»Geheimnisse, mit ins Grab genommen,

lassen dem Toten keinen Platz.«

Manfred Hinrich

Diesmal würde er es schlauer anstellen. Ein solches Desaster wie bei Meinrad durfte kein zweites Mal passieren. Er würde vorsichtiger sein. Überlegter. Alles besser durchdenken und planen. Darum würde er jetzt losziehen, um sein nächstes Opfer auszuspionieren. Er wollte so gut wie möglich auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Er zog sich die Schirmmütze noch tiefer ins Gesicht, stellte den Kragen seiner Jacke hoch und stieg in den Bus. Mal sehen, wie Uhl so lebte, was für Gewohnheiten er pflegte und wie viele Nachbarn er hatte. Diesmal würde alles anders werden. Diesmal würde er erfahren, was er wissen wollte.

 

Morell saß samt der großen Urne auf dem Schoß an der Straßenbahnhaltestelle und wartete auf die Bim, mit der er zu Frau Horsky fahren wollte, als sein Handy läutete. Er kramte es umständlich aus der Hosentasche und hob ab.

»Hallo, Otto, hier spricht Theo. Ich wollte dir nur kurz Bescheid sagen, dass Roman genauso reagiert hat, wie wir gedacht haben. Er hat sich zwar alles angehört, war aber nicht sehr überzeugt davon. Er schließt freilich nichts aus, will aber erst seine eigenen Spuren weiterverfolgen, da sie ihm vielversprechender erscheinen. Ich schlage deshalb vor, dass wir genauso vorgehen, wie wir es vorhin besprochen haben. Ich mache mich auf die Suche nach Harr, und du warnst die anderen.«

»Ist gut, ich kümmere mich gleich drum.«

Morell rief rasch bei Nagy und Zuckermann an – nur Uhl konnte er nicht erreichen. Deshalb beschloss er, den Besuch bei Frau Horsky auf später zu verschieben. Erst würde er zu Uhl fahren – er wollte sichergehen, dass mit Crazy Willie alles in Ordnung war. Außerdem konnte er so direkt mal nachschauen, ob dieser sein Versprechen wahr machte und brav seine Werkstatt auflöste.

 

»So schnell habe ich nicht mit einem Kontrollbesuch gerechnet.« Uhl öffnete dem Chefinspektor mit einem Besen in der Hand die Tür. »Aber kommen Sie ruhig herein, ich habe nichts mehr zu verbergen.« Er hängte das ›Geschlossen‹-Schild in die Tür.

»Ich habe Sie vorhin angerufen – warum haben Sie denn nicht abgehoben?«

»Ich war gerade im Keller beschäftigt. Kann sein, dass ich es darum nicht gehört habe. Kommen Sie!«

Morell folgte ihm nach unten. Tatsächlich hatte Uhl bereits begonnen, die Fälscherwerkstatt aufzulösen. Knochen, Werkzeuge und Bücher waren fein säuberlich zusammengeschichtet und zum Teil schon in Schachteln verpackt.

»Da sind Sie sprachlos, nicht wahr.«

Morell nickte. Er hatte tatsächlich nicht gedacht, dass Uhl auf ihn hören würde.

»Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie mich nicht angezeigt haben, und will diese Chance auf jeden Fall nutzen.« Uhl fegte mit dem Besen Dreck aus einer Ecke und warf dabei eine große, grüne Flasche um, die auf dem Boden gestanden hatte. Ein beißender Geruch erfüllte den Raum. »Mist«, fluchte er und kehrte die Scherben zusammen. »Das war reiner Alkohol.« Er schnappte sich einen kleinen Hocker aus Holz, stieg darauf, streckte sich und riss eine dicke, staubige Schicht braunes Packpapier von einem Fenster ab. »Den Sichtschutz brauche ich jetzt ja nicht mehr«, grinste er.

»Was machen Sie jetzt mit der Werkstatt?«, fragte Morell.

Uhl riss das Fenster auf. »Ich werde es noch einmal mit Antiquitäten versuchen. Wer weiß, vielleicht läuft das Geschäft jetzt ja besser als früher. Ehrlich gesagt fühle ich mich besser bei dem Gedanken, nicht mehr ständig auf der Hut sein zu müssen.«

Morell nickte zufrieden. Es war eine gute Entscheidung gewesen, Uhl und Payer nicht ans Messer zu liefern. »Ich bin übrigens nicht nur zur Kontrolle hier«, kam er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. »Es gibt da noch etwas, was ich dringend mit Ihnen bereden muss.«

»Bitte gern! Immer nur heraus damit«, sagte Uhl, während er weiter den Boden kehrte.

 

Er schaute sich mehrfach um, und erst als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, schlich er vorsichtig in den Innenhof, in dem sich Uhls Laden befand. Er prägte sich das gesamte Umfeld genauestens ein und versuchte, jedes noch so kleine Detail in seinem Hirn zu speichern.

Als plötzlich eines der Kellerfenster unter Uhls Geschäft aufgerissen wurde, machte er schnell einen Schritt zur Seite. Doch als er mitbekam, dass sich in dem Raum jemand unterhielt, schlich er wieder näher an das Fenster heran, kauerte sich hin und versuchte, etwas von dem Gespräch mitzubekommen.

 

»Es gab noch einen Mord, und zwar an Johannes Meinrad«, sagte Morell.

Uhl hielt mit dem Kehren inne und starrte Morell entgeistert an. »Aber … aber … das ist doch …«

»Er wurde gestern mit durchschnittener Kehle in seiner Wohnung gefunden, und es würde mich nicht wundern, wenn dieser und der Mord an Novak zusammenhängen würden.«

Uhl stellte den Besen in eine Ecke und setzte sich auf den Hocker. »Aber warum? Novak hatte schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Meinrad. Da bin ich mir sicher.« Er ging zu einem kleinen Schränkchen, holte eine Flasche Schnaps heraus und nahm einen großen Schluck direkt aus der Flasche. »Sie auch?«

»Ist das einer von Payer?«

Uhl nickte. »Ich kann es nicht fassen. Erst der Vitus und jetzt auch noch der Johannes.«

»Herr Uhl«, setzte Morell an. »Sie müssen noch einmal nachdenken. Ist damals in Syrien irgendetwas geschehen, was der Grund für diese Morde sein könnte?«

Uhl trank noch einen großen Schluck vom Schnaps und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er.

»Denken Sie noch einmal an die Sache mit Harr. Irgendetwas ist doch faul an Ihrer Geschichte über ihn. Ist er etwa nicht freiwillig in Syrien geblieben? Oder ist er geblieben, um das Königsgrab zu suchen, von dem Zuckermann geredet hat? Und nun hat er es gefunden und will jeden ausschalten, der davon weiß? Oder – und nun seien Sie ehrlich – haben Sie damals vielleicht einen Schatz entdeckt und Harr dabei übervorteilt? Wäre es möglich, dass er jetzt draufgekommen ist und Rache nimmt?«

Uhl fing an zu lachen. »Ihre Phantasie möchte ich haben! Wenn wir den großen Schatz des sagenumwobenen Alulim gefunden hätten, dann hätte ich mir schon längst eine nette, kleine Strandbar auf Kreta gekauft und sicher nicht meine letzten Jahre in einem Meer aus alten Knochen verbracht.«

»Alulim? Ich habe diesen Namen nie erwähnt.« Morell schaute Uhl mit einem vorwurfsvollen Blick an.

Dieser seufzte, schlug sich auf die Stirn und nahm noch einen großen Schluck vom Schnaps. »Nun ja«, fing er nach einer kurzen Pause an. »Wahrscheinlich ist es gut, wenn ich es mir endlich mal von der Seele reden kann.«

Morell nickte. »Dann mal los!«

 

»Wir wollten wirklich niemandem Schaden zufügen«, fing Uhl an.

Morell rollte mit den Augen. Diesen Satz hörte er jetzt schon zum dritten Mal in kurzer Zeit.

»Novak kam zu Ludwig Nagy, Johannes Meinrad und mir und bat uns um Hilfe«, erzählte Uhl weiter. »Er hat behauptet, dass er das Grab von Alulim gefunden habe, und brauchte nun Hilfe, um den Stein, der den Eingang verschloss, wegzuschieben. Novak hat großen Wert darauf gelegt, dass niemand sonst etwas davon erfuhr – vor allem nicht Harr, damit er in seiner Funktion als Grabungsleiter nicht die Lorbeeren für den Fund ernten konnte.«

Morell nickte. »Und Sie haben natürlich mitgemacht, oder?«

»Klar!« Uhl zuckte mit den Schultern. »Die Sache klang spannend. Wir sind also mitten in der Nacht zu einem abgelegenen Fleck geschlichen, und tatsächlich – dort befand sich eine Grabanlage. Wir haben den Stein, der sie verschloss, weggeschoben und einen Tunnel freigelegt, der steil nach unten führte. Wir Deppen sind gleich voller Übermut hineingestürmt.« Er grinste. »Das wäre beinahe fatal ausgegangen. Am Ende des Tunnels befand sich nämlich ein tiefer und breiter Graben, in den ich in meiner blinden Euphorie fast hineingefallen wäre.«

»Und dann?«

»Auf der anderen Seite des Grabens befand sich eine Kammer – die galt es zu erreichen.«

»Und da war Alulim mit seinem Schatz drin?«

»Schön wär’s gewesen!« Uhl seufzte und nahm noch einen Schluck aus der Flasche.

Morell war mittlerweile ganz sicher: Willie konnte wirklich nicht ganz normal sein – wie sonst konnte er freiwillig Payers Fusel in solch rauen Mengen trinken?

»Es war dumm und lebensgefährlich, den Graben mit unseren simplen Hilfsmitteln zu überwinden, aber der Gedanke an Gold, Edelsteine und Ruhm hat uns alle Ängste und Bedenken über Bord werfen lassen. Wir haben in jener Nacht alles riskiert, um in die Kammer zu kommen, und waren darum natürlich umso enttäuschter darüber, dass in ihr rein gar nichts war.«

»Nichts?« Morell, der erwartet hatte, dass Uhl nun von einer spektakulären Entdeckung berichten würde, war völlig perplex.

»Nichts! Keine Schätze, kein Alulim, keine Grabbeigaben, keine Inschriften, nicht einmal ein paar popelige Knochen oder Scherben. Die ganze Grabanlage war einfach nur leer. Wir waren auf eine Attrappe reingefallen. Eine Fake-Anlage, die dazu dienen sollte, Grabräuber in die Irre zu führen.«

»Grabräuber wie Sie«, konnte Morell sich nicht verkneifen zu sagen.

Uhl rollte mit den Augen. »Wir haben alles genauestens abgesucht«, fuhr er fort. »Jeden Stein, jede Ritze, jede noch so kleine Unebenheit haben wir abgetastet und ausgeleuchtet, um sicherzugehen, dass wir keine Schließmechanismen für Geheimtüren übersehen hatten. Aber da war nichts.«

»Das ist natürlich bitter.«

Uhl nickte. »Wir sind schwer enttäuscht wieder zurück in den Tunnel geklettert. Am meisten frustriert war natürlich Novak. Soweit ich das mitgekriegt habe, hatte er bereits mehrere Jahre in das Projekt Alulim investiert. Mann, hat der geflucht, kann ich Ihnen sagen. Als wir endlich wieder auf der anderen Seite waren, hätte niemand gedacht, dass diese Nacht noch schlimmer werden könnte. Tja, was soll ich sagen?! Sie ist noch schlimmer geworden – viel schlimmer.«

»Jetzt machen Sie es nicht so spannend«, versuchte Morell, Uhl ein wenig anzutreiben. »Was ist passiert?«

»Wir wollten uns gerade daranmachen, den steilen Tunnel zurückzugehen, als uns ein völlig entrüsteter und erzürnter Harr entgegengestapft kam. Der schlaue Fuchs hatte gemerkt, dass wir uns aus dem Lager geschlichen hatten, und hat es irgendwie geschafft, uns aufzuspüren.«

»Und er war natürlich alles andere als erfreut über Ihre kleine nächtliche Exkursion.«

»Alles andere als erfreut ist mächtig untertrieben. Harr war außer sich vor Zorn. Er hat uns angebrüllt und darauf gepocht, dass er der Grabungsleiter und somit für uns und unser Verhalten verantwortlich sei. Er hat geschrien, ob uns überhaupt klar sei, was wir hier alles hätten anrichten können. Natürlich hatte er recht. Das Archäologische Institut hatte keine Grabungsgenehmigung für die Stelle – wenn uns ein Vertreter der syrischen Regierung erwischt hätte, dann hätte das schlimme Konsequenzen haben und das komplette Institut in Verruf bringen können. Ganz zu schweigen von den möglichen Folgen für uns persönlich – Syrien war damals sehr streng, wenn es um Kunstraub ging. Wir hätten für Jahre in den syrischen Knast wandern können. Und ich glaube, ich muss nicht extra betonen, dass ein österreichisches Gefängnis dagegen ein Wellnesshotel ist.«

»Wie ging es weiter?«

»Harr wollte wissen, wer für diese bodenlose Frechheit verantwortlich war. Der völlig geladene Novak trat vor, und die beiden fingen an, sich gegenseitig zu beschimpfen. Sie haben sich immer mehr und mehr hineingesteigert, und irgendwann ist die Situation dann eskaliert. Ehe wir uns versahen, haben die beiden angefangen zu rangeln. Meinrad wollte noch dazwischengehen, aber da war es schon zu spät. Novak hatte Harr einen Schubser verpasst, Harr ist gestrauchelt und fiel rückwärts in den Graben.« Uhl nahm noch einen Schluck aus der Flasche, so als könnte Payers Schnaps ihm dabei helfen, das Geschehene aus seinem Hirn zu löschen.

»War er tot?«

»Klar war er tot. Der Graben war mindestens sieben oder acht Meter tief. Wir haben erst hinuntergerufen, und als keine Antwort kam, habe ich mich zu ihm abgeseilt. Harr lag unten am Boden und hat keinen Mucks mehr gemacht. Aus einer Wunde am Kopf rann Blut – da war nichts mehr zu machen.«

»Und Sie haben ihn einfach da unten liegengelassen?«

Uhl seufzte und nickte. »Harr hatte mit allem recht, was er uns vorgeworfen hatte. Wenn unsere dumme Aktion bekannt geworden wäre, hätten wir den Ruf unseres Instituts zerstört und womöglich sogar die politischen Beziehungen zwischen Österreich und Syrien verschlechtert. Wir hätten unsere Karrieren damit beendet, und außerdem hatten wir panische Angst vor der syrischen Polizei.«

»Also haben Sie Harr einfach in dem Graben liegenlassen und die Geschichte mit der Liebelei erfunden.«

»Harr hat tatsächlich ständig mit dieser Ghada aus dem Nachbardorf herumgeflirtet, darum haben die anderen die Story auch geglaubt.« Uhl starrte auf den Boden und schaute Morell dann direkt in die Augen. »Bitte! Sie dürfen jetzt kein falsches Bild von mir haben. Wir waren jung, dumm und völlig panisch. Ich weiß, dass es ein Riesenfehler war, den armen Harr einfach dort unten liegenzulassen, aber wir wussten es damals einfach nicht besser. Ich hatte jahrelang ein schlechtes Gewissen und Albträume deswegen.«

»Wie kommt es denn, dass bis heute niemand dieses Grab und den darin liegenden Harr gefunden hat?«

»Die Grabstelle liegt erstens sehr abgelegen, in einem Gebiet, das die Archäologen fälschlicherweise als uninteressant eingestuft haben. Darum gab es dort bisher noch keine Grabungen.«

»Und zweitens?«

»Zweitens sind wir in der nächsten Nacht noch einmal zurückgegangen, haben den Stein wieder vor den Eingang geschoben und so lange Sand und Erde draufgeschaufelt, bis alles so aussah wie vorher.« Er rollte die Flasche zwischen seinen Händen hin und her. »Ich habe mir ständig vor Augen geführt, dass es ein Unfall war – trotzdem hatte ich lange Zeit schreckliche Schuldgefühle. Wir alle hatten sie. Die ersten Jahre nach dem Vorfall waren die Hölle.«

Morell kratzte sich an der Nase. »Ich kann ja noch halbwegs nachvollziehen, dass Sie in Panik geraten sind, aber was war mit Harrs Freundin, dieser Theresia? Wie konnten Sie die arme Frau so lange belügen?« Er musste an Frau Horsky denken und wie sehr die Ungewissheit all die Jahre an ihr gezehrt hatte.

»Bitte hören Sie auf!«, bat Uhl. »Ich habe lange genug gelitten und war so froh, als die Erinnerungen endlich verblasst sind. Ich will mich einfach nicht mehr daran erinnern.«

 

Er ballte die Hände zu Fäusten und merkte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Dieser feige Hund hatte einfach alles verdrängt und sich vor der Verantwortung gedrückt. Dieses miese Schwein hatte sich einfach aus der Affäre gezogen und ein angenehmes Leben in Wien gelebt.

»Na warte!«, flüsterte er und strich über das Messer, die Handschellen und den Knebel, die sich in seiner Jackentasche befanden. »Niemand kann seiner gerechten Strafe entgehen.«

 

»Wie hieß Harrs Freundin mit vollem Namen?«, fragte Morell.

Uhl zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie hat mir damals einen Brief geschrieben und mich mehrmals besucht, aber den Brief habe ich sofort weggeworfen und die Tür auch irgendwann nicht mehr aufgemacht.«

Morell seufzte. »Denken Sie nach! Ich würde gern mit ihr reden.«

Uhl fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Sie war eines von diesen unscheinbaren Mauerblümchen«, versuchte er sich zu erinnern. »Nichts Besonderes. Eine kleine, graue Maus, die wie eine Klette an Harr hing. Kein Wunder, dass er so hin und weg von der schönen, stolzen Ghada war.« Er rieb sich über die Stirn. »Wenn ich mich nicht täusche, hat sie im AKH als Krankenschwester gearbeitet.«

»Gut«, nickte Morell. »Das ist doch schon mal was. Theresia Irgendwas, die in den 70er Jahren im AKH gearbeitet hat. Das sollte sich eruieren lassen.«

 

Beinahe hätte er laut losgeflucht. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Das könnte Probleme machen. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen.