, die steil in einen dunklen Keller führte. Triumphierend drehte er sich zu Uhl um und stemmte die Hände in die Hüften. »Na, haben Sie immer noch das Bedürfnis, die Polizei zu rufen?«

Uhl versuchte erneut, sich aus der Affäre zu ziehen. »Sie haben den Abstieg zu meinem Keller entdeckt. Na und?«

»Zu Ihrem Keller oder Ihrer Fälscherwerkstatt? Wir werden es gleich sehen.«

»Halt!« Uhl versuchte, sich an Morell vorbeizudrängen, was bei den beengten Verhältnissen im Lager und Morells Körperfülle kein Leichtes war. »Sie können sich nicht einfach so aufführen, als würde Ihnen der ganze Laden gehören.«

»Und Sie können nicht einfach illegale Geschäfte tätigen!« Morell verhinderte, dass Uhl sich an ihm vorbeizwängte, indem er sich breit in den Durchgang stellte.

Uhl verlor langsam die Nerven. »Mir wird das jetzt zu bunt!«, rief er. »Ich hole die Polizei.«

»Schon da.« Morell zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn Uhl, der jetzt ganz blass wurde, unter die Nase.

»Aber … aber … ich dachte, Sie seien Privatdetektiv …«

Morell zuckte mit den Schultern, schaltete das Kellerlicht an und ging die Stiege hinunter. Die Ruhe und Gelassenheit, mit der er bisher agiert hatte, verabschiedeten sich langsam. Jetzt musste er schon wieder mit einem verrückten Kerl, der möglicherweise in einen Mord verwickelt war, in einen Keller gehen. Er griff an das Messer in seiner Hosentasche und betete, dass er nicht gerade dabei war, einen Riesenfehler zu begehen.

Am unteren Ende der Stiege befand sich ein etwa 40 Quadratmeter großer Raum, in dem es ungefähr so aussah, wie Morell es sich vorgestellt hatte: zwei große Werkbänke waren vollbeladen mit Knochen, Schädeln, Scherben und verschiedensten Werkzeugen, die von Zangen bis Pinzetten reichten. In einem großen Regal im hinteren Teil des Raumes standen Glasflaschen in allen Formen und Farben, die irgendwelche Säuren und andere Tinkturen enthielten und einen leicht chemischen Geruch verströmten. Diverse Mikroskope, Lampen, Lexika und verschiedene technische Geräte vervollständigten das Bild. Nach kurzer Suche konnte Morell auch die Plastiktüte entdecken, die Payer gestern aus den Katakomben des Stephansdoms geschmuggelt hatte. Er griff sie sich und zog angeekelt ein paar Rippen und einen Langknochen heraus.

Uhl, der völlig hilflos hinter Morell stand, rang nach Fassung.

»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, fragte Morell.

Uhl nickte und setzte sich auf einen Stuhl.

»Das ist nicht gut.« Morell griff sich ebenfalls einen Stuhl und setzte sich vor ihn hin. »Wir müssen nämlich dringend miteinander reden.«

Uhl nickte erneut. »Ich hatte früher einen kleinen Antiquitätenhandel«, fing er an. »Aber gegen die großen Auktionshäuser hatte ich keine Chance. Novak hatte zur selben Zeit ein ähnliches Problem: Mit Archäologie war kaum mehr Geld zu verdienen.« Er fuhr sich durch die Haare. »Novak und ich mussten also selber einen Weg finden, um über die Runden zu kommen. Durch Zufall sind wir dann auf die Idee gekommen, in den Reliquienhandel einzusteigen.«

»Und woher nahmen Sie die ganzen Knochen? Die können ja nicht alle aus dem Stephansdom stammen. Vor allem, wenn es um Reliquien aus früheren Epochen geht.«

»Viele Knochen hat Novak aus dem Tiefspeicher des Naturhistorischen Museums geholt. Dort drinnen liegen mehr als 20 Millionen Objekte – da fallen ein paar Knochen mehr oder weniger nicht auf. Manchmal, wenn es gerade passte, hat er auch Sachen direkt von seinen Ausgrabungen mitgenommen.«

»Und irgendwann sind Sie beide sich in die Haare geraten, und Sie haben Ihren Partner getötet.«

Uhl sprang auf. »NEIN! Um Gottes willen. Novak und ich haben über viele Jahre gut zusammengearbeitet. Natürlich gab es hie und da mal Ärger, zum Beispiel weil er viel zu protzig gelebt hat. Ich für meinen Teil verhalte mich lieber unauffällig und lege das Geld auf die hohe Kante. Aber wie schon gesagt, das waren kleine Streitereien – nichts, das Grund genug gewesen wäre, Novak zu töten. Außerdem wäre ich schön blöd gewesen, ihn umzubringen – ich habe ja keinen Zugang zu irgendwelchen Originalmaterialien.«

»Aber Sie hatten ja immer noch Payer.«

Uhl fing an zu lachen. »Nein. Ich habe all die Jahre ausschließlich mit Novak gearbeitet. Als er getötet wurde, war ich völlig aufgeschmissen. Ich hatte einige Aufträge, die ich aber nicht bedienen konnte, da mir das Material fehlte. Und dann kamen Sie.«

»Ich?«

»Ja. Als Sie kamen, um mich wegen der Ausgrabung in Syrien zu befragen, haben Sie mir Grüße von Payer ausgerichtet und nebenher bemerkt, dass er über mangelnde Forschungsgelder jammert. Das war ein Wink des Schicksals. Ich habe Payer noch am selben Tag angerufen, eine Flasche Schnaps mit ihm gekippt und ihn in meine Geschäftsidee eingeweiht. Der verrückte Kerl war sofort Feuer und Flamme und versorgt mich seither mit Knochen und anderen Materialien. Ich gebe zu, dass das alles nicht unbedingt sehr legal ist, aber wir sind keine Mörder.« Er senkte den Blick und starrte auf seine Schuhe.

»Wie viele Ihrer Kunden haben neben Pfarrer Stimpfl noch entdeckt, dass es sich bei Ihren Reliquien um Fälschungen handelt?«

»Keiner!« Uhl schüttelte energisch den Kopf. »Meine Stücke sind so gut, dass sie jedem Test standhalten. Außer Stimpfl hat es bisher noch keiner bemerkt.«

»Und wie kam der drauf?«

Uhl verdrehte die Augen. »Das war wegen Novak, diesem Idioten«, seufzte er. »Novak hat eines schönen Abends Stimpfls Katze überfahren. Als Stimpfl ihn am nächsten Tag deswegen völlig aufgelöst zur Rede stellte, hat Novak es sich nicht verkneifen können, dem Pfarrer zu sagen, dass er doch bitte kein solches Theater wegen einer dummen Katze machen solle. Stimpfl hat daraufhin gemeint, dass ihm seine Worte noch leidtun würden, da die heilige Margareta für Gerechtigkeit sorgen würde. Da ist es Novak dann halt so herausgerutscht.« Er schüttelte den Kopf. »Damals war ich tatsächlich kurz davor, den dummen Kerl abzumurksen.«

»Eine Sache ist mir noch nicht ganz klar – warum brauchte Stimpfl eigentlich diese Rippe für seine Kirche? Es müsste doch schon längst eine Reliquie im Altar eingelassen gewesen sein, oder?«

Uhl schüttelte den Kopf. »Stimpfls Kirche samt dem sich darin befindlichen Altar wurde erst vor wenigen Jahren neu errichtet. Stimpfl musste also eine Reliquie auftreiben, um den Altar richtig einzuweihen.« Er grinste. »Und zufällig war nur kurze Zeit zuvor auf wundersame Weise eine Rippe der heiligen Margareta aufgetaucht.«

Morell ignorierte Uhls Sarkasmus. »Und Stimpfl hat Sie nicht angezeigt?«

»Stimpfl ist kein Dummkopf. Erstens hätte er niemals beweisen können, dass es sich um eine Fälschung handelt, und zweitens hätte er sich nur ins eigene Fleisch geschnitten. Die heilige Margareta ist nämlich eine sehr lukrative Schutzpatronin. All die schwangeren Frauen oder die, die es gerne werden würden, lassen einiges an Kleingeld im Opferstock liegen. Wenn rausgekommen wäre, dass die Knochen im Altar nicht die der heiligen Margareta sind, sondern von irgendeiner anderen armen Seele aus dem 4. Jahrhundert stammen, hätte er seinen Laden dichtmachen können.«

»Verstehe.« Morell überlegte. Somit machte natürlich auch Stimpfls Einbruch bei den Novaks Sinn – der Priester wollte um jeden Preis verhindern, dass die Unterlagen über seine Mogelpackung nach Novaks Tod in die falschen Hände fielen. Das erklärte Stimpfls Verhalten, brachte aber leider keinen Hinweis auf Novaks Mörder. »Was können Sie mir über Gustaf Harr erzählen?«

Uhl, der völlig verdutzt wegen des abrupten Themenwechsels war, schaute Morell ungläubig an. »Wie bitte?«

»Was können Sie mir über Gustaf Harr erzählen?«, wiederholte Morell seine Frage. »Sie wissen schon – Ihr Grabungsleiter damals am Tell Brak.«

»Ja, ja, natürlich. Ich erinnere mich.«

»Dann erinnern Sie sich sicher auch daran, dass ich Sie bei meinem letzten Besuch gefragt habe, ob damals irgendetwas Ungewöhnliches passiert sei. Warum haben Sie mir nichts von Harrs Liebelei und seinem Entschluss erzählt, in Syrien zu bleiben.«

Uhl kratzte sich am Kopf und zuckte mit den Schultern. »Ich fand das nicht so ungewöhnlich.«

Morell musterte Crazy Willie. Wahrscheinlich war der komische Kauz tatsächlich so unkonventionell, dass er Harrs Entscheidung nicht wirklich bemerkenswert fand. »Erzählen Sie mir, was genau geschehen ist.«

»Nun ja, da gab es so ein Mädchen aus einem benachbarten Dorf. Ich glaube, sie hieß Ghada oder irgendetwas in der Richtung. Wie auch immer – Ghada war eine richtige Schönheit, und da hat es natürlich niemanden gewundert, dass Harr sich Hals über Kopf in sie verknallt hat und dann dortgeblieben ist.«

»Aber hatte Harr denn gar keine Verpflichtungen in Österreich? Familie? Freunde?«

»Harr war nicht unbedingt ein geselliger Mann und hatte deshalb auch kaum Freunde. Ein paar gute Bekannte vielleicht, aber das war es dann auch schon. Warum hätte er also zurückkommen sollen? Syrien ist ein sehr schönes Land, die Menschen sind freundlich, und das Klima ist angenehm. Hätte die schöne Ghada etwas für mich übriggehabt, wäre ich vielleicht auch geblieben.«

Morell überlegte. Uhl erzählte dieselbe Story wie Nagy – das konnte also nicht alles frei erfunden sein.

»Und jetzt? Was werden Sie tun? Werden Sie mich verhaften und meinen Laden schließen?«, unterbrach Uhl Morells Überlegungen.

Das war eine gute Frage. Morell strich über seinen Bauch. Er war Polizist, und Uhl hatte definitiv eine illegale Handlung begangen – andererseits war er nicht im Dienst, Uhl war nicht sein Fall und fiel auch nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.

»Wir haben keinem weh getan, niemandem geschadet«, redete Uhl weiter. »Ganz im Gegenteil. Wir haben viele Priester sehr glücklich gemacht – die armen Jungs haben wegen Zölibat und steigenden Kirchenaustritten normalerweise nicht viel zu lachen …«

Morell grübelte weiter. Was hatte er davon, wenn er Uhl und Payer anzeigte? Womöglich würde Uhl so schnell wie nur möglich alle belastenden Materialien aus seiner Werkstatt verschwinden lassen, und er hätte keinerlei Beweise für seine Behauptungen. Die Schachtel mit den Listen konnte er schwer ins Spiel bringen, da er dann erklären müsste, wie sie in seinen Besitz gekommen war. Zudem waren die Fälschungen wahrscheinlich tatsächlich so gut, dass es bei einer Überprüfung nicht möglich wäre, ihre Unechtheit nachzuweisen. Außerdem würde es den Priestern und Kirchen mehr schaden als nutzen.

»Ich bin mir noch nicht ganz sicher, wie ich in Ihrem Fall weiter verfahren werde«, sagte er schließlich. »Ich werde mir alles noch mal durch den Kopf gehen lassen.«

Uhl nickte energisch. »Sie haben ewig was gut bei mir, wenn Sie mich nicht ans Messer liefern.«

»Wir werden sehen. Als Erstes muss ich jedenfalls darauf bestehen, dass Sie Ihre illegalen Geschäfte sofort einstellen. Keine Reliquien mehr!«

Uhl strahlte von einem Ohr zum anderen. »Deal«, sagte er und streckte Morell seine Hand entgegen.

»Ich meine es todernst. Ich werde Sie im Auge behalten. Wenn mir zu Ohren kommt, dass noch einmal auch nur ein einziger Knochen gegen Geld diesen Laden verlässt, dann können Sie sich einen Anwalt suchen.«