»Stellt euch nicht krank, sonst werdet ihr krank,

und grabt euch nicht euer Grab, sonst sterbt ihr.«

Mohammed

Morell hatte mit viel Einfühlungsvermögen und salbungsvollen Worten die Todesanzeigen und die Parte geschrieben, ein wunderschönes Blumengesteck zusammengestellt und sich dann von dem Organisten ein paar interessante Fakten über Trauermusik erzählen lassen. Alles hatte wie am Schnürchen geklappt, und er hatte sich sogar ein paar Mal dabei ertappt, dass er Spaß an der Arbeit hatte.

Abgesehen von Webers dubiosem Auftauchen und dem unfreiwilligen Aufenthalt in einem miefigen Sarg, war der Tag bisher äußerst zufriedenstellend verlaufen – er hatte gute Arbeit geleistet, und was noch viel wichtiger war: Er hatte die Bestätigung erhalten, dass Eschener und Jedler etwas mit dem Verschwinden von Benedikt Horsky zu tun hatten. Jetzt musste er nur noch herausfinden, was genau die beiden mit dem armen Kerl angestellt hatten und warum.

Morell rieb sich die rechte Wange, die schon seit geraumer Zeit leicht juckte. Wahrscheinlich hatte ihn eine Mücke gestochen – er war schon immer das bevorzugte Opfer aller möglichen Insekten gewesen. Wenn irgendwo im Umkreis von zehn Kilometern ein stechwütiger Blutsauger auf der Suche nach seinem nächsten Opfer war, konnte man davon ausgehen, dass er am Ende bei ihm landete.

»Du hast halt süßes Blut, mein Süßer«, hatte Valerie immer gesagt, während sie lachend die kribbelnden Schwellungen mit kühlendem Mentholgel eingerieben hatte.

Er verdrängte die schmerzhafte Erinnerung an seine Exfreundin und ermahnte sich selbst, die Finger von der juckenden Stelle zu lassen. »Dadurch wird alles nur schlimmer«, sagte er und konzentrierte sich wieder auf den Fall. Ob Frau Summer wohl vertrauenswürdig war?

Just in dem Moment, als er an sie gedacht hatte, kam die fröhliche Dame auch schon um die Ecke gebogen. »Ihre Todesanzeigen sind wirklich sehr schön geworden, und das Blumenarrangement ist einfach …«, sie hielt inne und rückte ihre Brille zurecht. »Was haben Sie denn da im Gesicht? Hat Sie was gestochen?«

Morell nickte. »Ich bin ein richtiger Mückenmagnet.«

»O je, das sieht ja schlimm aus, Sie Ärmster. Die Viecher werden wirklich jedes Jahr aggressiver – als meine Nichte im Juli aus dem Ferienlager zurückkam, sah sie aus, als hätte sie die Beulenpest.« Frau Summer begutachtete noch einmal Morells Wange. »Am besten Sie raspeln eine Kartoffel, vermischen sie mit kleingehackten Zwiebeln und einem Schuss Essig und schmieren das auf den Stich – Sie werden sehen, das wirkt wahre Wunder.«

Wenn ich einen Sitzplatz in der U-Bahn möchte, auf jeden Fall, dachte Morell. »Danke für den Tipp«, sagte er und überreichte Frau Summer die Parte. »Bitte schön, ich bin gerade damit fertig geworden. Was kann ich sonst noch tun?«

»Ich glaube, Sie können Feierabend machen. Immerhin ist Wochenende, und Sie müssen ja noch zur Polizei gehen und Ihre Aussage wegen des gestohlenen Autos machen.«

Morell war enttäuscht – jetzt, wo er wusste, dass irgendwo in diesem Bestattungsunternehmen der Schlüssel zu Benedikt Horskys Verschwinden lag, hätte er gerne noch ein wenig herumgeschnüffelt. »Es ist kein Problem für mich, Ihnen noch ein bisschen zu helfen. Zur Polizei kann ich auch später noch gehen.«

»Das ist lieb von Ihnen.« Frau Summer tätschelte Morells Hand. »Aber ich glaube, wir schaffen es jetzt auch ohne Sie. Außerdem sollten Sie die Polizei nicht warten lassen. Dieser Herr Weber sah so aus, als würde er keinen Spaß verstehen. Also ab mit Ihnen in ein wohlverdientes Wochenende!«

 

Dass Weber tatsächlich keinen Spaß verstand, wurde Morell wieder einmal klar vor Augen geführt, als er draußen die Nachricht auf seiner Mobilbox abrief: »Hallo, Otto, oder soll ich lieber Herr Reiter sagen?«, grollte die Stimme seines Exkollegen. Morell konnte ihn direkt vor sich sehen: das Gesicht vor lauter Erregung gerötet, die kleinen Schweinsäuglein ärgerlich zusammengekniffen und die Stirn in Zornesfalten gelegt. »Hier spricht Roman Weber, und wenn ich mich nicht täusche, dann habe ich dir am Dienstag klipp und klar gesagt, dass du dich gefälligst aus meinen Angelegenheiten raushalten sollst. Lass dir eines gesagt sein – heute hattest du noch einmal Glück, aber früher oder später werde ich dich erwischen und wegen Behinderung und Sabotage einer polizeilichen Ermittlung drankriegen. Das wird dich deine Marke kosten!« Ein lauter Piepton zeigte das Ende der Nachricht an.

»Kruzifix!« Morell versuchte, die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Da hatte er sich ganz schön viel Ärger eingebrockt. Er musste so schnell wie möglich Beweise für Lorentz’ Unschuld sammeln, damit er Weber den Wind aus den Segeln nehmen konnte. »Auf zu Ludwig Nagy!«

 

Der Entomologe lebte am Stadtrand in einem kleinen, weißgetünchten Fuhrwerkshaus, das nicht ganz so luxuriös und geräumig wie die Villen von Novak und Zuckermann war, aber nichtsdestotrotz sehr reizend wirkte.

Während Morell auf die Klingel drückte, schickte er schnell ein Stoßgebet nach oben, in dem er darum bat, dass Nagy mehr wusste als Uhl und Zuckermann und auch bereit war, sein Wissen mit ihm zu teilen – immerhin hingen mittlerweile nicht mehr nur Lorentz’ Freiheit und Capellis Glück an der Lösung des Falls, sondern auch sein Job.

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis eine rundliche, etwa 50-jährige Frau die Tür öffnete. Sie trug Jeans und ein grell gemustertes Top und hatte ihre grauen Haare straff nach hinten gebunden.

»Bitte schön?!«

»Grüß Gott«, sagte Morell. »Ich würde gern mit Herrn Nagy sprechen. Ist er da?«

»Ja, er ist hier. Worum geht es denn, wenn ich fragen darf?« Sie musterte ihn kritisch von oben bis unten.

»Es geht …«

»Es geht um Insekten. Richtig?«, unterbrach sie ihn. »Sie wollen wissen, was Sie da gestochen hat.«

Automatisch griff Morell an die juckende Stelle. »Ist es so übel?«

»Nicht anfassen«, ermahnte sie ihn. »Das macht alles nur noch schlimmer.« Sie rümpfte die Nase. »Ich hasse diese grauslichen, unhygienischen Krabbelviecher. Die hocken erst auf sonst was herum, und dann stechen sie einen. Kein Wunder, wenn dann so was passiert.« Sie zeigte auf seine Wange. »Kommen Sie!«

Morell machte einen Schritt nach vorn, musste aber mitten in der Bewegung abbremsen. Anstatt ins Haus hineinzugehen, war die Frau, von der er annahm, dass sie Nagys Haushälterin war, nämlich einfach in der Tür stehen geblieben und starrte gebannt auf die Schwelle. Morell wartete, dass sie damit aufhörte, aber sie blieb wie angewurzelt stehen und rührte sich keinen Millimeter. »Alles okay mit Ihnen? Haben Sie etwas verloren?«, fragte er. »Kann ich Ihnen helfen?«

Sie antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. »Da!«, rief sie plötzlich und zeigte aufgeregt auf eine Stelle neben Morells rechtem Schuh. »Ich habe gerade das ganze Haus blitzblank geputzt. Diese widerlichen Viecher kommen mir hier nicht rein.«

Er blickte nach unten. »Ach, das sind nur ein paar Ameisen. Die sind ganz harmlos und sicher nicht unhygienisch.«

»Von wegen!« Noch bevor Morell etwas einwenden konnte, hatte die resolute Haushälterin ihn beiseitegeschoben und die drei kleinen Tierchen mit ihren Birkenstockschlapfen in die ewigen Zuckerdosen befördert.

Morell, der das grausame Schauspiel mit offenem Mund beobachtet hatte, starrte erschrocken auf die drei schwarzen Pünktchen, die nun auf den Steinen klebten.

»Sie haben doch wohl nicht etwa Mitleid?«, fragte die Haushälterin. »Sie sind doch selber ein Opfer von denen.« Sie deutete auf sein Gesicht, runzelte die Stirn und winkte ihn ins Haus, das wirklich erstaunlich sauber war. Alles blitzte und glänzte, kein Staubkorn trübte die keimfreie Reinheit, und die Luft war erfüllt von einer Mischung aus Zitrone, Chlor und Möbelpolitur.

Das Erste, was Morell drinnen tat, war, einen Blick in den blankpolierten Spiegel, der neben der Garderobe hing, zu werfen. Tatsächlich hatte er einen leuchtend roten, beinahe handtellergroßen Fleck auf seiner Wange. »Oh«, sagte er erschrocken. »Das sieht ja schlimmer aus, als ich dachte.«

»Unhygienisch. Sag ich doch.« Sie schüttelte verächtlich den Kopf und führte Morell über eine schmale, frischgebohnerte Holztreppe in den ersten Stock. Dort deutete sie auf eine Tür. »Warten Sie bitte da drinnen. Ich sage dem Herrn Professor Bescheid, dass Besuch da ist.«

Morell öffnete die Tür, auf die die energische Haushälterin eben gezeigt hatte, betrat das Zimmer und wäre beinahe wieder rückwärts hinausgestolpert: Der Raum war ungefähr 30 Quadratmeter groß, vier Meter hoch, mit schönem, dunkelbraunem Fischgrätparkett ausgelegt, besaß einen herrlichen offenen Kamin, einen französischen Balkon und eine alte Standuhr, deren monotones Ticktack das ganze Zimmer ausfüllte. So weit, so gut – was Morell aber die Haare zu Berge stehen ließ, waren die Wände. Vom Boden bis zur Decke waren sie mit kleinen Glasschaukästen bestückt, in denen sich insgesamt Hunderte oder vielleicht sogar Tausende von Insekten befanden. In allen Größen, Formen und Farben hingen sie da und starrten den Eindringling mit ihren Facettenaugen an.

Morell setzte sich widerstrebend auf ein Chesterfield-Sofa und versuchte, sich nicht zu kratzen. Der Anblick all dieser Krabbeltiere hatte dazu geführt, dass es ihn jetzt nicht mehr nur im Gesicht, sondern überall am ganzen Körper juckte.

Nach ungefähr fünf Minuten ging die Tür auf, aber es war nicht Nagy, sondern seine Haushälterin, die hereinkam. »Hier«, sagte sie und hielt ihm einen Teller, auf dem sich eine übelriechende Paste befand, unter die Nase, »Kartoffeln, Zwiebeln und Essig – etwas Besseres gibt es nicht.«

Noch bevor Morell etwas einwenden konnte, nahm sie mit den Fingern etwas von der gelblich braunen Masse und patschte ihm einen Batzen auf die Wange.

Er protestierte, doch die Haushälterin ignorierte ihn einfach und drückte ihm eine weiße, gestärkte Serviette in die Hand. »Versuchen Sie, die Couch nicht vollzukleckern«, sagte sie und verschwand wieder.

Einige Augenblicke später betrat Ludwig Nagy endlich den Raum. Er hatte schütteres, graues Haar, das in langen Strähnen über seine Ohren fiel, und dicke, buschige Augenbrauen. Er ging leicht gebeugt, wobei seine breiten Schultern so weit hochgezogen waren, dass man seinen Hals nur noch erahnen konnte. Die muskulösen Arme hielt er leicht angewinkelt vor seinem Oberkörper, was dazu führte, dass er in Morells Augen wie eine überdimensional große Heuschrecke aussah – es schien fast so, als hätte er sich im Laufe der Jahre optisch an seine Studienobjekte angepasst.

»Sie haben also schon Bekanntschaft mit einem von Frau Felders Hausmitteln gemacht«, sagte er und deutete auf das Essig-Zwiebel-Kartoffel-Gemisch in Morells Gesicht. »Sie ist eine furchtbare Nervensäge, aber bedauerlicherweise bin ich ohne sie völlig aufgeschmissen, sonst hätte ich sie schon vor Jahren gefeuert.«

Morell nickte. Das Zeug auf seiner Backe stank wie die Pest, aber er musste zugeben, dass das Brennen und Jucken besser geworden waren.

»Frau Felder sagte, Sie wären von irgendeinem«, Nagy malte Gänsefüßchen in die Luft, »dieser unhygienischen Dinger gestochen worden und wüssten nicht, was es war. Lassen Sie mal sehen.« Er nahm die Stoffserviette, wischte die Paste beiseite und begutachtete die gerötete Stelle. »Hmmm«, grübelte er und beugte sich noch näher an Morells Gesicht.

»Eigentlich bin ich hier, um mit Ihnen über den Mord an Vitus Novak zu reden.«

Nagy wich zurück, warf die dreckige Serviette achtlos auf den glänzenden Parkettboden, drehte Morell den Rücken zu und betrachtete einen kleinen Schaukasten, in dem sich ein großer, gehörnter Käfer befand. »Ich habe davon gehört. Sind Sie von der Polizei?«

Morell überlegte kurz. Da Weber nun ja leider über seine Undercoveraktion Bescheid wusste, gab es keinen Grund mehr, sich zu verstellen. »Mein Name ist Otto Morell«, sagte er also. »Ich bin Polizist außer Dienst und komme zu Ihnen, weil ein Freund von mir unschuldig im Gefängnis sitzt und ich versuche, den wahren Täter zu finden.«

Nagy strich mit seinen Fingerspitzen sanft über das Glas des Schaukastens. »Die Spezies Mensch ist böse, hinterhältig und verderbt«, sagte er. »Insekten hingegen handeln nach einfachen, biologischen Mustern. Sie streben nicht nach Ruhm, Geld, Wissen oder Anerkennung. Sie sind simple Wesen, die keine Schuld auf sich laden. Wir Menschen töten unsere Artgenossen aus Neid, Gier, Rache, verschmähter Liebe und oft sogar wegen weitaus geringerer Dinge. Insekten töten nur, um zu überleben.«

Morell, der nicht genau wusste, was Nagy ihm damit sagen wollte, beschloss, nicht lange herumzufackeln, sondern direkt auf den Punkt zu kommen. »Was können Sie mir über die Expedition nach Syrien erzählen, an der Sie 1978 teilgenommen haben? Hat Novak Sie damals gebeten, ihm heimlich beim Freilegen eines alten Königsgrabs zu helfen?«

Der Entomologe drehte sich um. »Ich war 78 mit Novak in Syrien«, sagte er. »Aber ich weiß nichts von einem Grab.«

»Ein Mann wurde grausam ermordet, und ein anderer Mann sitzt deswegen unschuldig im Gefängnis. Wenn es irgendetwas gibt, was Sie darüber wissen, dann müssen Sie es mir erzählen.«

Nagy setzte sich an seinen Schreibtisch. »Novak und ich kannten uns kaum, warum hätte er also ausgerechnet mich um Hilfe bitten sollen? Und außerdem – wenn es am Tell Brak ein bedeutendes Königsgrab gäbe, dann wäre das doch wohl allgemein bekannt. Wie auch immer – ich weiß weder etwas über ein Grab noch über den Mord. Tut mir leid.«

Morell versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Trotzdem vielen Dank«, sagte er und erhob sich.

»Das da in Ihrem Gesicht ist übrigens kein Insektenstich. Wahrscheinlich sind Sie gegen irgendetwas allergisch – am besten Sie gehen zum Arzt.«

Morell fasste sich an die Wange. »Kein Stich?«

Der Entomologe lehnte sich zurück und deutete auf die Glaskästchen an den Wänden. »Allesamt unschuldig«, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen. »Das können Sie gerne auch Frau Felder sagen.«

Morell ging zur Tür. »Ach ja, bevor ich es vergesse – ich muss Sie leider fragen, was Sie in der Nacht von Sonntag auf Montag gemacht haben.«

»Na was wohl?! Ich habe geschlafen – so wie jeder normale Mensch.«

»Allein?«

Nagy bejahte. »Ich habe mich vor zwanzig Jahren scheiden lassen und seitdem die Nase voll von Frauen. Es reicht, dass ich tagtäglich das nervtötende Gequassel von Frau Felder ertragen muss. Glauben Sie mir – auf Weiber kann man gut verzichten. Das Junggesellenleben bringt, abgesehen davon, dass einem hie und da mal ein Alibi fehlt, nur Vorteile.«

»Damit haben Sie wahrscheinlich recht.« Morell nickte Nagy zum Abschied zu, verließ den Raum und ging die Stiege hinunter. »Auf Wiederschaun, Frau Felder!«, rief er in Richtung Küche, aus der Töpfeklappern zu hören war, und ging nach draußen, wo gerade ein paar Ameisen munter über die Zufahrt krabbelten. »Haut lieber ab von hier, wenn euch euer Leben lieb ist«, sagte er und entschied, als Nächstes zu Johannes Meinrad zu fahren.

Vorher wollte er aber noch schnell auf einen Sprung bei Nina vorbeischauen. Erstens musste er sich dringend die Reste von Frau Felders Paste abwaschen – sie half zwar gegen das Jucken, stank aber unerträglich –, und zweitens wollte er, dass sie sich seine Backe ansah. Wenn das Kribbeln und Brennen nämlich kein Insektenstich war, was war es dann?