»Wenn die Hoffnung uns verlässt,

geht sie, unser Grab zu graben.«

Carmen Sylva

»Grüß Gott, Frau Horsky.« Leander Lorentz, ein drahtiger Archäologe, der noch immer braungebrannt von seiner letzten Ausgrabung war, musterte seine Nachbarin. Sie war eine reiche, aufgetakelte Witwe und so alt, dass sie Kaiserin Maria-Theresia wahrscheinlich noch persönlich gekannt hatte.

»Gestern war es sehr laut bei Ihnen«, sagte sie und kniff ihre runzligen Lippen zusammen. »Ich bin eine alte Frau und brauche dringend meine Ruhe. Seit Sie diese Wohnung gemietet haben, Herr Dr. Lorentz, sind Sie mir schon einige Male negativ aufgefallen. Dies ist ein seriöses Haus. Haben Sie das verstanden? Hier herrschen Ruhe und Ordnung!«

Lorentz war erst vor kurzem in die Wohnung neben Frau Horsky gezogen. Davor hatte er in einer kleinen, billigen Studentenbude gehaust, und das, obwohl er mit seinen 34 Jahren schon lange nicht mehr studierte, sondern als Dozent an der Universität arbeitete. Vor ein paar Wochen hatte er beschlossen, dass es an der Zeit sei, das Lotterleben hinter sich zu lassen, und seine Freundin, die in Innsbruck lebte, gebeten zu ihm nach Wien zu ziehen. Sie waren nach relativ kurzer Suche auf eine Altbauwohnung im 19. Bezirk gestoßen und sofort davon begeistert gewesen. Die hellen Räume, der stilvolle alte Fischgrätparkett und die großen Doppelflügeltüren waren einfach wunderschön. Auch die Umgebung, die Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel und die Höhe der Miete waren perfekt. Sie hätten sich eigentlich denken können, dass dieses tolle Schnäppchen einen Haken hatte.

Der Haken hatte sich direkt am ersten Tag vorgestellt: Frau Agathe Horsky. Die alte Hexe war alles andere als erfreut darüber, dass nebenan jetzt ein junges Paar lebte – noch dazu ein unverheiratetes –, und ließ keine Gelegenheit verstreichen, den beiden das Leben schwerzumachen. Sie schien gegen jegliche vernünftige Argumentation gefeit zu sein, und sogar der so oft erprobte Charme des attraktiven Lorentz versagte bei ihr vollends.

»Ich war gestern nicht laut. Vielleicht haben Sie ja jemand anderen gehört.« Lorentz gähnte und schob eine Strähne seines dunkelbraunen Haars aus der Stirn. Er musste dringend wieder einmal zum Friseur.

»Sie hatten doch Besuch«, entgegnete Frau Horsky und zeigte mit einem faltigen Finger auf ihren Nachbarn. »So wie Sie aussehen, haben Sie die ganze Nacht durchgefeiert und getrunken.«

Lorentz kratze sich am Kinn, das ein Dreitagebart zierte. »Ich habe nicht gefeiert und auch nicht getrunken. Zwei Freunde haben mir lediglich dabei geholfen, ein Sofa und ein paar Umzugskisten in die Wohnung zu tragen. Das hat weder die ganze Nacht gedauert, noch haben wir dabei viel Lärm gemacht.«

»Kommen Sie mir nicht so, junger Mann.« Frau Horsky stemmte ihre Hände in die Hüften. »Sie haben mit Ihrem Sofa und Ihren Kisten so viel Krach gemacht, dass ich schon befürchtet habe, irgendjemand würde das Haus abreißen.«

Lorentz kniff die Augen zusammen und fixierte seine Nachbarin. Vermutlich hatte die alte Schachtel ihr Hörgerät auf die höchste Stufe geschaltet und dann das Ohr ganz fest an die Wand gepresst. Noch wahrscheinlicher war es aber, dass sie seine Freunde und die Umzugskartons nur gesehen und sich sofort Krach eingebildet hatte – psychosomatische Lärmbelästigung sozusagen. Der Alten war alles recht, wenn sie nur herumnörgeln konnte.

»Nehmen Sie ab sofort mehr Rücksicht auf Ihre Mitmenschen, Herr Lorentz. Dies ist ein anständiges Haus, und dabei soll es auch bleiben!«

So langsam war Lorentz das Geschimpfe leid, und er dachte kurz daran, dem lästigen Störenfried einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen – doch dann kamen ihm die Worte seiner Freundin, Nina Capelli, wieder in den Sinn: »Sie sieht nicht gerade sehr gesund aus«, hatte diese nach der ersten Begegnung mit Frau Horsky festgestellt. »Wahrscheinlich wird sie bald sterben, also reiß dich ein bisschen zusammen. Wenn sie tot ist, wird dir jedes böse Wort leidtun.« Da Nina als Gerichtsmedizinerin arbeitete, hatte Lorentz auf ihre Meinung vertraut, und als er seine Nachbarin letzte Woche drei Tage lang nicht zu Gesicht bekommen hatte, hatte er sogar heimlich schon an deren Tür geschnuppert. Der leicht süßliche Geruch, den er voll Freude wahrgenommen hatte, stammte aber anscheinend nur vom Holzlack, denn das Zankeisen weilte ja ganz offensichtlich immer noch unter den Lebenden. Es waren immer die netten Omas, die zu früh das Zeitliche segneten. Die bösen Keifen schienen ewig zu leben.

Lorentz schaltete sein Hirn auf Durchzug und nickte. »Ja«, sagte er alle paar Sekunden. »Natürlich. Sie haben völlig recht. Verzeihung.« Das machte er so lange, bis sie aufhörte zu reden.

»Dann sind wir uns ja einig«, stellte Frau Horsky fest.

»Aber natürlich«, antwortete Lorentz, ohne die geringste Ahnung zu haben, worüber die alte Frau in den letzten paar Minuten geredet hatte. »Ich muss mich jetzt wieder an die Arbeit machen. Bitte entschuldigen Sie mich.« Er schloss die Tür und schüttelte den Kopf. Von wegen, sie wird bald sterben – dieses fürchterliche Weib würde mit ziemlicher Sicherheit auch noch den nächsten Jahrhundertwechsel erleben.

 

Lorentz sah sich um und seufzte. Morgen würde Nina zurückkommen. Sie war die beiden letzten Wochen in Innsbruck gewesen, um ihre Wohnung aufzulösen und ihren Nachfolger einzuarbeiten. Leander hatte versprochen, dass bis zu ihrer Rückkehr alles halbwegs bewohnbar sein würde, doch davon war er noch meilenweit entfernt.

Er krempelte gerade die Hemdsärmel hoch, als es schon wieder an der Tür klingelte. Was war denn jetzt schon wieder? Hatte Frau Horsky ihn heute nicht schon genug gequält? Musste er sich jetzt noch einem weiteren Anfall von Altersbosheit aussetzen?

Es läutete ein zweites Mal. Lorentz holte tief Luft und war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er es schaffen würde, Ruhe zu bewahren.

»Ja?!« Er riss die Tür auf.

Anstatt in das altersfleckige Gesicht der Furunkel-Furie blickte Lorentz in die Visagen von zwei fremden Männern. Der eine hatte volles, blondes Haar, trug eine moderne, ziemlich teuer wirkende Lederjacke und roch nach Aftershave. Der andere war etwas größer als sein Kollege, weniger gepflegt und nicht so kostspielig gekleidet.

»Dr. Leander Lorentz?«

Lorentz nickte.

»Ich bin Chefinspektor Roman Weber, und das ist mein Kollege Theodor Wojnar.« Der Kleinere von den beiden hielt Lorentz seine Marke vor die Nase.

So war das also, dachte Lorentz und schielte zur Tür von Frau Horsky. Die alte Hexe fuhr also jetzt die großen Geschütze auf. Das würde er ihr heimzahlen! Mit dieser Aktion hatte sie den Greisenbonus verspielt.

»Wir sind …«, setzte Weber an.

»Wir waren nicht laut. Ich habe Zeugen«, unterbrach Lorentz ihn.

Die beiden Polizisten schauten sich gegenseitig an und blickten dann wieder zu Lorentz.

»Wir sind gekommen …«, versuchte Weber es erneut.

»Ich habe gestern gemeinsam mit zwei Freunden ein Sofa und ein paar Kartons hochgetragen. Kann sein, dass es ein bisschen gerumpelt hat, aber das ist doch normal, wenn man umzieht.« Lorentz trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf ein Chaos bestehend aus Kisten, Koffern, Plastiktüten und Werkzeugen frei.

Die Beamten schauten immer noch etwas irritiert. »Wie lange haben Sie und Ihre Freunde denn herumgerumpelt?«, wollte Wojnar wissen.

Lorentz überlegte. »Ich weiß nicht genau. Ich schätze mal bis zehn.«

»Und danach?«

»Danach bin ich kurz in die Uni gefahren, habe dort ein paar Unterlagen geholt und bin dann ins Bett gegangen. Ruhiger geht es also kaum.«

»Gibt es jemanden, der Ihre Angaben bestätigen kann?«

Lorentz kam die Situation langsam ein wenig spanisch vor. »So ein Drama wegen ein paar Umzugsgeräuschen?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon Sie reden, Herr Lorentz«, sagte Weber. »Wir sind hier, weil Professor Vitus Novak gestern Nacht ermordet wurde.«

Lorentz riss die Augen auf und rang nach Luft. »Novak?«, fragte er ungläubig, als er sich wieder etwas gefangen hatte. »Ermordet?! Aber das kann doch nicht sein!«

»Doch, es kann.«

Langsam fiel bei Lorentz der Groschen. »Aber … Sie denken doch wohl nicht, dass ich etwas damit zu tun habe?«

»O doch, das tun wir. Es gibt Zeugen, die sagen, dass Sie und das Opfer in letzter Zeit ziemlich viele Unstimmigkeiten hatten. Außerdem sind Sie dabei beobachtet worden, wie Sie gestern Nacht den Tatort verlassen und dabei etwas mit sich geschleppt haben. Das ist schon sehr verdächtig – oder wollen Sie mir erzählen, dass Sie sich öfters mitten in der Nacht schwer bepackt im Archäologischen Institut herumtreiben?« Weber fixierte den jungen Archäologen, ohne dabei eine Miene zu verziehen.

»Schei…« Lorentz biss sich auf die Unterlippe und betrachtete seine Hände. »Ja, es stimmt – ich war gestern Nacht dort. Professor Novak hatte mir nämlich einige meiner Aufzeichnungen und wichtige Proben gestohlen. Ich bin nur in sein Büro gegangen, um sie mir wiederzuholen. Mit dem Mord habe ich nichts zu tun.«

»Mehrere Personen haben ausgesagt, dass Sie und der Professor letzte Woche einen heftigen Streit hatten. Ich habe außerdem gehört, dass Herr Novak Ihre Forschungsgelder einfrieren ließ und auch sonst ein ziemliches Hindernis für Ihre Karriere darstellte.«

»Das stimmt schon, aber deswegen würde ich ihn doch nicht umbringen.«

Wojnar kratzte sich am Kopf. »Also, wenn das kein Motiv ist. Es gibt Menschen, die würden schon wegen weitaus geringerer Dinge töten.«

»Andere Menschen vielleicht …«

»Das wird sich ja noch herausstellen.« Weber schien relativ unbeeindruckt von Lorentz’ Erklärungen zu sein. »Herr Lorentz, Sie sind vorläufig festgenommen. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Sie haben außerdem das Recht, die Aussage zu verweigern. Wenn Sie uns nun bitte begleiten würden.«

Lorentz schluckte. »Aber das können Sie doch nicht machen …«

»Kommen Sie jetzt bitte!«

»Aber …« Lorentz sah sich bereits in Handschellen durchs Treppenhaus geführt. Frau Horsky würde wahrscheinlich zur Feier des Tages eine Flasche Champagner aufmachen. »Ich möchte vorher meinen Anwalt anrufen.«

Weber überlegte kurz. »Na gut, aber beeilen Sie sich.«

Lorentz zögerte. Noch nie war er mit dem Gesetz in Konflikt geraten und kannte gar keinen Anwalt.

Schließlich nahm er den Hörer und wählte.