»Es ist schön, daß es dem Menschen so schwer wird,

sich vom Tode dessen, was er liebt, zu überzeugen,

und es ist wohl keiner noch zu seines Freundes Grab gegangen

ohne die leise Hoffnung, da dem Freunde wirklich zu begegnen.«

Johann Christian Friedrich Hölderlin

Der nächste Tag begann mit einem stürmischen Klingeln an Capellis Wohnungstür.

»Ist für dich, Otto«, sagte eine völlig zerzauste und offensichtlich noch ziemlich verschlafene Gerichtsmedizinerin. »Besuch direkt aus den unendlichen Weiten des Fegefeuers.«

Morell gähnte und schielte auf seinen Wecker. Es war noch nicht einmal halb acht. »Da hat wohl die senile Bettflucht zugeschlagen.«

»Was auch immer. Jedenfalls steht die Leibhaftige von nebenan fit wie ein Turnschuh vor der Tür und verlangt nach dir.«

Der Chefinspektor rieb sich Sandmännchenstaub aus den Augen und setzte sich aufrecht hin. »Herrjeh. Was will sie denn?«, stöhnte er.

»Deine Seele?«

Morell schenkte Capelli ein müdes Lächeln.

»Keine Ahnung. Sie wollte mir nicht verraten, worum es geht. Sie hat nur gemeint, dass sie dich sprechen will, und zwar dringend.«

Während Capelli sich unter die Dusche flüchtete, schlurfte Morell in seinem blau karierten Flanell-Pyjama in den Flur, wo er auf eine quicklebendige Frau Horsky traf, die ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte.

»Nur der frühe Vogel fängt den Wurm beziehungsweise in Ihrem Fall den Mörder, Herr Chefinspektor«, konstatierte sie.

Morell ignorierte ihre spitze Aussage. »Es ist nicht mal halb acht, Frau Horsky. Wir wollten uns doch erst um zehn Uhr treffen.«

»Halb acht, zehn, was macht das für einen Unterschied?«, winkte die alte Dame ab und wedelte mit ihrem Gehstock. »Ziehen Sie sich etwas G’scheites an. Wir machen jetzt einen kleinen Morgenspaziergang.«

Morell war völlig überrumpelt und wusste nicht, was er sagen sollte.

»Kommen Sie! Worauf warten Sie?«

»Und wohin soll der Spaziergang führen?«

»Das werden Sie schon sehen! Auf! Auf!« Sie klatschte in ihre kleinen, runzligen Hände.

»So war das aber nicht ausgemacht. Ich komme gerne um zehn auf einen Kaffee zu Ihnen, aber jetzt habe ich wirklich keine Lust, spazieren zu gehen.«

Frau Horsky kniff Augen und Mund zusammen, so dass sich die geschätzten dreitausend Falten in ihrem Gesicht verdoppelten. »Es ist aber ausgesprochen wichtig, dass wir jetzt an die frische Luft gehen. Vertrauen Sie mir!«

»Sagen Sie mir erst, was Sie im Schilde führen.«

»Sie vertrauen mir also nicht?! Sie halten mich also für eine unglaubwürdige alte Schachtel?!«

Verflucht, dachte Morell. Frauen waren doch alle gleich. Ganz egal, ob es sich um 16-jährige Punk-Mädchen, 25-jährige Studentinnen, 40-jährige Hausfrauen oder 150-jährige Hofratswitwen handelte – sie hatten allesamt die Gabe, einem jedes Wort im Mund umzudrehen. »Nein, ich vertraue Ihnen schon. Es ist nur so, dass …«

»Wenn Sie jetzt mitkommen, dann bekommen Sie auch mein Apfelstrudelrezept«, spielte Frau Horsky ihren großen Trumpf aus.

Morell liebte den Strudel der alten Frau. Sie hatte ihm früher manchmal ein Stück ins Kriminalamt mitgebracht, sich aber stets standhaft geweigert, ihm das Rezept zu verraten. »Altes Familiengeheimnis«, hatte sie immer gesagt und dabei verschwörerisch gezwinkert. Der Chefinspektor, der selbst ein begnadeter Bäcker war, hatte zigmal versucht, ihren Apfelstrudel nachzumachen – es war ihm nie gelungen. Dabei hatte er wirklich alles probiert: Er hatte alle möglichen Apfel-, Mehl- und Zuckersorten miteinander kombiniert und sogar die Rosinen in verschiedene Rumarten eingelegt – aber irgendetwas hatte immer anders geschmeckt als bei Frau Horsky.

»Geben Sie mir fünf Minuten«, sagte Morell und verschwand im Gästezimmer.

 

Capelli blieb alleine in der Wohnung zurück und schmunzelte. Sie hatte die letzten Sätze der Unterhaltung zwischen ihrer Nachbarin und dem Chefinspektor mitbekommen. Morell war und blieb ein kulinarischer Fanatiker. Für ein gutes Rezept würde er doch tatsächlich einen Pakt mit dem Teufel eingehen und seine Seele verkaufen. »Die Hölle selbst hat ihre Rechte? Das find ich gut, da ließe sich ein Pakt, und sicher wohl, mit euch, ihr Herren, schließen?«, zitierte sie aus Goethes Faust. Nun ja, Morell war alt genug und musste selber wissen, was er tat. »Wie magst du deine Rednerei, nur gleich so hitzig übertreiben? Ist doch ein jedes Blättchen gut. Du unterzeichnest dich mit einem Tröpfchen Blut.«

Capellis Erheiterung über ihren feinschmeckerischen Gast war nur von kurzer Dauer. Sie erhielt nämlich einen Anruf vom Landeskriminalamt – Weber wollte sich mit ihr treffen, um über die Obduktionsergebnisse zu sprechen. »Verdammt«, fluchte sie und griff sich an den Kopf. Die Tatsache, dass sie sich eventuell persönlich mit den ermittelnden Beamten treffen musste, hatte sie nicht bedacht. Das machte ihre Situation um einiges brenzliger. »Dumme Gans«, sagte sie leise zu sich selbst. »Jetzt kannst du sehen, wie du da mit heiler Haut wieder rauskommst.«

 

»Also? Wo gehen wir denn nun hin?«, wollte Morell wissen, nachdem er ungefähr eine Viertelstunde neben Frau Horsky hergetrottet war.

Die alte Dame blieb stehen, kramte in ihrer Handtasche und hielt ihm einen Gefrierbeutel, in dem ein kleiner, gelber Zettel steckte, unter die Nase. »Dorthin.«

Morell nahm die kleine Plastikhülle und wollte sie öffnen.

»Nein! Nicht!«, rief Frau Horsky entsetzt und klopfte dem Chefinspektor auf die Finger. »Das ist ein Beweisstück. Das muss da drinbleiben! Das müssten Sie als Polizist doch wissen!«

Morell verdrehte die Augen, dachte an das Apfelstrudelrezept und betrachtete die Notiz durch den Beutel hindurch. »25. 03. 16 Uhr, Pietät«, las er laut vor. »Was soll das bedeuten?«

»Nachdem Benedikt verschwunden ist, hat ein Freund der Familie ›Memento Bestattungen‹ übernommen. Er hat das Unternehmen zwar ordentlich geführt, hatte aber trotzdem zu wenig Aufträge. Vor einem halben Jahr musste er schließen.« Frau Horsky seufzte. »Es war ein schwerer Schlag für mich, das Werk meines Sohnes zerstört zu sehen. Benedikt hat all sein Geld und seine Energie in den Aufbau seiner Firma gesteckt. Darum war es mir auch sehr wichtig, bei der Auflösung des Geschäftslokals dabei zu sein. Als die Umzugshelfer Benedikts Schreibtisch wegtrugen, habe ich unter anderem das dort gefunden.« Sie zeigte auf die Notiz in Morells Hand. »Das ist eines von diesen kleinen, gelben Zettelchen, die man irgendwo hinkleben kann.«

»Sie meinen ein Post-it.«

»Keine Ahnung, wie diese Dinger heißen. Jedenfalls hat mein Sohn sie sich oft an die Wand vor seinem Schreibtisch geklebt, um wichtige Dinge immer im Blick zu behalten. Einige davon sind anscheinend runtergefallen und hinter dem Tisch gelandet. Der Klebstoff, der da drauf ist, ist nämlich nicht sehr gut und löst sich ziemlich schnell ab.«

»Das ist der Sinn und Zweck dieser kleinen Zettel«, setzte Morell an, beschloss dann aber, dass es nichts brachte, Frau Horsky die Idee hinter Post-it zu erklären. »Sie haben also ein paar von diesen gelben Dingern gefunden.«

»Genau. Die anderen Notizen waren nicht besonders interessant, aber diese hier schon.« Sie hielt den Plastikbeutel so nahe vor das Gesicht des Chefinspektors, dass er dessen Nase berührte. »Benedikt hat ›Memento Bestattungen‹ nämlich am 25. März am frühen Nachmittag verlassen, und das war das letzte Mal, dass ihn irgendjemand gesehen hat. Niemand wusste, wohin er gegangen war. Aber jetzt«, sie zeigte auf die Notiz, »wissen wir es.«

»Pietät?« Morell konnte damit nicht viel anfangen.

»Pietät Abendruh ist sozusagen ein Konkurrenzunternehmen.« Sie hielt kurz inne. »Mein Sohn sagte zwar immer, dass ›Mitbewerber‹ das korrekte Wort wäre, aber ich bin dafür, dass man die Dinge beim Namen nennt. Eine Putzfrau ist eine Putzfrau und keine Raumpflegerin. Genauso wie ein Hausmeister kein Gebäudemanager ist.«

»Sie glauben also, dass Ihr Sohn einen Termin mit einem Mitbewerber hatte.«

»Genauso ist es.« Frau Horsky sah den Chefinspektor triumphierend an. »Nun haben wir endlich einen Anhaltspunkt.«

»Das hätten Sie mir aber doch auch daheim bei einer schönen Tasse Kaffee erzählen können.«

»Nein, denn wir – oder besser gesagt Sie – haben hier etwas zu tun.«

»Wo? Hier?«

»Da drüben.« Frau Horsky zeigte mit ihrem Stock auf die andere Straßenseite, wo ein großes Schild mit der Aufschrift ›Pietät Abendruh‹ eine Hausfassade zierte. »Jetzt werden Sie nach all den Jahren endlich herausfinden, was mit Benedikt passiert ist.«

»Sie haben mich reingelegt«, schimpfte Morell.

»Spielen Sie jetzt bloß nicht das Unschuldslamm! Sie sind doch auch nicht aus purer Nächstenliebe, sondern nur wegen meines Apfelstrudelrezepts mitgekommen.« Frau Horsky tätschelte mit ihrer knochigen Hand Morells Ellenbogen. »Mein Plan ist ganz einfach. Sie gehen jetzt zu Herrn Eschener, dem Direktor, und stellen sich bei ihm als Bestattungsfachkraft vor. In dieser Position können Sie in den nächsten Tagen ungestört ein wenig herumschnüffeln.«

Morell starrte die alte Frau mit offenem Mund an. Die hatte ganz offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ein klarer Fall von fortgeschrittenem Alterswahnsinn. »Beim besten Willen, Frau Horsky. Das geht ja wohl überhaupt nicht.«

»Alles geht. Man muss es nur wollen! Hier.« Sie drückte dem Chefinspektor ein Kuvert in die Hand. »Ich habe Ihnen ein Empfehlungsschreiben organisiert.«

»Sie haben WAS?« Morell riss den Umschlag auf und starrte auf das Schreiben, das sich darin befand. »Wer zur Hölle ist Thomas Reiter?«

»Das sind Sie.«

»Ich?«

»Nun ja, eigentlich ist Thomas Reiter mein Neffe. Er hat mehrere Sommer lang als Aushilfe bei ›Somnus Bestattungen‹ gearbeitet. Dort bin ich gestern vorbeigegangen und habe um eine Referenz für ihn gebeten.«

Morell, dem allein bei dem Gedanken an Leichen alle Haare zu Berge standen, schüttelte den Kopf. »Bei aller Liebe, Frau Horsky, aber meine Antwort lautet nein. Ich werde auf gar keinen Fall als Bestatter arbeiten, zumal ich, wie Sie wissen, wegen einer ganz anderen Sache in Wien bin.«

»Auch nicht, wenn ich Ihnen erzähle, dass das Schicksal, dieser unzurechnungsfähige Idiot, wie Sie es so schön nannten, diesem Laden da drüben den Auftrag für die Novak-Bestattung zugeschanzt hat? Eine bessere Gelegenheit, um unauffällig an die Angehörigen ranzukommen und die Unschuld meines unverschämten Nachbarn zu beweisen, werden Sie nicht bekommen.«

Der Chefinspektor überlegte. Wo Frau Horsky recht hatte, hatte sie recht. »Das stimmt schon, aber trotzdem … ich weiß nicht … Was, wenn die Leute von der Pietät niemanden brauchen?«

»Glauben Sie mir – Bestattungsunternehmen können immer jemanden wie Sie gebrauchen. Es ist schwer, Leute zu finden, die keine perversen Nekrophilen oder Leichenfledderer sind.«

Morell starrte die alte Dame mit weit aufgerissenen Augen an.

»Sie müssen gar nicht so entsetzt schauen! Glauben Sie mir – ich war lange genug im Bestattungswesen tätig. Da erlebt man alles.«

Morells Unlust auf die ganze Aktion steigerte sich gerade von groß zu unermesslich.

Frau Horsky bemerkte sein Zögern. »Sie sind der einzige Polizist, den ich kenne, der das Herz am rechten Fleck hat. Schauen Sie mich an. Ich bin alt. Wer weiß, wie lange ich noch habe. Fünf Jahre? Drei? Ein paar Monate? Vielleicht erlebe ich den nächsten Tag nicht mehr. Ich habe nur noch einen letzten Wunsch, bevor ich sterbe: Ich will wissen, was mit meinem Sohn passiert ist.«

»Ich weiß nicht …« Morell merkte, dass er langsam weich wurde.

»Sie müssen ja nicht lange dort arbeiten. Nur ein paar Tage. Bitte. Tun Sie es für mich. Tun Sie es für Benedikt. Oder von mir aus tun Sie es für den ungehobeltsten Nachbarn aller Zeiten.«

»Na gut«, gab Morell nach. »Aber nur für einen oder zwei Tage.«

»Ist in Ordnung.« Frau Horsky lächelte und streckte Morell ihre kleine Mumienhand entgegen. »Schlagen Sie ein.«