»Mein Odem ist schwach und meine Tage
sind abgekürzt; das Grab ist da.«
Bibel, Hiob 17: 1
Als Morell am Wiener Westbahnhof aus dem Zug stieg, schlug ihm ein Schwall dreckiger, kalter Luft entgegen. Er knöpfte seine Jacke zu und schauderte. Der Himmel war trüb und wolkenverhangen, und feiner, grauer Nieselregen benetzte sein Gesicht. Die Geräuschkulisse war dieselbe wie in den Jahren, als er noch hier gelebt hatte: Autohupen, lautes Rufen, Motorengeräusche, Hundekläffen und aus irgendeinem Haus auf der anderen Seite des Gürtels dröhnten die brummenden Bässe billiger Techno-Musik.
»Was für ein Empfang«, murmelte er. Es schien fast so, als sei die Stadt böse auf ihn, weil er ihr Landau vorgezogen hatte. Nun tat Wien schmollend seinen Unmut über seine Rückkehr kund und zeigte sich von seiner schlechtesten Seite.
Schon die Fahrt war nicht gerade schön gewesen. Morell hatte sich schlapp und müde gefühlt – er hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen, da tausend Gedanken in seinem Kopf herumgeschwirrt waren: Würde er Lorentz helfen können? Gab es vielleicht doch noch eine Chance für Valerie und ihn? Und würde Bender es schaffen, mit den Pflanzen, Fred und der Arbeit auf dem Revier allein zurechtzukommen?
Ein alter, betrunkener Sandler, der beißend nach Urin stank und dessen Gesicht von Krankheit und Alkohol gezeichnet war, bettelte auf dem Bahnhofsvorplatz um Geld und holte Morell in die Realität zurück.
»Hier, mein Freund.« Morell steckte ihm einen Fünfer zu. »Kauf dir was Anständiges zu essen.«
Der alte Mann, völlig überrascht von der großzügigen Spende, steckte den Schein hastig weg, nickte dem Chefinspektor kurz zu und verschwand dann im Getümmel der Reisenden.
Menschen wie dieser Obdachlose waren ein weiterer Grund, weshalb Morell das Leben auf dem Land vorzog. Die Großstadt war ein Sammelbecken für gescheiterte Existenzen, und er war einfach nicht dafür geschaffen, sich tagtäglich mit all ihren Schicksalen, ihrem Leid und ihrer Hoffnungslosigkeit auseinanderzusetzen. »Zu viele Menschen, zu wenig Würde«, murmelte er, rief sich ein Taxi heran und stieg ein. »Zum Landeskriminalamt, bitte.« Er lehnte sich zurück, atmete Duftbaumluft ein und vermisste sein Landau, bis das Läuten des Handys ihn aus seinen Gedanken riss.
»Servus, Otto, hier ist Nina. Bist du schon in Wien? Soll ich dich irgendwo abholen kommen?«
»Nein, nein, vielen Dank. Ich habe mir ein Taxi genommen und fahre direkt einmal ins Landeskriminalamt. Ich sondiere dort die Lage, spreche dann mit Leander und komme anschließend bei dir vorbei.«
»Du bist wirklich ein Schatz. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde.«
»Warten wir erst mal ab, ob ich tatsächlich helfen kann. Bis später!« Morell legte auf, starrte aus dem Fenster und betrachtete die grauen Häuserfassaden und die bunten Reklameschilder, die an ihm vorbeizogen.
Es war ein komisches Gefühl, nach so langer Zeit wieder an seinen ehemaligen Arbeitsplatz zurückzukehren. Morell betrachtete das große Gebäude, das ihm so fremd und gleichzeitig so vertraut schien. Viele schlechte Erinnerungen kamen in ihm hoch: All die übel zugerichteten Opfer, die geschlagen, missbraucht und getötet worden waren, und dazu all die trauernden Angehörigen, die vor seinen Augen geschrien und geweint oder einfach nur stumm in einer Ecke gesessen hatten.
Er betrat das LKA. Die Stimmung hier drinnen war nicht mit der Atmosphäre in der netten, kleinen Inspektion in Landau zu vergleichen. Bender und er hatten einen ruhigen und entspannten Alltag. Hier dagegen lag Hektik in der Luft. Es herrschte ein betriebsames, knisterndes Klima, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen. Am Beginn seiner Karriere hatte Morell das noch aufregend und mitreißend gefunden und sich voller Energie und Zuversicht in die Arbeit gestürzt. Wie jung und naiv er damals doch gewesen war – er hatte sich tatsächlich eingebildet, er könne die Welt verändern. Im Laufe der Jahre schwand diese Illusion aber, und er wurde immer frustrierter, bis er eines Tages am Rand einer Depression gestanden hatte. Der Umzug nach Landau war daher genau das Richtige gewesen, und er war ohne Reue gegangen.
Wer von den alten Kollegen wohl noch hier arbeitete? Einige waren sicher in Pension gegangen oder versetzt worden. Viele würden aber vermutlich noch da sein – wie sie wohl auf sein plötzliches Auftauchen reagieren würden? Morell schielte auf seinen Bauch. Er war verdammt dick geworden. Zwar hatte er sich ein extra weites, schwarzes Sakko angezogen, das ihn dünner erscheinen lassen sollte, aber so wie es aussah, hatte es nichts genutzt.
»Augen zu und durch«, murmelte er. »Die Meinung der Jungs kann dir völlig wurscht sein. Du bist hier, um Leander zu helfen, und sobald das erledigt ist, kannst du wieder abrauschen.« Er holte tief Luft, zog den Bauch ein und wandte sich an einen jungen Polizisten.
»Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht sagen, wer den Fall des ermordeten Archäologen betreut?«
Der Beamte musterte ihn kritisch. »Sind Sie ein Zeuge oder ein Angehöriger?«
»Weder noch. Mein Name ist Chefinspektor Otto Morell, und ich muss dringend mit dem zuständigen Ermittler sprechen.«
»Morell?« Der Beamte schaute skeptisch. »Und Sie sind Polizist?«
»Ja, das bin ich.« Morell stellte sich aufrecht hin, zog seinen Bauch noch weiter ein, reckte das Kinn in die Höhe und versuchte kompetent und respekteinflößend zu wirken. »Könnten Sie mir jetzt bitte sagen, wer der leitende Ermittler ist? Ich habe dringend etwas mit ihm zu bereden.«
Die imposante Statur des Landauer Polizisten hatte anscheinend Eindruck gemacht, denn der junge Beamte überlegte kurz und nickte dann. »Chefinspektor Weber betreut die Ermittlungen«, sagte er.
Morell musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu fluchen. Ausgerechnet Roman Weber. Das war nicht gut. Sein Exkollege konnte ihn nämlich nicht ausstehen – das hatte er noch nie können. Weber war – im Gegensatz zu Morell – ein trockener Taktiker. Während Morell sich auf seine Intuition verließ und versuchte, durch Gespräche Zugang zu den Menschen zu finden, setzte Weber auf Indizien, Analysen und neueste Technik. Die langjährige Antipathie, die zwischen den beiden geherrscht hatte, fand ihren Höhepunkt, als Morell, der es gar nicht darauf angelegt hatte, die Beförderung bekam, auf die der ehrgeizige Weber so scharf gewesen war.
Da Weber über das plötzliche Auftauchen seines ehemaligen Rivalen alles andere als erfreut sein würde, überlegte Morell kurz, ob es vielleicht nicht besser wäre, sich heimlich, still und leise wieder aus dem Staub zu machen. »Nein«, ermahnte er sich selbst – er brauchte dringend ein paar interne Informationen, um Lorentz zu helfen, und musste daher zumindest versuchen, mit Weber zu reden.
»Könnten Sie bitte kurz nachfragen, ob Herr Weber einen Augenblick Zeit für mich hat?«
Der junge Beamte schaute immer noch ein wenig skeptisch, nahm aber sein Telefon und wählte. »Herr Weber, bei mir hier am Empfang steht ein gewisser Otto Morell und würde Sie gerne sprechen … aha … in Ordnung … ist gut … werde ich machen … auf Wiederhören.« Er legte auf. »Ich soll Sie zu ihm raufschicken. Sein Büro ist …«
»Ich weiß, wo sich sein Büro befindet. Vielen Dank.« Morell nickte dem Polizisten kurz zu und machte sich mit einem unguten Gefühl im Bauch auf den Weg.
Weber schien – genau wie Morell es geahnt hatte – nicht gerade erfreut über den unerwarteten Besuch seines Exkollegen zu sein. Er starrte den Landauer Chefinspektor mit zusammengekniffenen Augen und zur Seite geneigtem Kopf argwöhnisch an, als dieser den Raum betrat.
»Otto Morell, was für eine Überraschung. Du bist es wirklich. Ich dachte erst, der junge Kollege am Eingang will mich verarschen.« Er musterte Morell von oben bis unten, und sein misstrauischer Blick blieb kurz an dessen überdimensionalem Bauch und dem Doppelkinnansatz hängen. »Ich hätte dich beinahe nicht mehr wiedererkannt. Du bist ein wenig aus der Form gelaufen, wenn ich das mal so sagen darf.«
Morell verdrehte die Augen. Weber war noch immer so respektlos und beleidigend wie früher. Er dachte an Lorentz, verkniff sich einen gemeinen Konter und versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Darf ich mich setzen?« Er deutete auf einen Stuhl.
Weber nickte. »Nachdem du uns damals so fluchtartig verlassen hast, war ich eigentlich davon überzeugt, dich nie wieder zu Gesicht zu bekommen. Was führt dich also her? Ich gehe mal davon aus, dass du nicht gekommen bist, weil du mich so sehr vermisst hast.«
Morell setzte sich, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sein Gegenüber. Weber hatte sich kaum verändert: Er hatte noch immer diesen verbissenen Zug um den Mund und unfassbar stechende Augen, die einen schier zu durchbohren schienen. »Da liegst du richtig«, sagte er, ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern und war froh, dass er hier nicht mehr arbeiten musste. Sein Büro in Landau war heimelig und bequem. Er hatte seine Lieblingspflanzen mitgenommen, die Pokale, die er beim jährlichen Wettbewerb des Gartenbauvereins gewonnen hatte, aufgestellt und einige schöne Kunstdrucke an die Wände gehängt. Dieser Raum hier wirkte im Gegensatz dazu völlig trist und farblos. Neben dem Schreibtisch und den beiden Stühlen gab es noch einen billigen, abgenutzten Schrank aus dunklem Furnier und ein Metallregal, das voll mit schwarzen Aktenordnern war. Morell wollte sich gar nicht erst vorstellen, welche Dokumente diese Ordner enthielten – sie waren eine einzige Chronik von Grausamkeit und Gewalt.
»Warum bist du hier, Otto?«, wiederholte Weber ungeduldig.
Impulsiv und hektisch wie eh und je, hätte Morell ihm am liebsten gesagt, hielt aber den Mund. »Ich bin wegen Leander Lorentz gekommen«, antwortete er stattdessen.
Weber lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Da bin ich aber mal gespannt. Was weißt du über den Mistkerl?«
»Leander ist kein Mistkerl. Er ist ein guter Freund von mir, und ich bin gekommen, um dir zu versichern, dass er mit dem Mord nichts zu tun hat.« Morell betrachtete voller Mitleid den kleinen Weihnachtskaktus, der einsam und vernachlässigt am Rand von Webers Schreibtisch vor sich hin trocknete.
»Und was macht dich da so sicher?«
»Wie schon gesagt: Ich kenne ihn gut. Er ist ein feiner Kerl, der keinem Menschen etwas zuleide tun könnte.«
Weber gab ein zynisches Lachen von sich. »Dasselbe wurde über Typen wie Charles Manson und Jeffrey Dahmer auch gesagt.«
»Du musst mir glauben, Roman. Ich kenne Leander wirklich gut, und ich versichere dir …«
»Ach papperlapapp«, unterbrach Weber ihn. »Von wegen du kennst Lorentz. Hast du denn in deiner Zeit bei der Kripo gar nichts gelernt? Man merkt es diesen Menschen nicht an. Es gibt Frauen, die erst nach zwanzig oder dreißig Jahren Ehe herausfinden, dass ihr Göttergatte kein liebevoller, fürsorglicher Ehemann, sondern ein kaltblütiger Mörder ist.«
»Aber …«, wollte Morell einwenden.
»Kein aber«, fuhr Weber ihn harsch an. »Ich weiß ja nicht, wie es in deinem kleinen weltfremden Dorf dort oben in den Bergen zugeht, aber hier spielt das wahre Leben, und das ist nun mal kein Streichelzoo.« Weber nahm einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und spuckte das schwarze Gebräu wieder zurück in die Tasse. »Bah, schon kalt«, fluchte er. »Ich hole mir schnell einen neuen.« Er stand auf und wedelte mit der Tasse. »Für dich auch?«
Morell verneinte, und als sein Exkollege die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er tief ein und ließ die Luft dann langsam wieder aus seiner Lunge entweichen. Es war ja noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Weber, dieser bornierte Sturschädel, hatte sich völlig auf Lorentz eingeschossen. Er würde alles daransetzen, ihn hinter Gitter zu bringen, und nun, da er wusste, dass der Verdächtige auch noch ein Freund von ihm war, würde er das sogar mit besonders großem Vergnügen tun.
Er beschloss, sich als Erstes um den kleinen Weihnachtskaktus zu kümmern, da er den Anblick der armen, durstigen Pflanze nicht länger ertragen konnte. Als er nach einem halbvollen Wasserglas griff, das auf dem Tisch stand, fiel sein Blick auf ein gerahmtes Foto, das Weber mit einer hübschen, brünetten Frau zeigte, die strahlend in die Kamera lächelte. Morells Magen zog sich zusammen – sogar der kleine Giftzwerg hatte eine Beziehung, was machte er selbst denn nur falsch?
»Ach, Valerie«, seufzte er und schüttete die Hälfte des Wassers daneben. »Kruzifix!« Er zog eine Packung Taschentücher aus seiner Hosentasche und fing hektisch an, die nassen Unterlagen abzutrocknen. Dabei stach ihm ein gelber Ordner, der mit dem Namen ›Novak‹ beschriftet war, ins Auge. Sollte er vielleicht einen kleinen Blick hineinwerfen? Nein, er würde auch nicht wollen, dass irgendjemand ungefragt in seinen Sachen herumschnüffelte. Andererseits war es eine einmalige Gelegenheit – die Kaffeeküche befand sich ganz am Ende des Flurs, und es würde sicher noch einige Minuten dauern, bis Weber wieder zurückkam. Morell griff nach dem Ordner und hielt die Luft an. »Der Zweck heiligt die Mittel«, murmelte er, schlug die Mappe auf und begann, sich die Aufzeichnungen durchzulesen. Beim Anblick der grausigen Fotos aus dem Arkadenhof kam ihm beinahe die Brotzeit, die er im Zug gegessen hatte, wieder hoch. Das war ja noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte.
Morell schreckte hoch, als Weber sich hinter ihm räusperte. Schnell legte er den Ordner zurück und starrte auf seine Hände. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der beim Schummeln ertappt worden war.
»Was machst du denn mit der Novak-Akte?« Weber setzte sich mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand auf seinen Stuhl.
»Tut mir leid, ich … ich …«, stammelte Morell. »Ich wollte nur kurz die arme Schlumbergera gießen … weil … die ist zwar ein Kaktus, aber kein typischer … die braucht mehr Wasser als ihre Artgenossen … und da habe ich aus Versehen ein bisschen was daneben geschüttet, und jetzt wollte ich …«
Weber bedachte Morell mit einem tadelnden Blick und nahm einen Schluck Kaffee. »Von mir aus, lies die Akte ruhig und sieh es mit deinen eigenen Augen«, sagte er gönnerhaft. »Mir willst du ja nicht glauben, aber die Fakten sprechen für sich: Lorentz hat ein Motiv, kein Alibi, und außerdem wurde er dabei beobachtet, wie er in der Mordnacht den Tatort verlassen hat. Es sieht also ziemlich schlecht für deinen Freund aus.« Weber konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Meine Männer und ich haben den Tathergang folgendermaßen rekonstruiert: Novak steht Lorentz’ akademischer Karriere im Weg, und die beiden geraten sich deswegen immer häufiger in die Haare. Die Situation spitzt sich noch mehr zu, als sich Novak die Forschungsergebnisse seines jungen Kollegen unter den Nagel reißt. Lorentz bricht daraufhin in das Büro des Professors ein, wird dabei von diesem überrascht – und tötet ihn.«
Morell schüttelte den Kopf. »Deine Theorie würde für einen Mord im Affekt sprechen. Die Fotos da drinnen«, er zeigte auf den Ordner, »lassen aber ganz eindeutig auf ein geplantes, kaltblütig ausgeführtes Verbrechen schließen.«
»Es war anscheinend in Fachkreisen bekannt, dass das Opfer davon träumte, nach seinem Tod einen Platz im Arkadenhof zu bekommen. Wir halten die Positionierung des Schädels für einen makabren Scherz, den Lorentz sich nach der Tat hat einfallen lassen.«
»Und wo, bitte schön, soll er den Körper der Leiche versteckt haben? Der fehlt ja wohl auch noch, wenn ich richtig gelesen habe. Und wie sieht’s mit der Tatwaffe aus?« Morell schüttelte den Kopf. »Hier gibt es noch viel zu viele offene Fragen, um jemanden vorzuverurteilen.«
»Den Körper und die Tatwaffe werden wir sicher bald finden, und die Spusi wird beweisen, dass dein guter Herr Doktor hinter allem steckt.«
»Das ist doch alles Quatsch. Ich kenne Leander.«
Weber verzog das Gesicht. »Du und deine angebliche Menschenkenntnis. Sieh dich doch mal an, Otto. Wo hat dich denn deine Philanthropie hingebracht? Du bist von hier abgehauen, weil du nicht für die Arbeit mit Kapitalverbrechen geschaffen bist, also geh zurück ins Wunderland zu deinen Gartenzwergen und überlass die harten Fälle den Profis. Glaub mir: Lorentz hat auf jeden Fall was mit der Sache zu tun. Früher oder später werden wir es ihm hieb- und stichfest nachweisen können. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Vergiss endlich deine alberne Intuition. Es sind die Fakten, die zählen.«
Morell sah ein, dass er hier nicht mehr weiterkam. »Kann ich mit Leander sprechen?«, fragte er.
»Die Besuchszeit ist für heute schon vorbei. Du kannst deinen Freund morgen Nachmittag sehen, aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen, dass du ihn da rauskriegst.«
Morell stand auf und verabschiedete sich. Das Gespräch mit Weber war alles andere als gut gelaufen, und nun musste er das irgendwie der armen Capelli beibringen.
»Ich bin so glücklich, dass du gekommen bist«, sagte Nina, als sie die Tür öffnete. Die Gerichtsmedizinerin, die normalerweise eine ausgeglichene Frohnatur war, wirkte müde und abgeschlagen. Ihr Gesicht war blass, und sie hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen.
»Ich habe gesehen, dass dein Auto vor der Tür steht. Du hast deinen Schlüssel also doch noch gefunden«, stellte Morell fest. »Wo war er denn?«
»Erinnere mich nicht daran«, winkte sie ab. »Ich musste ganze zwölf Umzugskartons öffnen, bis ich ihn endlich gefunden habe.« Sie trat zur Seite. »Komm doch rein.«
Das Erste, was Morell ins Auge stach, war das Chaos in der Wohnung. Überall standen Kisten, Koffer, Taschen und halb zusammengebaute Möbel herum.
Capelli hatte seinen Blick bemerkt. »Leander wurde anscheinend verhaftet, bevor er alles herrichten konnte«, sagte sie, den Tränen nahe. »Er wollte bis heute Abend mit dem Gröbsten fertig sein, aber …« Sie konnte nicht mehr weiterreden, zog ein zerknülltes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit ein paar Tränen aus dem Gesicht.
Morell stellte seinen Koffer auf den Boden und nahm die völlig aufgelöste Gerichtsmedizinerin in den Arm. »Schschsch«, versuchte er sie zu beruhigen. »Ich bin ja jetzt hier. Alles wird gut.« Er war zwar in keiner Weise von seinen Worten überzeugt, doch sie schien das nicht zu bemerken. Sie nickte, schnäuzte sich, und zum ersten Mal an diesem Tag huschte so etwas wie ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich habe das Gästezimmer für dich hergerichtet«, sagte sie. »Pack doch erst einmal in Ruhe aus, und ich mache uns in der Zwischenzeit einen Tee.«
Als Morell kurze Zeit später in die Küche kam, hatte Capelli heißes Wasser aufgesetzt und ein paar belegte Brote geschmiert.
»Ich dachte, du hast sicher Hunger nach der langen Fahrt.«
»Das kannst du laut sagen.« Morell griff sich ein Brot mit Eiaufstrich und biss herzhaft hinein. »Das tut gut. Magst du denn nichts essen?«
»Nein, ich habe keinen Appetit. Die Sorge um Leander schlägt mir ziemlich auf den Magen. Was für einen Tee möchtest du? Ich habe Kamille, Hagebutte oder Schwarztee.«
»Egal.« Der Chefinspektor griff nach dem nächsten Brot. »Ich nehme den gleichen wie du.«
»Ich mach mir einen Baldriantee, der beruhigt die Nerven. Bist du sicher, dass du auch so einen willst? Ich glaube nicht, dass der besonders gut schmeckt.«
Morell dachte an Valerie, den sterbenskranken Ficus, die lange Zugfahrt und das mehr als unbefriedigende Gespräch mit Weber. Seine Nerven konnten definitiv auch ein bisschen Beruhigung vertragen. »Ich probiere ihn einfach mal.«
Der Tee schmeckte tatsächlich scheußlich, aber er schien Nina gutzutun. Ihre Haltung entspannte sich, ihre Hände hörten auf zu zittern, und langsam bekam sogar ihr Gesicht wieder Farbe. »Was hast du denn heute herausbekommen?«, wollte sie wissen.
Morell biss von seinem Brot ab und musterte sein Gegenüber. Capelli schien sich wieder halbwegs gefangen zu haben, darum beschloss er, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ehrlich gesagt, sieht es im Moment nicht besonders gut für Leander aus. Weber, der leitende Ermittler, ist felsenfest von seiner Schuld überzeugt.«
Morell war noch nie sehr gut darin gewesen, Frauen richtig einzuschätzen. Capelli war nämlich alles andere als gefasst. Ihre Hände begannen wieder zu zittern, und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
»Aber keine Sorge«, bemühte Morell sich um Schadensbegrenzung. »Ich werde mich um die Sache kümmern. Gib mir ein bisschen Zeit … irgendwie werde ich Leander da schon rausholen.«
Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Versprochen?«
Mit ihren verquollenen Augen und dem hilflosen Blick sah die Gerichtsmedizinerin so zerbrechlich aus, dass der Chefinspektor es beim besten Willen nicht schaffte, seine Zusicherungen zu relativieren. »Aber natürlich!«, sagte er und bereute seine Aussage im selben Moment. Er machte hier gerade Versprechungen, von denen er nicht wusste, ob er sie auch halten konnte. »Morgen werde ich als Erstes dem Institut für Archäologie einen Besuch abstatten, um mir ein eigenes Bild von der Situation zu machen, und nachmittags besuche ich dann Leander.«
»Danke«, sagte Nina. »Du bist wirklich meine Rettung.« Sie versuchte zu lächeln. »Entschuldige, ich habe überhaupt noch nicht nach dir gefragt. Erzähl, wie geht es Valerie?«
Morell steckte sich schnell den letzten Bissen Brot in den Mund, um nicht darüber reden zu müssen. »Äh, alles okay«, nuschelte er. »Kann ich noch einen Tee haben?«