»Es ist nicht alles tot, was begraben ist.«
Dr. George Benjamin Clémenceau
Gustaf Harr saß auf der Terrasse seiner Villa in Damaskus, nahm einen großen Schluck frisch gepressten Orangensaft und schlug die Zeitung auf. Es war gar nicht so einfach, hier in Syrien eine österreichische Zeitung zu bekommen, und sie war darum meist auch schon einige Tage alt, wenn sie auf seinem Tisch landete – doch ihm war das egal. Diese letzte Verbindung in die alte Heimat war ein Spleen von ihm, den er sich nicht nehmen ließ.
»Holst du mir noch einen Kaffee, Ghada?«, rief er seiner Frau zu, überflog die Zeitungsseite und hielt erstaunt inne. Irgendjemand hatte Vitus Novak umgebracht und seinen Kopf im Arkadenhof der Universität Wien platziert. Unvermittelt fing er an zu lachen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, wollte Ghada wissen, als sie den Kaffee vor ihm abstellte.
»Mehr als gut.« Harr gab seiner Frau einen Kuss und widmete sich dann wieder dem Artikel, der über Novaks Tod berichtete. Manchmal dauerte es Jahrzehnte, aber die Gerechtigkeit fand doch immer einen Weg. Er lehnte sich lächelnd in seinem großen, weich gepolsterten Sessel zurück und schloss die Augen. Er konnte sich an jene Nacht noch so gut erinnern, als sei es gestern gewesen: Novak, dieser verschrobene, überehrgeizige Kerl, hatte ihn in den tiefen Abgrund gestoßen, und dann war alles schwarz um ihn geworden. Als die Dunkelheit in seinem Kopf sich langsam gelichtet hatte und er wieder zu sich gekommen war, waren Novak und die drei anderen Feiglinge verschwunden gewesen. Sie hatten ihn einfach liegenlassen. Liegenlassen, um zu verrecken, zu krepieren und für immer zu schweigen. Doch er hatte Glück gehabt und den tiefen Sturz relativ heil überstanden. Abgesehen von einem verstauchten Knöchel und einer Platzwunde am Hinterkopf war ihm nichts geschehen.
Unbewusst strich er über die alte Narbe und erinnerte sich weiter: Er hatte die Taschenlampe aus seinem Rucksack gezogen, die genauso wie er den Sturz mehr oder minder unbeschadet überstanden hatte, und den Graben abgeleuchtet. Als Erstes richtete er den Lichtkegel nach oben in den Schacht. Er war ein guter Kletterer, aber die Wand war zu glatt gewesen – erst etwas weiter oben gab es einige Ritzen und Vorsprünge, die ihm Halt gegeben hätten. Er hatte sich gereckt und gestreckt, doch es war unmöglich gewesen heranzukommen. Unvermittelt zuckte er zusammen – er konnte auch jetzt noch, so viele Jahre später, die Todesangst spüren, die ihn damals durchflutet hatte.
Schließlich war er stundenlang jedem Luftzug gefolgt, hatte jeden Zentimeter seines Umfelds akribisch ausgeleuchtet und jede kleine Unebenheit im Boden genau betrachtet. Er hatte schon fast resigniert, als er in der hintersten Ecke des Grabens den Eingang zu einem kleinen, schmalen Tunnel entdeckt hatte. Seine Öffnung war mit Steinen verschlossen und so gut versteckt gewesen, dass es ein Wunder war, dass er ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Unter Aufbietung aller Kräfte hatte er die Steine entfernt und war in den Tunnel gekrochen.
Er hatte keine Ahnung, wie lange die Strecke war, die er robbend zurückgelegt hatte – ihm war sie jedenfalls kilometerlang vorgekommen –, bis der Tunnel sich irgendwann geweitet hatte und in einer großen Kammer geendet war.
Beim Gedanken an jenen Moment fing er so schallend an zu lachen, dass das Hausmädchen, das im Zimmer nebenan gerade dabei war, das Tafelsilber zu polieren, erschrocken zusammenfuhr.
Harr erinnerte sich an jenen schicksalhalften Augenblick zurück und wünschte sich, dass er sein eigenes Gesicht hätte sehen können. In der Kammer standen nämlich Steintruhen, die bis obenhin mit Gold, Edelsteinen und anderen wertvollen Dingen gefüllt waren. Münzen, Diademe, exquisite Schalen und Becher, fein gearbeitete Statuetten – und mittendrin ein riesiger Sarkophag.
»Alulim.« Harr liebte es, diesen Namen laut auszusprechen. Der sagenumwobene König, von dem viele Wissenschaftler annahmen, dass es sich bei ihm nur um eine Legende handelte, hatte direkt vor ihm gelegen. »Alulim«, sagte er noch einmal und grinste.
Als Erstes hatte er die größten Edelsteine und den schönsten Goldschmuck in seinen Rucksack gepackt und war mit diesem wieder zurück zum Graben gerobbt. Dann war er wieder zurückgekrochen, hatte eine der Truhen leergeräumt und sie durch den Tunnel in den Graben geschoben. Er hatte sie aufrecht an die Wand gelehnt, war auf sie hinaufgestiegen und dadurch in der Lage gewesen, einen kleinen Felsvorsprung im Schacht zu erreichen – und so mitsamt seinem prallgefüllten Rucksack die Freiheit zu erklimmen.
Das war der Beginn seines neuen Lebens. Die Arbeit als Archäologe war mühsam und unterbezahlt gewesen, und für Theresia hatte er schon seit langem nicht mehr viel empfunden. Freunde hatte er nur wenige gehabt, und auch sonst hatte das Leben in Wien ihm nicht viel Spaß gemacht. Alulims Schatz war daher ein Geschenk des Himmels gewesen. Mit ihm hatte er noch einmal ganz von vorn beginnen können: Er hatte die Mitgift für Ghada bezahlt, eine große Villa in Damaskus gekauft und ein sorgenfreies Leben im sonnigen, warmen Syrien begonnen.
Harr ließ seinen Blick über den Garten schweifen, wo einer seiner Enkelsöhne gerade dabei war, Pfirsiche zu pflücken. Dann wandte er sich wieder der Zeitung zu und las den Artikel über Novak zu Ende.
»Elhamdulillah«, sagte er, als er fertig war. »Gepriesen sei Gott! Denn seine Wege sind unergründlich.«