»Und du liegst nicht tot in irgendeinem Graben oder einem Flusse?«

Charlotte Brontë, Jane Eyre

Morell überquerte den Gürtel auf Höhe der U-Bahn-Station Nussdorfer Straße und bog anschließend in die Schrottenbachgasse ein – wenn er sich nicht täuschte, war dieser schmale Weg eine Abkürzung und führte direkt durch den Währinger Park zum Archäologiezentrum. Er ging schnell, da der Himmel voller schwarzer Gewitterwolken hing, und als die ersten von ihnen begannen, ihre feuchte Last über der Stadt zu entladen, fing er an zu rennen.

Obwohl er die kurze Strecke zum Institut im Rekordtempo zurücklegte, war er klatschnass, als er dort ankam. »Kruzifix«, fluchte er und schüttelte sich. Das war jetzt schon das zweite Mal innerhalb von drei Tagen, dass er von einem plötzlichen Regenguss überrascht worden war – Wien musste ihn wirklich hassen. Er nahm sich vor, noch mehr Energie in den Fall zu stecken, damit er so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden konnte.

 

Moritz Langthaler und Anna Wondraschek standen gerade auf dem Flur und unterhielten sich, als der durchweichte Morell um die Ecke bog.

»O nein, Sie Ärmster«, rief Wondraschek. »Sie sind ja so nass wie eine gebadete Katze!«

Morell dachte an Freds Wasserphobie, zog seine Jacke aus und strubbelte sich mehrmals durch die Haare. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Er war in den letzten Tagen schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden. Da konnte ihn so ein bisschen Feuchtigkeit nicht mehr schrecken. »Also, was haben Sie für mich?«

Wondraschek wedelte mit einem Stapel Papier herum. »Ich habe eine Liste mit allen Grabungen, Exkursionen und Forschungsreisen von Professor Novak zusammengestellt«, erzählte sie. »Diese Aufstellung habe ich mit den Fotos in Novaks Büro verglichen. Und wenn ich mich nicht täusche, habe ich das Rätsel gelöst und das richtige Bild identifiziert.«

»Sie waren am Tatort? Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee war«, setzte Morell an, wurde aber von der hübschen Studentin unterbrochen.

»Keine Sorge – die Spurensicherung hat ihre Arbeit gestern Abend beendet und das Büro freigegeben.«

»Gut, dann erzählen Sie mal, was Sie herausgefunden haben.«

»Gern«, nickte sie mit geröteten Wangen. »Novak war ein ziemlicher Pedant und hat auf den Rückseiten seiner Fotos fein säuberlich alle Orte und Daten notiert. Es war also ganz leicht, das fehlende Bild zu eruieren. Es handelt sich um ein Gruppenfoto, das 1978 auf einer Grabung in Syrien, genauer gesagt auf dem Tell Brak, aufgenommen wurde.« Sie zog ein Blatt Papier aus dem Packen in ihrer Hand und begann vorzulesen: »Der Tell Brak ist ein antiker Siedlungshügel, der von den Sumerern und später auch von den Akkadiern, Hurritern und Assyrern besiedelt worden war. Er wurde 1934 von Sir Max Mallowan, dem Mann von Agatha Christie, entdeckt und in den darauffolgenden Jahren erforscht. Dabei machte Mallowan einen spektakulären Fund, nämlich den sogenannten Augentempel – eine alte Kultstätte, in der sich eine Vielzahl von Augenidolen befand.«

»Augenidole?« Morell hatte noch nie von so etwas gehört.

»Das sind kleine, drei bis sechs Zentimeter hohe Figuren aus Alabaster, Kalk- oder Speckstein. Sie haben meist einen flachen, trapezförmigen Körper, auf dem anstelle eines Kopfes Augen sitzen«, las Wondraschek weiter vor. »Obwohl das Symbol des Auges in Mesopotamien weit verbreitet war, sind diese Statuetten einzigartig und mit keinem anderen Fund vergleichbar.«

»Was steht da noch?«

»Leider nicht viel – nur noch die Namen der Teilnehmer. Vielleicht kann uns ja einer von denen weiterhelfen.« Sie reichte Moritz Langthaler die Liste. »Ich kenne leider keinen von ihnen. Du vielleicht?«

Langthaler studierte die Aufstellung und schüttelte den Kopf. »Abgesehen von Novak kenne ich keinen der Männer.«

»Vielleicht kann uns ja Professor Payer weiterhelfen«, schlug Wondraschek vor. »Er ist immerhin schon ein bisschen älter, hat sehr viel Erfahrung und kennt ohnehin Gott und die Welt.«

 

»Immer nur hereinspaziert«, rief Payer fröhlich, nachdem Langthaler an die Bürotür geklopft hatte, und winkte die drei Besucher zu sich. »Was verschafft mir die Ehre?«

Morell schlängelte sich durch die Büchermassen und setzte sich auf den Gästehocker, während Anna Wondraschek die innenarchitektonische Meisterleistung vollbrachte, zwei weitere Stühle aus dem Flur in dem kleinen Büro unterzubringen.

»Wir haben herausgefunden, welches Foto fehlt – nämlich eines, das 1978 in Syrien aufgenommen wurde, und zwar …«, Morell schielte auf Wondrascheks Unterlagen, »… auf einem gewissen Tell Brak.« Er reichte Payer die Teilnehmerliste. »Kennen Sie vielleicht eine oder mehrere dieser Personen?«

Payer strich über seinen Bart und grübelte. »Die syrischen Grabungshelfer kenne ich natürlich alle nicht, und Vitus Novak ist seit Montag tot.« Er las weiter und fing plötzlich an zu grinsen. »Wilfried Uhl. Von dem verrückten Kauz habe ich ja schon ewig nichts mehr gehört. Crazy Willie, so haben ihn früher alle genannt, hat eine Zeitlang gemeinsam mit mir studiert. Leider hat er nach wenigen Semestern das Studium abgebrochen, um in der Weltgeschichte herumzutrampen. Irgendwann ging einmal das Gerücht herum, dass er eine Strandbar auf Kreta betreibe.«

Morell fischte einen Stift aus dem Chaos auf dem Schreibtisch und kreuzte den Namen Wilfried Uhl an.

»Ludwig Nagy ist ein bekannter Entomologe – er lebt irgendwo hier in Wien«, redete Payer weiter. »Die letzten drei Namen, Gustaf Harr, Friedrich Zuckermann und Johannes Meinrad, sagen mir leider nichts.«

Morell machte vier weitere Markierungen. Er würde alle Personen, die mit einem Kreuzchen versehen waren, ausfindig machen und befragen. »Könnte eines dieser Augenidole, die auf der Grabung gefunden wurden, von Wert sein?«, wollte er wissen.

Payer stand auf und begann in einem Stapel Bücher herumzuwühlen. Kurz darauf zog er einen dicken Katalog heraus und blätterte darin herum. »Ah, da sind sie ja.« Er zeigte seinen Gästen ein paar Bilder von den Statuetten.

Anna Wondraschek wandte sich an Morell. »Schauen Sie nur, wie filigran die kleinen Körper gearbeitet sind. Sehr bemerkenswert und einfach wunderschön, finden Sie nicht auch?«

Morell nickte. In Wahrheit fand er die kleinen Steinfiguren aber einfach nur scheußlich. Sie schienen mit ihren übergroßen, ausdruckslosen Augen förmlich durch ihn hindurchzustarren. Die meisten von ihnen wirkten unfreundlich, ja sogar fast bösartig. Es musste ein sonderbares Gefühl für Mallowan gewesen sein, einen Raum zu betreten und von mehr als tausend dieser schrecklichen Dinger fixiert zu werden. Wer hatte sie geschaffen? Zu welchem Zweck? Was hatten sie im Laufe der Jahrtausende wohl alles gesehen? Und vor allem: Was hatten sie mit dem Mord an Vitus Novak zu tun?

»Die Augenidole, die nicht in irgendwelchen Museen stehen, werden unter der Hand zwischen 300 und 3000 Pfund gehandelt«, riss Payer Morell aus seinen Gedanken. »Nicht unbedingt ein Preis, für den es sich lohnen würde, jemanden zu töten. Wobei«, er seufzte, »wenn das Ministerium meine Forschungsgelder noch weiter kürzt, werde ich wahrscheinlich bald wegen weitaus kleinerer Beträge eine kriminelle Laufbahn einschlagen müssen.«

»Könnte Novak auf irgendetwas anderes gestoßen sein, das wertvoller als die Idole war?«

Payer zuckte mit den Schultern. »Normalerweise finden wir keine Kisten voller Gold und entdecken auch keine jahrhundertealten Geheimnisse, die die Weltordnung durcheinanderbringen könnten. Das Fundspektrum auf einer normalen Grabung umfasst Steine, Knochen, Asche, Scherben und hie und da mal ein paar Münzen – Dinge, die von hohem wissenschaftlichem, aber nicht von materiellem Wert sind.« Er kraulte seinen Bart. »Andererseits hatte Novak im Gegensatz zu mir und den meisten anderen Kollegen nie Geldprobleme …« Er winkte ab. »Am besten, Sie fragen die Männer, die damals mit dabei waren.«

»Da haben Sie wohl recht – und am besten fange ich sofort damit an.« Morell stand auf, bedankte sich bei den drei Archäologen, verabschiedete sich und ging zur Tür.

»Herr Morell«, rief Payer ihm nach. »Halten Sie uns auf dem Laufenden. Und richten Sie Wilfried Uhl schöne Grüße von mir aus!«