»Solange das Schachspiel dauert, hat jede Figur ihre Bestimmung;

ist es aber aus, so mischt man sie untereinander

und wirft sie in einen Beutel, wie man die Toten ins Grab wirft.«

Miguel de Cervantes

Die geheimnisvolle Schachtel, die Stimpfl aus dem Haus der Novaks gestohlen hatte, ließ Capelli keine Ruhe. Möglicherweise lag darin ja der Schlüssel zur Lösung des Falls und somit zu Leanders Freiheit. Sie musste unbedingt herausfinden, was sich in ihr befand – koste es, was es wolle.

Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht, wie sie die Schachtel am besten an sich bringen konnte, und als die Morgensonne die ersten Strahlen durch das Fenster geschickt hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, dass es nur eine Möglichkeit gab: Sie musste mit denselben Methoden arbeiten wie Stimpfl. Sie musste einbrechen. Wenn Morell das herausfand, würde er zwar richtig verärgert sein – er hatte schon wegen ihrer gestrigen Beobachtungsaktion einen ziemlichen Aufstand gemacht –, aber was getan werden musste, musste getan werden.

 

Nach einem hastigen Frühstück, bei dem sie vor lauter Aufregung kaum einen Bissen hinunterbekommen hatte, hatte Capelli sich Lorentz’ Werkzeugkasten, ein Paar medizinische Einweghandschuhe, eine Mütze und einen Blaumann geschnappt und war noch einmal den Plan durchgegangen, den sie sich überlegt hatte. Er war ganz einfach: Sie würde sich als Handwerker verkleiden, warten, bis Stimpfl das Haus verließ, und dann versuchen, ein Fenster oder eine Tür zu knacken – sie hatte sich im Internet ein paar Seiten zum Thema Einbruchdiebstahl angesehen und war zu der erschreckenden Einsicht gelangt, dass es überraschend einfach war, unbemerkt in ein Haus einzudringen.

Mit Hummeln im Hintern und Grummeln im Bauch hatte sie sich anschließend auf den Weg nach Döbling gemacht und wartete nun nervös darauf, ihren Plan in die Realität umsetzen zu können.

Es dauerte zum Glück nicht lange, bis Stimpfl das Haus verließ. Capelli wartete geduckt, bis der Priester aus ihrem Blickfeld verschwunden war, zog dann das Handwerker-Outfit an, schnappte sich das Werkzeug und näherte sich dem Gebäude. Unvermittelt musste sie an ihre Schulzeit denken. Daran, dass sie immer als uncool gegolten hatte, als langweilige Streberin und öde Spaßbremse – nur weil sie stets gute Noten hatte und keinen Ärger machte. Als sie eines Tages all ihren Mut zusammengenommen hatte und die beliebten Mädchen fragte, ob sie nicht Teil ihrer Clique werden könne, hatten diese nur gekichert und ihr am nächsten Tag eine Liste mit Mutproben vorgelegt. Wenn sie alle davon erledigte, würden sie sie in ihren Kreis aufnehmen. Capelli hatte die Liste gelesen und resigniert – sie wollte weder eine ganze Schachtel Zigaretten in nur zwanzig Minuten rauchen noch einen Lippenstift stehlen oder den Klassentrottel mit Zunge küssen. Es hatte Monate gedauert, bis die dummen Schnepfen endlich wieder damit aufhörten, sie als Feigling zu titulieren. Wenn diese blöden Kühe sie jetzt nur sehen könnten …

Capelli hatte eigentlich damit gerechnet, dass der Allmächtige es nicht gerne sah, wenn Leute in die Häuser seiner Angestellten einbrachen, und ihr darum Steine in den Weg legen würde. Deshalb war sie ziemlich überrascht, das Küchenfenster im Erdgeschoss gekippt vorzufinden.

»Halleluja«, murmelte sie und grinste, denn wie sie heute früh im Internet gelernt hatte, war ein gekipptes Fenster so gut wie ein offenes. Sie blickte sich kurz um, und als sie sicher war, dass niemand sie beobachtete, streckte sie ihren rechten Arm durch den Fensterspalt und legte den Griff um. Fünf Minuten später stand sie in Stimpfls Küche und merkte, dass ihre Kopfhaut vor lauter nervöser Anspannung prickelte. Ihre eigene Courage wurde ihr langsam unheimlich, die Entschlossenheit, mit der sie bisher gehandelt hatte, fing an zu bröckeln, und erste Bedenken schlichen sich ein: Falls Stimpfl tatsächlich ein Killer war, würde er kurzen Prozess mit ihr machen, wenn er sie hier drinnen fand – sie musste also so schnell wie möglich die Schachtel finden und wieder von hier verschwinden!

Capelli verließ eilig die Küche, öffnete wahllos die nächstliegende Tür und scannte den Raum, bei dem es sich um das Schlafzimmer handelte: ein Schrank aus dunklem Kirschholz, ein schlichtes Bett, ein Nachttischkästchen und ein großes Kreuz, von dem ein ausgemergelter Jesus sie anklagend anstarrte.

»Ja, ja, ich weiß schon, dass das hier nicht die feine englische Art ist«, flüsterte sie. »Aber immerhin bin ich im Namen der Gerechtigkeit hier.«

Sie wollte gerade damit beginnen, den Raum zu durchsuchen, als sie ein Geräusch hörte und erstarrte. Raus! Schnell! Weg! Ihr Gehirn konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was sollte sie nur tun? Verstecken! Verkriechen! Abtauchen! Panisch ließ sie sich flach auf den Boden fallen und kroch unter das Bett. Wie es schien, hatte Pfarrer Stimpfl keine Haushälterin, denn Capelli fand sich in einem Meer aus Schmutz wieder und musste ein Würgen unterdrücken – es gab anscheinend doch einen Gott, und der bestrafte die kleinen Sünden tatsächlich sofort.

Der Schöpfer war mit seiner Strafe anscheinend noch nicht fertig, denn Capelli nahm mit Entsetzen wahr, dass die Schlafzimmertüre sich wie in Zeitlupe öffnete. »Nur keine Panik!«, versuchte sie, sich zu beruhigen, während ihr Herz so heftig pochte, dass sie Angst hatte, es würde gleich zerplatzen. So wie es aussah, hatte Stimpfl schon seit Monaten nicht mehr unter das Bett gesehen – warum sollte er das also ausgerechnet heute tun? Sie hielt den Atem an und kriegte beinahe eine Herzattacke, als der Überwurf sich langsam hob und zwei dunkle Augen sie vorwurfsvoll anblickten.

»O Mann, du hast mich beinahe zu Tode erschreckt«, schimpfte sie, kroch aus dem Staubinferno und hob eine rot getigerte Katze hoch. Morell behauptete immer, dass Leute, die Katzen besaßen, keine schlechten Menschen sein konnten – vielleicht würde sie ihm bald das Gegenteil beweisen können. »Na, du Schlingel, wo hat dein Herrchen die Schachtel versteckt, die er gestern von den Novaks geklaut hat?«, fragte sie und setzte ihre Suche fort.

Im nächsten Raum standen ein Schreibtisch, ein Aktenschrank und mehrere Bücherregale – das musste Stimpfls Arbeitszimmer sein. In der großen Schreibtischlade lagen verschiedene Ausgaben des Pfarrblatts, ein paar Heiligenbildchen und einige selbstgeschriebene Predigten, aber nicht die gesuchte Schachtel.

Aus purer Neugier griff Capelli nach einem dicken roten Ordner, der auf dem Schreibtisch stand und mit der Aufschrift »Spendengelder« versehen war. Sie schlug ihn auf, blätterte kurz durch und pfiff dann leise durch die Zähne. Gar nicht übel, wie viel Geld die Leute der Kirche zukommen ließen. Da draußen gab es anscheinend jede Menge Frauen, die versuchten, sich die Gunst der heiligen Margareta zu erkaufen.

Nach dieser überraschenden Einsicht öffnete Capelli als Nächstes den Aktenschrank, und – Bingo – da stand das Objekt ihrer Begierde. Gerade als sie ihre Beute aus dem Schrank nehmen wollte, hörte sie ein Geräusch aus dem Flur.

»Noch einmal kannst du mich nicht so erschrecken, du Satansbraten«, murmelte sie und zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass die Katze nicht draußen war, sondern neben ihr auf einem Stuhl saß und sie neugierig musterte. »Mist«, fluchte sie leise – diesmal war es kein falscher Alarm. Diesmal war tatsächlich jemand im Haus.

»Na, mein kleiner Petrus, wo bist du denn?« Es war Stimpfl. »Komm, mein Kleiner! Ich habe dir ein feines Fressi mitgebracht.« Die Stimme kam näher.

Capelli sah nur einen Ausweg – Flucht. Sie packte die Katze, trug sie zur Tür und schob das irritierte Tier langsam auf den Flur, damit Stimpfl nicht weitersuchen musste. Anschließend griff sie sich die Schachtel, kletterte auf den Schreibtisch, öffnete das Fenster und sprang hinaus. Ohne sich umzublicken, rannte sie zum Auto, warf ihre Beute hinein, startete den Wagen und stieg aufs Gas.

Erst daheim schaffte sie es, sich zu beruhigen. Sie schälte sich aus dem Blaumann, zupfte ein paar Staubflocken aus ihrem Haar, setzte sich an den Küchentisch und begutachtete die Schachtel. »Bitte mach, dass ich darin etwas finde, was Leanders Unschuld beweisen kann«, flüsterte sie und hob den Deckel.