»Nicht gedacht soll seiner werden,

nicht im Liede, nicht im Buche.

Dunkler Hund im dunkeln Grabe,

du verfaulst mit meinem Fluche!«

Heinrich Heine

Während Morell bei Uhl gewesen war, hatte Bender ihm per SMS die Adresse von Friedrich Zuckermann, einem pensionierten Botaniker, geschickt.

Zuckermann lebte im sogenannten Cottageviertel, einer mondänen Wohngegend im achtzehnten Bezirk, die aus ruhigen, von Bäumen gesäumten Gassen, gepflegten Grünflächen und Anwesen im englischen Landhausstil bestand. Im Unterschied zu der Gegend, in der Novak gewohnt hatte, dominierte in diesem Viertel nicht modernes Design, sondern herrschaftliche Eleganz. Auf Tradition wurde hier mehr Wert gelegt als auf Trend, und Stil war wichtiger als Style.

Hinter der Adresse, die Bender gesendet hatte, verbarg sich eine klassische Altbauvilla, und Morell betrachtete angetan einige Minuten lang die hübschen Türmchen und fein gearbeiteten Ornamente an der Fassade, bevor er die Stufen zur Haustür hinaufstieg und auf den Klingelknopf drückte.

Ein ungefähr vierjähriges Mädchen mit blonden Zöpfen und einer großen Zahnlücke öffnete. »Grüß Gott«, sagte sie und starrte den Fremden mit großen blauen Augen an.

»Wer ist es denn, Hannah?«, rief eine Stimme aus dem Inneren des Hauses.

Die Kleine musterte Morell von oben bis unten. »Ich weiß nicht«, schrie sie zurück.

Wenige Augenblicke später erschien ein großgewachsener, sportlich gekleideter Mann in der Tür. Da das Mädchen ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war, konnte es sich dabei nur um Hannahs Vater handeln.

»Mein Name ist Otto Morell, und ich würde gerne mit Friedrich Zuckermann sprechen. Bin ich hier richtig?«

»Das ist mein Vater«, nickte der Mann und hob seine Tochter hoch. »Was wollen Sie denn von ihm?«

»Ich benötige dringend ein paar Informationen über eine Ausgrabung, bei der er Ende der 70er Jahre mitgearbeitet hat.«

»Verstehe.« Zuckermanns Sohn zauderte. »Ich fürchte aber, dass heute kein guter Tag ist, um mit ihm zu reden«, sagte er dann. »Könnten Sie vielleicht ein anderes Mal vorbeischauen?«

»Warum denn das?«

»Opa ist heute wieder böse«, sagte Hannah verschwörerisch.

»Böse?«

»Er ist demenzkrank«, klärte ihr Vater Morell auf. »Bis vor kurzem war er einfach nur ein wenig vergesslich und hier und da ein bisschen verwirrt, aber seit einiger Zeit werden seine klaren Momente seltener, und er wird immer aggressiver und misstrauischer. Heute haben Sie leider einen ganz schlechten Zeitpunkt erwischt. Er grantelt schon den ganzen Tag herum. Am besten, Sie lassen mir Ihre Telefonnummer hier, dann rufe ich Sie an, sobald er wieder etwas umgänglicher ist.«

»Und wann könnte das sein?«

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht morgen oder übermorgen. Man kann das nicht wirklich vorhersagen.«

Morell schüttelte den Kopf. »Ich brauche die Informationen so schnell wie möglich. Lassen Sie es mich bitte zumindest versuchen.«

Hannah blickte Morell mit großen Kulleraugen an. »Er ist böse«, wiederholte sie. »Ich mag ihn nicht mehr.« Dann vergrub sie ihr Gesicht in der Halsbeuge ihres Vaters.

»Komm schon, Süße«, sagte dieser. »Er ist doch dein Opa. Die ganze letzte Woche war er doch gut drauf und lieb zu dir.«

»Er ist nicht mehr mein Opa«, murmelte sie leise.

»Kinder«, sagte Zuckermann junior und zuckte mit den Schultern. »Haben Sie auch welche?«

Morell schüttelte den Kopf. »Leider nicht.« Er spürte, wie ein messerscharfer Blitz durch seine Brust schoss und direkt in sein Herz fuhr. Die Ermittlungen hatten ihn tatsächlich so sehr abgelenkt, dass er Valerie völlig vergessen hatte. Nun schmerzte die plötzliche Erinnerung umso heftiger. »Könnte ich jetzt bitte mit Ihrem Vater sprechen?«, bat er schnell.

»Wie Sie wollen. Er ist hinten im Gewächshaus. Folgen Sie mir bitte.«

Sie gingen am Haus und an gepflegten Blumenbeeten vorbei und gelangten zur Terrasse auf der Rückseite der Villa, hinter der sich ein riesiger Garten erstreckte.

»Wissen Sie, was das Schlimmste an der ganzen Sache ist?«, fragte Zuckermann junior, als er Morell in den Garten führte. »Seit ich denken kann, hat mein Vater immer penibel auf seine Gesundheit geachtet. Er trieb täglich Sport, hat sich gesund ernährt und weder geraucht noch getrunken. Er ist vor einem Monat achtundsechzig Jahre alt geworden und hat noch immer den Körper eines jungen Mannes. Und jetzt? Jetzt muss er erleben, wie sein Geist ihn immer mehr im Stich lässt. Es ist wirklich zum Heulen.«

Morell nickte. »Kein Wunder, dass er zornig ist. Ich zumindest wäre es.«

»Dann viel Glück«, sagte der junge Zuckermann, als sie vor dem Gewächshaus angekommen waren. »Bitte klopfen Sie kurz an die Terrassentür, wenn Sie hier fertig sind. Ich begleite Sie dann wieder hinaus.« Er drehte sich um und ging zurück ins Haus. Hannah blickte dabei über die Schulter ihres Vaters und winkte dem Chefinspektor verstohlen zu.

Morell öffnete die Glastür und war schier überwältigt von der Pracht, die sich ihm bot. Wohin er auch blickte, blühten Rosen, Orchideen und seltene exotische Pflanzen, deren Duft süß und aromatisch in der Luft hing. Kostbare Blumen und edle Züchtungen strahlten in allen nur erdenklichen Farben und ließen sein Herz aufgehen.

»Bist du das, Gregor?« Ein athletisch gebauter Mann mit vollem, grauem Haar und einem beinahe faltenfreien Gesicht kam auf ihn zu. Sein Sohn hatte nicht übertrieben – Friedrich Zuckermann sah tatsächlich keinen Tag älter als Mitte fünfzig aus. Kaum zu glauben, dass er bereits achtundsechzig Jahre alt sein sollte. »Sag deinem Gschropp, dass es gefälligst nicht mehr in meinem Gewächshaus spielen soll. Ich kann schon wieder meine Gartenschere nicht finden.«

»Meinen Sie etwa diese hier?« Morell bückte sich, hob die Schere, die mitten auf dem Weg lag, auf und reichte sie Zuckermann.

Dieser riss sie ihm aus der Hand. »Und jetzt sag deiner Mutter, dass ich Hunger habe.« Er drehte sich um und machte sich daran, einige Rosen abzuschneiden.

»Ich bin nicht Ihr Sohn, Herr Zuckermann. Mein Name ist Otto Morell, und ich habe ein paar Fragen an Sie.«

Zuckermann drehte sich um und musterte ihn misstrauisch. Langsam schien es ihm zu dämmern, dass der Mann, der da vor ihm stand, tatsächlich nicht sein Sohn war. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier in meinem Gewächshaus? Ich mag es nicht, wenn fremde Leute meine Blumen anfassen, also gehen Sie gefälligst.«

»Mein Name ist Otto Morell, und ich habe …«

»Hauen Sie ab! Sie bringen hier nur alles durcheinander und machen meine Pflanzen kaputt.« Er fuchtelte mit der Gartenschere herum und drängte den Chefinspektor in Richtung Tür. Dabei trat er beinahe in ein Blumenbeet.

»Vorsicht«, rief Morell. »Passen Sie auf Ihre Aurikel auf. Es wäre schade, wenn Sie sie versehentlich ruinieren würden.« Er schaute genauer hin und riss die Augen auf. »Sind das etwa Lady Daresburies?«

Dass der Eindringling die seltene Blume erkannt hatte, schien Zuckermann anscheinend zu besänftigen. Er blieb jedenfalls stehen und zog eine Augenbraue hoch. »Sie kennen sich mit Pflanzen aus?«

»Ein wenig. Ich habe selbst ein Glashaus und züchte darin Blumen. Zwar nicht so professionell wie Sie hier, aber ja – ich wage zu behaupten, dass ich mich auskenne.«

Zuckermann war mit einem Schlag wie verwandelt. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht, und er fasste Morell kollegial an der Schulter. »Kommen Sie, Sie müssen sich unbedingt meine Laelia superbiens ansehen. Sie werden begeistert sein.«

Der Botaniker hatte nicht zu viel versprochen – Morell war tatsächlich schwer beeindruckt von der Orchidee. »Fantastisch«, murmelte er und bestaunte die zarten Blüten, die in einem leuchtenden Rot erstrahlten. »Wie haben Sie es nur hingekriegt, dass sie so hoch gewachsen ist?«

»Tja, das würden Sie gerne wissen, aber es bleibt mein Geheimnis«, zwinkerte Zuckermann und legte dann die Stirn in Falten. »Wie war noch mal gleich Ihr Name?«

»Mein Name ist Otto Morell, und ich bin hier, weil ich ein paar Fragen an Sie habe. Es geht um eine Grabung, an der Sie im Jahr 1978 beteiligt waren. Auf dem Tell Brak in Syrien.«

»Ich kann mich erinnern. Ich habe damals als Archäobotaniker gearbeitet und mit Hilfe von Pflanzenresten versucht, die Agrargeschichte des Ortes zu rekonstruieren.«

Morell war erleichtert. Es stimmte also, dass bei dementen Menschen oft nur das Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigt war, während das Langzeitgedächtnis immer noch tadellos funktionierte. »Ist damals irgendetwas Besonderes geschehen? Etwas, das mit Vitus Novak zu tun hatte?«

Zuckermanns Miene verdüsterte sich. »Ja«, zischte er. »Novak, dieser Hund, hat einen Fluch über uns alle gebracht.«

»Einen Fluch?«

»Genau. An allem Übel ist nur er schuld. Er mit seinem verdammten Grab. Ganz fanatisch war er deswegen.«

»Halt. Stopp. Ganz langsam.« Morell hob die Hände. »Können Sie bitte von vorne beginnen? Was war das für ein Grab, und warum war Novak so sehr daran interessiert?«

»Ich weiß nicht, was genau es damit auf sich hatte. Novak ist eines schönen Tages zu mir gekommen, hat behauptet, dass er da so eine Ahnung habe, und hat mich gebeten, ihm in der Nacht beim Graben zu helfen.«

Morells Magen machte einen kleinen Satz, und zwar dieses Mal nicht aus Hunger, sondern vor Freude – endlich hatte er eine Spur. »In der Nacht? Warum denn nicht tagsüber?«

»Novak war irgendwie paranoid. Hat behauptet, es sei seine ganz persönliche Entdeckung, und wollte darum nicht, dass zu viele andere davon erfahren – vor allem nicht Harr, unser Grabungsleiter. Novak hat sich nämlich eingebildet, dass der ihm die Lorbeeren streitig machen könnte. Darum hat er ja auch ausgerechnet mich um Hilfe gebeten – er wusste, dass ich nicht auf der Suche nach Ruhm und Anerkennung war. Ich wollte einfach nur in Ruhe meine Pflanzen studieren.«

»Und dann?« Morell bemerkte, wie sich ein Kribbeln in seinem Bauch ausbreitete. Das war das Adrenalin, das durch seinen Körper gepumpt wurde. Ein gutes Gefühl, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er kannte es noch gut aus seiner Anfangszeit bei der Kripo. So fühlte es sich an, wenn er Witterung aufnahm.

»Ich wollte kein Spielverderber sein und habe ihm darum geholfen. Wir sind also in der Nacht zu diesem kleinen Hügel gegangen, ungefähr eineinhalb Kilometer vom Lager entfernt, und haben dort gegraben. Nach zirka zwei Metern sind wir auf eine Steinplatte gestoßen, die mit Keilschriftzeichen versehen war. Novak hat sie übersetzt.«

»Und was stand drauf?«

»Es war eine Fluchformel, die davor warnte, das Grab zu öffnen. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern. Normalerweise bin ich kein furchtsamer oder abergläubischer Mensch, aber irgendetwas hat mir damals einen kalten Schauer über den Rücken gejagt. Eine innere Stimme hat mir gesagt, dass es besser wäre, die Finger von der Sache zu lassen, also habe ich die Arbeit abgebrochen und bin zurück ins Lager gegangen.«

»Und Novak?«

»Der war natürlich stinksauer und hat mich als Feigling beschimpft. Aber mir war das egal. Ich habe immer schon gerne meinem Bauchgefühl vertraut.«

Ein sehr sympathischer Wesenszug, dachte Morell. »Und was hat Novak dann gemacht?«

»Keine Ahnung. Er hat mich nach dieser Nacht völlig ignoriert und nie wieder ein Wort mit mir gesprochen. Wahrscheinlich hat er das Grab mit Hilfe von jemand anderem geöffnet und damit den Fluch über uns alle gebracht. Es gibt keine andere Erklärung dafür, dass ausgerechnet ich unheilbar krank geworden bin.« Der Botaniker ließ seinen Blick ins Leere gleiten. Einige Sekunden später schüttelte er den Kopf und schaute Morell verwirrt an. »Wie war noch mal gleich Ihr Name?«

 

Als Morell Zuckermanns Haus verließ, war er voller Zuversicht. Langsam gerieten die Dinge in Bewegung. Nicht mehr lange, dann hätte er genügend Beweismaterial zusammen, um Weber davon zu überzeugen, den Fall noch einmal aufzurollen.

Bender hatte in der Zwischenzeit zwei weitere Adressen geschickt: die von Ludwig Nagy, dem Insektenforscher, und die von Johannes Meinrad, der als Experte für antike Kunst in einem Auktionshaus arbeitete.

Ein Blick auf die Uhr verriet Morell, dass es bereits halb acht war – die Zeit war heute wie im Flug vergangen. Er würde sich die beiden Herren morgen Nachmittag zu Gemüte führen. Jetzt würde er nach Hause fahren und sich ein feines, kalorienarmes Abendessen kochen.