»Seht das ragende Grab des längst gestorbenen Mannes.«

Homer, Ilias

Morell ahnte nichts vom ungewissen Schicksal seines Katers und stieß im Flur mit Capelli zusammen.

»Da bist du ja. Ich habe mich schon gewundert, wo du steckst«, sagte er, während er sich mit einem Handtuch die Haare trockenrubbelte. »Ich wollte uns nämlich gleich was Schönes kochen, es gibt Rösti mit Spargel-Ragout und dazu Feta-Palatschinken-Röllchen. Und, wie war dein Tag? Was hast du gemacht?«

Die Gerichtsmedizinerin schaute verlegen zu Boden und spielte mit ihrem Autoschlüssel herum. Sie war nicht ganz sicher, wie der gesetzestreue Polizist auf die Tatsache reagieren würde, dass sie trotz Befangenheit eine Obduktion durchgeführt hatte. »Ich … ähm …«, stammelte sie, »ich habe gearbeitet.«

»Heute schon? Es sollte doch erst nächste Woche losgehen.«

»Sie hatten was Dringendes, und weil so viele Kollegen krank sind, haben sie mich gebeten, einzuspringen.«

»Und was war so eilig?«

»Och, nichts Besonderes«, log Capelli.

»Nun sag schon.« Morell kam das Rumgedruckse irgendwie komisch vor.

»Ich mach uns erst mal einen Tee. Magst du auch wieder Baldrian?«

»Lenk nicht ab, Nina. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du mir was verheimlichst. Was hast du angestellt?«

Capelli atmete tief ein. »Ich habe Novaks Körper seziert«, nuschelte sie und wollte sich in die Küche verdrücken.

»Du hast WAS?!« Morell hielt seine Gastgeberin zurück und starrte sie mit offenem Mund an. »Sag mir bitte, dass ich mich gerade verhört habe!«

»Nein, hast du nicht. Novaks Körper wurde heute aus der Donau gefischt, und ich habe ihn untersucht.«

Morell griff sich an den Kopf. »Es ist dir doch hoffentlich klar, dass es dich deinen Job kosten kann, wenn jemand rausfindet, dass Leander dein Freund ist.«

Capelli seufzte und nickte. »Ich will, dass Leander schnell von diesen Anschuldigungen freigesprochen wird. Dafür würde ich wirklich alles tun.«

»O Mann!« Der Chefinspektor rieb sich die Schläfen. »Was für ein Tag! Um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, ich nehme Baldriantee – ohne den scheint hier gar nichts mehr zu gehen.«

 

Nachdem Morell sich angezogen hatte, ging er in die Küche zu Capelli, die bereits mit einer Tasse Tee am Tisch saß. Er mochte die Küche: Der massive Esstisch aus hellem Buchenholz, die dazu passenden Regale und Schränke und die bequemen Stühle mit ihren bunten Sitzkissen verbreiteten eine warme, heimelige Atmosphäre und rochen wunderbar nach Holz. Gleich würde es hier noch besser duften, dachte der Chefinspektor und begann damit, Gewürze, die er auf dem Naschmarkt gekauft hatte, auszupacken: Lorbeer, Safran, Kurkuma, Kardamom, Sternanis, Chiliflocken, Liebstöckel und Vanilleschoten.

Im Rest der Wohnung herrschte nach wie vor Umzugschaos: Kisten wollten ausgepackt, Möbel zusammengebaut und Wände gestrichen werden. All das war dem Chefinspektor aber egal – für ihn zählte nur die Küche. Sie war in seinen Augen das Herz einer jeden Wohnung, eine Ruheoase, ein Ort, an dem man entspannen und Kraft tanken konnte. Und genau das würde er jetzt auch tun – indem er kochte. Während er begann, einen Teig anzurühren, erzählte er von seinem Besuch an der Uni und bei Lorentz. »Dann lass doch mal hören, was die Obduktion ergeben hat«, sagte er schließlich, als er mit seinem Tagesbericht fertig war.

Capelli pustete auf den heißen Tee in ihrer Tasse und nahm einen kleinen Schluck. »Der Tod trat in der Nacht von Sonntag auf Montag ein – die genaue Stunde lässt sich leider nicht bestimmen. Auch was die Tatwaffe angeht, kann ich keine brauchbaren Informationen liefern. Er wurde mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen – das kann so gut wie alles gewesen sein: ein Baseballschläger, ein Aschenbecher, ein Briefbeschwerer oder einfach nur ein runder Stein. Die Abtrennung des Kopfs erfolgte mit einer handelsüblichen Säge, und von der fehlt jede Spur – das hilft uns leider auch nicht weiter.«

»Sonst noch etwas?«

»Novak wurde gefesselt und brutal zusammengeschlagen, bevor er getötet wurde. Seine Nase war gebrochen, zwei Rippen waren angeknackst, und er hatte überall am Körper blaue Flecken. Der Mörder muss aus irgendeinem Grund stinksauer auf ihn gewesen sein.«

Morell überlegte kurz. »Entweder das, oder er wollte etwas aus ihm herausprügeln – zum Beispiel Informationen.« Er schüttete den Teig in eine große Pfanne und sah ihm beim Festwerden zu. »Ich werde herausfinden, was auf dem fehlenden Foto zu sehen ist«, sagte er, während er geschickt die Palatschinken wendete. »Ich habe zwar noch keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen soll, aber irgendetwas wird mir schon einfallen.«

»Sag, wenn ich irgendwie helfen kann.«

»Für den Anfang würde es mir schon reichen, wenn du keine unbefugten Obduktionen mehr durchführst.« Morell zerbröselte ein großes Stück Feta und vermischte es anschließend mit Sahne. »Ich werde als Nächstes versuchen, irgendwie an die Familie des Opfers ranzukommen. Vielleicht bringt uns das ja weiter.«

»Gute Idee. Die meisten Verbrechen haben einen familiären Hintergrund.« Nina beobachtete, wie Morell Zitronensaft und gehackte Kräuter in die Fetacreme mischte. »Das sieht sehr lecker aus.«

»Das sieht nicht nur so aus, das schmeckt auch so.« Morell würzte noch etwas nach. »Ach, was ich noch gar nicht erzählt habe: Wusstest du, dass ich deine Nachbarin, Frau Horsky, kenne? Ich habe sie heute im Hauseingang getroffen, und sie will unbedingt, dass ich einen alten Fall wieder aufrolle.«

»Wirklich? Du kennst die alte Horsky? Die ist das Schlimmste, was man sich als Nachbarin vorstellen kann. Aber ich will nicht über sie schimpfen – sie sieht nämlich gar nicht gesund aus und wird sicher bald sterben.«

»Unterschätze niemals die lebenserhaltende Kraft von Hass«, murmelte Morell, kostete von der Fetacreme und signalisierte durch ein Lächeln, dass sie ihm vorzüglich gelungen war.